Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 38 Stiftsarchiv 1420–1421
Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]
Beschreibung
Bucheinband der sog. Historia Xantensis, einer Pergamenthandschrift aus dem Besitz des St. Viktor-Stiftes1). Holzdeckel mit Lederbezug, umfangreicher Blindstempel-Verzierung und Metallbeschlägen aus Messing. Beide Buchdeckel sind komplett von einer regelmäßigen, motivreichen Stempelkomposition bedeckt, die geometrisch bzw. heraldisch stilisierte Ranken, Löwen, Vögel, Drachen und Mischwesen zeigt.2) Buckelbeschläge, die auf dem Vorder- und Rückdeckel jeweils in der Mitte und den vier Ecken angebracht sind, wurden bei der jüngsten Restaurierung (2004) nach Befund ergänzt, ebenso zwei metallene Hakenschließen einschließlich ihrer Befestigung am Rückdeckel. Die Beschlagleiste aus dunkel korrodiertem Messing, die Vorder- und Rückdeckel umlaufend rahmt, gehört hingegen zum Originalbestand.3) Sie ist durchgehend mit zwei parallel verlaufenden, schwach eingeritzten Linien versehen. Zwischen diesen Linien ist im oberen Bereich des Vorderdeckels der Buchtitel eingraviert: Der Text beginnt auf dem linken Randstreifen wenige Zentimeter unterhalb des oberen Buchrandes, wechselt dann auf die obere Randleiste und endet auf der rechten Leiste kurz vor der oberen Schließe. Unten am Rückdeckel erhaltene Beschlagspuren einer ehemaligen Kettenbefestigung zeigen, dass die Handschrift liegend aufbewahrt und auf einem Lesepult vor Diebstahl gesichert benutzt wurde.
Maße: H. 27 cm; B. 20,5 cm; Bu. 0,5 cm.
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.
historie / s(ancti)a) Victor(is)b) helene Co(n)sta(n)ti(ni)c) S(anctae) Crucis Ecc(les)ie lociq(ue)d) / Xanct(e)n(sis)e)
Übersetzung:
Die Geschichte (wörtlich: Geschichten) des heiligen Viktor, der (heiligen) Helena, des Konstantin, des heiligen Kreuzes, der Xantener Kirche und des Ortes Xanten.
Textkritischer Apparat
- Kürzungszeichen durch zwei parallele Schrägstriche über dem s.
- Kürzung durch einen konkav geformten Dreispitz, dessen untere Spitze an der Cauda des r ansetzt.
- Kürzung durch leicht geschwungenen linksschrägen Schaft.
- Kürzungszeichen in Form einer arabischen 3.
- lociq(ue) / Xanct(e)n(sis)] loci scilicet Xantum Kötzsche.
Anmerkungen
- Stiftsarchiv Xanten, H 6. Für die Erarbeitung des kodikologischen Befundes sei Kristine Weber M.A. (Bonn), für diesbezügliche wertvolle Hinweise Dipl.-Restaur. Claudia Kienzle M.A. (Xanten) herzlich gedankt. Die Komposition besteht aus einem Binnenfeld, das schachbrettartig mit zwei abwechselnden Stempelmotiven gefüllt ist, und mehreren, je ein Motiv umfassenden Schmuckbändern unterschiedlicher Breite als dessen Rahmung. Die Stempelmotive sind in der Einbanddatenbank unter http://www.hist-einband.de/ (Zugriff 01.06.2016) nicht nachweisbar.
- Bei einer älteren Restaurierungsmaßnahme am Einband (im 19. Jh.?) wurde der gesamte Buchrücken zur Stabilisierung über dem ursprünglichen Lederbezug zusätzlich mit einem hellen Schafsleder bezogen. Dabei müssen die rahmenden Beschlagleisten entlang des Buchrückens gelöst worden sein, um den neuen Lederbezug zu befestigen.
- Der Handschriftencensus Rheinland, Bd. 2 (1993), S. 872, gibt einen Überblick über den Inhalt der Historia Xantensis anhand deren Rubriken, allerdings wurden ungeachtet der im Codex vorhandenen Blattzählung (fol. 1–129) sämtliche Blätter durchgezählt, so dass die Folioangaben der Beschreibung irreführend sind. Der Einband ist überhaupt nicht berücksichtigt. Abschnitte der Historia Xantensis, die für die Bau- und Ausstattungsgeschichte der Xantener Stiftskirche relevant sind, edierte Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263–289.
- Wilkes, Schicksal (1942), S. 78, Anm. 4f., S. 81f. mit Anm. 45; s. Historia Xantensis, fol. 97v und 98r.
- Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263, 266.
- Runde, Xanten (2003), S. 18. Wilkes (Geschichte [1949], S. 30) nennt einige Themen, von denen hier – wegen des Fehlens älterer Quellen – besonders die Ausführungen zur Errichtung des alten Hochaltars unter Gottfried von Kuyck (Nr. 111) interessieren (fol. 83). Ebenso bedeutsam sind die Mitteilungen der Historia Xantensis über das sog. Viktorgrab und sein Epitaph (Nr. 17).
- Vgl. z. B. Pels II, Deliciae (1734), p. 68 (Nr. 17), eventuell vermittelt über die Abschrift van de Sandts (Kötzsche, Schrein [1978], S. 231).
- Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263. Auf das Jahr 1420 weist auch eine Randnotiz des Kanonikers Gerard Gaienus von 1671 (fol. 1r: „Liber hic conscriptus est anno D(omi)ni 1420 uti Bl. 12 pag(ina) versa huius libri patet“). Tatsächlich findet sich auf fol. 12v eine Randglosse, wo es heißt: „anno 1420, quo scriptum e(st) hoc Chronicon“. Allerdings dürfte auch dieser Eintrag erst im 17. Jh. hinzugefügt worden sein. Auch eine Notiz Pfarrer Spenraths vom 20. November 1820 (fol. IIIv) beruft sich auf eine ältere Handschrift, die eine Entstehung der Historia Xantensis „Anno 1420 et sequentibus“ annahm. Bereits Wilkes hatte auf die Darstellung der großen Viktortracht von 1421 als Anhaltspunkt zur Datierung der Historia Xantensis aufmerksam gemacht und diese nach dem Urteil Baders und Köhns über Initialornamentik und Blinddruck-Zierat des Einbands eindeutig in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert (Schicksal [1942], S. 78 Anm. 4f., S. 81f. mit Anm. 45). Kötzsche nimmt diese Einschätzung auf (Schrein [1978], S. 269).
- Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263, Anm. * und Oediger, Schriften (1939), S. 28, 47, 52.
- Der Handschriftencensus Rheinland, Bd. 2 (1993), S. 872, und Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), Nr. II/3 geben übereinstimmend und ohne Erläuterung an, die Handschrift H 6 sei nach 1420 und vor 1492 im Xantener St. Viktorstift geschrieben worden. Beim Eckdatum 1492 wirkt wohl noch die lange angenommene Autorschaft des 1492 verstorbenen Philipp Schoen nach (siehe Anm. 14).
- Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263; zuletzt Runde, Xanten (2003), S. 18, und Hawicks, Xanten (2007), S. 17–19, 509f.
- Die feierliche Anrufung der Stiftspatrone im Prologtext enthält Ziermajuskeln, die seinen Namen ergeben, dazu die Rubrik „Hic apices tales deformati capitales libri presentis nominem dant efficientis“ (fol. 7r-v). Eine Hand des 19. Jh. fügte erläuternd hinzu: „Scilicet: adolphus dux Clevensis et Comes marcensis.“ (fol. 7r, unterer Blattrand). Der Bericht über die Große Viktortracht feiert Herzog Adolf als „ecclesie Xanctensis defensor specialis et advocatus“ (fol. 98r); ed. Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 271f. und 288f.
- Seit dem 19. Jh. trägt der Einband der Handschrift auf dem Buchrücken ein Namensschild, das den seit 1454/55 als Xantener Kanoniker belegten Philipp Schoen († 1492; zu seiner Person siehe Nr. 57) als den Werkautor ausweist. Zu diesem Schluss kam auch Pfarrer Spenrath in seiner am 20. Nov. 1820 in der Handschrift hinterlassenen Notiz (fol. IIIv; vgl. Oediger, Bau und Ausstattung [1975], S. 263, Anm. *). Diese Zuschreibung gilt seit Oedigers Stellungnahme zur Datierung des Werkes (ebd., S. 264) als widerlegt, wird aber gelegentlich aufgegriffen. Die von Wilkes (Geschichte [1949], S. 30, Anm. 15) erwogene Zuschreibung der Historia Xantensis an den Kanoniker Johannes Bemmel wird von Kötzsche infrage gestellt (Schrein [1978], S. 269 mit Verweis auf seine textkritischen Untersuchungen S. 231–233), von Hawicks aber dennoch in Erwägung gezogen (Xanten [2007], S. 18f.). Oediger merkt zur Verfasserfrage an: „Die Aufzeichnungen des Dietrich Smullinck (1414–1466), … an den man wegen seiner Herkunft aus Kleve am ehesten denken kann, lassen keine Beziehungen zur Historia Xantensis erkennen.“ (Bau und Ausstattung [1975], S. 264).
Nachweise
- Oediger, Bau und Ausstattung (1975), S. 263, Anm. *.
- Kötzsche, Schrein (1978), S. 268.
Addenda & Corrigenda (Stand: 29. März 2023):
Hinweis zur Inschrift: Die Transkription von Eccl(les)ie wurde zu Ecc(les)ie korrigiert.
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 38 (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0003807.
Kommentar
Die Handschrift enthält als Haupttext die Historia Xantensis (fol. 1r-98r) sowie zwei von anderer Hand wenig später nachgetragene Textstücke zum liturgischen Gebrauch (fol. 102r-127v).4) In fünf Kapiteln beschreibt die Historia Xantensis in erzählender Form die Entstehung und Geschichte des St. Viktorstiftes bis zu Großen Viktortracht im Jahr 1421.5) Oediger beurteilt sie zu Recht als eine „Selbstdarstellung des Stiftes“, die über weite Strecken hin legendarischen Charakter hat.6) Trotzdem sind die kenntnisreichen Ausführungen zur Baugeschichte, Heiligen- und Reliquienverehrung von großer Bedeutung, insbesondere für die Frühgeschichte Xantens,7) weshalb die Historia Xantensis bereits in Sammelwerken des 18. Jahrhunderts als Quelle herangezogen wurde.8) Da ihr Bericht mit der Großen Viktortracht 1421 endet, wird die Datierung des Textes auf die Jahre 1420/21, wie von Oediger vorgeschlagen, heute allgemein angenommen.9) Den Codex, die Buchschrift und den Einband brachte Oediger dagegen mit drei Handschriften in Verbindung, die der Xantener Dechant Arnold Heymerick († 1491) im späteren 15. Jahrhundert im St. Viktorstift herstellen ließ.10) Die Vergleichbarkeiten sind jedoch eher allgemeiner Art und somit nach aktuellem Forschungsstand kein zwingendes Argument für eine Datierung der Handschrift bis ins späte 15. Jahrhundert.11) Plausibler ist eine frühere Ansetzung auch des Codex auf 1420/21.
Mit dieser zeitlichen Einordnung des Textes harmoniert auch die Schrift des Buchtitels auf dem Einband. Die gotische Minuskel weist ausgeprägte, gespaltene Oberlängen auf. Das a ist doppelstöckig ausgeführt, der linke Teil des gebrochenen oberen Bogens als runder Haarstrich zum Schaft zurückgeführt. Schaft-s und folgendes t sind durch Ligatur miteinander verbunden, ebenso ci in lociq(ue) und ct in Xanct(e)n(sis). Der (gebrochene) Bogen des h ist bis unter die Grundlinie gezogen und läuft spitz zu, wie es für Inschriften des 15. Jahrhunderts üblich ist. Gegen eine Entstehung in der zweiten Jahrhunderthälfte spricht die relativ breite Proportion der Schrift ebenso wie der Umstand, dass die gebrochenen Schaftenden und die Fahne des r noch nicht zum Quadrangel reduziert sind. Auch die schlichte Form der Versalien deutet auf die Ausführung der Inschrift etwa in der Entstehungszeit der Historia Xantensis hin: Lediglich das X ist deutlich größer ausgeführt. Das V ist durch eine leichte Verlängerung des gebogenen (nicht gebrochenen) linken Schafts und durch die Verlängerung der Brechung am rechten Schaft als Versal erkennbar. E und C sind gegenüber den Gemeinen nur wenig vergrößert und lediglich durch einen in den Bogen eingestellten senkrechten Zierstrich als Versal ausgewiesen. Zusätzliche Zierelemente oder gar Auflösungen und Neuzusammensetzungen der Buchstaben, wie sie später üblich werden, fehlen hier. Der Schriftbefund spricht somit dafür, dass der inschriftliche Buchtitel zur Originalausstattung der Handschrift gehört.
Der inhaltliche Aufbau der Historia Xantensis lässt auf eine planvolle Abfassung schließen und spricht ebenso wie ihre sorgfältige Ausführung in gotischer Buchschrift (Textura) mit Rubrizierung und Initialschmuck sowie die aufwändige Gestaltung des Einbandes dafür, dass die Handschrift für ein gehobenes Anspruchsniveau hergestellt wurde. Als Auftraggeber der Historia Xantensis gilt Herzog Adolf II. von Kleve und Mark (reg. 1394–1448),12) auf dessen Schutzherrschaft über das St. Viktorstift an zwei Stellen des Werkes verwiesen wird.13) Der Autor des Textes wird im Bereich der Xantener Kanoniker und Vikare vermutet, seine Identifizierung ist allerdings bislang nicht überzeugend gelungen.14) Wenn Xanten auch als Entstehungsort für die Handschrift und ihren Einband naheliegend erscheint, so ist die Frage der Lokalisierung beim aktuellen Forschungsstand nicht sicher zu beantworten.