Inschriftenkatalog: Stadt Xanten

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 92: Stadt Xanten (2017)

Nr. 24(†) Stiftsmuseum 2. V. 14. Jh.

Beschreibung

Stola1) und Manipel2) aus dem Schatz von St. Viktor. Während der Manipel bis heute im Stiftsmuseum aufbewahrt wird, wurde die Stola anlässlich einer Ausstellung in Brüssel 1949 gestohlen. Rote Seide mit Gold- und Silberstickerei. Die verlorene Stola trug eine Darstellung der Marienkrönung durch Christus zwischen zwei Engeln, die ein Weihrauchfass schwenkten,3) darunter die zwölf Apostel, z. T. mit Namensbeischriften auf leicht gebogenen Schriftbändern versehen, die separat gefertigt und aufgenäht waren (A–D). Es folgten die beiden Stiftspatrone: auf der einen Seite Helena mit dem Kreuz in der Rechten und einem Kirchenmodell in der Linken, auf der anderen Viktor, gerüstet mit Fahnenlanze in der Rechten und Schild in der Linken (Harnisch, Fahnenlanze und Schild mit dem Stiftskreuz). Darunter knieten betend zwei tonsurierte Geistliche, vermutlich die Stifter, einer davon mit dem Beginn eines Stoßgebetes auf einem Spruchband (G). Dabei handelte es sich vermutlich um den Rest einer längeren Inschrift, denn über den Köpfen beider Stifter sind Spuren verlorener Spruchbänder erkennbar. Zwischen den Heiligen- und den Stifterdarstellungen waren ungedeutete Inschriften angebracht (E, F). Den unteren Abschluss der Stola bildeten Felder mit Rauten, die auf der rechten Seite mit Blüten, auf der linken Seite mit einem Majuskel-A gefüllt waren. Der dazu gehörige Manipel zeigt unter gotischen Maßwerkbögen sechs Passionsszenen (Gefangennahme Christi, Christus vor Pilatus oder vor Herodes, Geißelung Christi, Kreuztragung, Kreuzabnahme und Grablegung) und die Auferstehung Christi. Auf der Kreuzabnahme das Kreuz mit Titulus (H). Der Manipel wurde 1973 umfassend restauriert (Renate Jaques und Gerd Rosenberger, beide Krefeld).4)

Inschriften A–G nach Fotos aus dem Nachlass Jaques.

Maße: Stola: L. 306 cm; B. 9 cm; Bu. ca. 1 cm (E, F), ca. 0,2 cm (A–D, G). Manipel: L. 107,5 cm; B. 8 cm; Bu. 0,4 cm (H).

Schriftart(en): Gotische Buchminuskel (A–D, G), gotische Majuskel (E, F, H).

Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_053353 [1/2]

  1. A†

    [San]ct(us)a) matheus

  2. B†

    Sanct(us)a) andreas

  3. C†

    Sanctus petrus

  4. D†

    Sanctus [s]ym[on]

  5. E†

    GE

  6. F†

    RAT

  7. G†

    miserere

  8. H

    INRI5)

Kommentar

Die Buchstabenfolgen unter den beiden Heiligendarstellungen (E, F) sind bislang nicht gedeutet. Als Bildbeischriften zu den beiden Heiligen kommen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht infrage.6) Auch eine Deutung als zwei Teile einer Inschrift (GER//AT oder RAT//GE) führt zu keinem verständlichen Ergebnis. Möglicherweise beziehen sich die Buchstaben auf die darunter dargestellten Stifter. Jedenfalls handelt es sich schon aufgrund der Buchstabengröße und dem im Foto erkennbaren hervorragenden Erhaltungszustand um die auffälligsten Inschriften an den beiden Textilien.

Die Buchstaben der Inschriften in gotischer Majuskel (E, F, H) sind mit dem Abschlussstrich bei E, eingerolltem G, rundem N, offenem R, unzialem T und pseudounzialem A unter regelmäßiger Verwendung von Bogenschwellungen sorgfältig ausgestaltet. Die Schaftenden tragen feine, aber lange Sporen. Der Bogen des N und die Cauda des R sind am unteren Ende nach außen umgebogen. Eine nachträgliche Überarbeitung der Inschriften E und F ist möglich, dürfte den Formenbestand aber nicht verfälscht haben. Das A mit geradem rechten und gebogenem linken Schaft unterscheidet sich erheblich von dem A, das im rechten Abschlussfeld als Ornament eingesetzt wurde: Letzteres ist symmetrisch konstruiert, trapezförmig mit gebrochenem Mittelbalken und breitem Deckbalken, an dessen Enden Sporen nach oben hin angesetzt sind.

Die (verlorenen) Namensbeischriften über den Köpfen der Apostel waren in einer Kleinbuchstabenschrift ausgeführt, allerdings (noch) nicht in einer gotischen Minuskel im Sinne einer epigraphischen Schrift. Vielmehr handelt es sich um eine gotische Buchminuskel, die offenbar nicht gestickt, sondern – nach Art von Reliquienauthentiken – auf Stoff oder auf einen Pergamentstreifen aufgemalt bzw. geschrieben wurde. Auf den Fotos lassen sich die Stiche, mit denen diese Streifen auf dem Stoff befestigt wurden, deutlich erkennen. Die Minuskel mit zweistöckigem a, ct-Ligatur, weit unter die Grundlinie ausgezogenem Bogen des h und ohne auch nur angedeutete Bogenbrechung ist eindeutig als Buchschrift des 14. Jahrhunderts zu identifizieren. Vermutlich weil für die Beischriften nur wenig Platz zur Verfügung stand, entschied man sich für eine Schrift, die wenig Raum einnahm. Dass die Entscheidung gegen die gotische Minuskel als epigraphische Schrift fiel, mag damit zusammenhängen, dass diese noch nicht hinreichend verbreitet war. Tafel- und Wandmalereien aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts (etwa die Chorschrankenmalereien im Kölner Dom) tragen ebenfalls Texte in gotischer Buchminuskel. Mit dem schriftgeschichtlichen Befund harmoniert die stilistische Beurteilung der gestickten Figuren durch Udo Grote, der in der Körperhaltung, den Gesichtern und Frisuren der Figuren sowie im Faltenwurf ihrer Gewänder „die charakteristischen Stilelemente der Zeit des 2. Viertels des 14. Jh.“ erkennt und zudem auf Parallelen zu Werken der Glas- und Tafelmalerei verweist.7)

Textkritischer Apparat

  1. Kürzung durch us-Haken.

Anmerkungen

  1. Inv.-Nr. nach Hölker/Jaques (1925/75): I-78A.
  2. Inv.-Nr. nach Hölker/Jaques (1925/75): I-78B; Heitmeyer-Löns, Inventar Paramente (2008), Nr. 783/4.
  3. Vgl. RBA 53352 und Schnütgen, Stola und Manipel (1889), Tf. XVI.
  4. Jaques/Rotthoff, Paramente (1987), S. 79f.
  5. Nach Io 19,19.
  6. Allenfalls könnten die Buchstaben GE als Kürzung für Gereon erwogen werden, aber auch diese Auflösung wäre äußerst ungewöhnlich. Zudem ist die Darstellung des hl. Gereon zwar möglich, aber doch weniger wahrscheinlich als die des Stiftspatrons Viktor. Die Buchstaben RAT lassen sich gar nicht mit der abgebildeten hl. Helena in Verbindung bringen.
  7. Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 119f. Danach Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), S. 162. Jaques (Jaques/Rotthoff, Paramente [1987], S. 79) schlägt eine Datierung um 1350 und die Lokalisierung nach Köln vor. Clemen (KDM Kreis Moers [1892], S. 141, Nr. 34f.) und Reichert (Spätgotische Stickereien [1938], S. 93) ordnen die Textilien der 2. Hälfte des 14. Jh. zu.

Nachweise

  1. Stiftsmuseum Xanten, Nachlass Jaques (nicht inventarisierte Fotos).
  2. Schnütgen, Stola und Manipel (1889), Tf. XVI (D–F).
  3. Witte, Tausend Jahre (1932), Bd. 3, Tf. 153 (E–H).
  4. Kat. Parmi les trésors (1949), S. 49, Nr. 167, Abb. Pl. XCI (Manipel).
  5. Hilger, Das Brustkreuz des hl. Gereon auf dem Altar der Kölner Stadtpatrone von Stephan Lochner, in: Kat. Rhein und Maas, Bd. 2 (1973), S. 469f. mit Abb. 5 (E–F).
  6. Jaques/Hilger, Paramente (1979), Tf. 54 (H).
  7. Grote, Schatz von St. Viktor (1998), S. 119 (Abb.) (H).
  8. Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), S. 163 (H) mit 4 Abb.

Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 24(†) (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0002403.