Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 363† Worms-Herrnsheim,
kath. Pfarrkirche
(1204)/frühestens E.15.-A.16.Jh.?

Beschreibung

Angebliche Grabplatte der Gertrud, Tochter eines Johannes „Herrn in Dalberg“. Neben einem Fenster der südlichen Grabkapelle.1) Hochrechteckige Platte mit Umschrift, in einer Zeile oben fortgesetzt.

Nach Abriß (zwei Nachzeichnungen und Transkription).

Schriftart(en): Gotische Majuskeln, sehr spät (?) oder sogar in neuzeitlicher Nachahmung (?).

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Dr. Rüdiger Fuchs) [1/3]

  1. ANNO D(OMI)/NI · M · CC · IIIIa) · I(N) · DIE · [QUIN]TAb) · EPIH/FANIEc) · / O(BIIT) · GERDRVDIS · FILIA · IOH(ANNI)S · / D(OMINI) · IN · D(ALBERG)d)

Datum: Bezug zu 6. Januar 1204, ggf. 7., 10. oder 13. Januar.

Kommentar

In der heute zugänglichen und oben wiedergegebenen Textüberlieferung konfrontiert die Inschrift mit erheblichen Problemen: Weder ist um das Jahr 1204 in den verbreiteten Stammbäumen der Geschlechter Dalberg oder Kämmerer von Worms gen. von Dalberg eine Gertrud als Tochter eines Johannes nachgewiesen noch kannte ein verläßlicher Beobachter wie Georg Helwich diese Grabplatte. Weitere Zweifel nährt die Tatsache, daß eben im Jahre 1204 weder der körpergroße Träger mit Umschrift2) noch überhaupt ein derartiges Begräbnis in der Herrnsheimer Pfarrkirche denkbar sind, umso weniger als die Familie der Kämmerer von Worms (gen. von Dalberg) nicht vor dem 14. Jahrhundert großen Besitz in Herrnsheim erwarb und erst die Linie Philipps (†1492) mit dem Bau des ersten Schlosses dort eine Residenz schuf, die auch die Errichtung einer Familiengrablege und überhaupt Begräbnisse in einer Dorfpfarrkirche, die vorher keinem dominierenden Adelsgeschlecht gehört hatte, ermöglichte. Ältere Angehörige des weiteren Familienkreises wurden in St. Martin zu Worms oder in Oppenheim begraben. Trotzdem kann die verstorbene Person nur aus der weiteren Familie der neuen Ortsherren stammen; in beiden Überlieferungssträngen wird denn auch kein Zweifel an der prekären Auflösung des Namensrestes angemahnt. Der Gewährsmann aus zweiter Hand, Ockhart, bezweifelte aber selbst mehrfach seine aus dem Vergleich mit den Abschriften von Helwich und Schannat zu Dalberger Grablegen gewonnene Erkenntnis, die vorliegende Grabinschrift stamme vom ältesten bekannten Dalberg-Grabmal.1) Er begründete seinen Vorbehalt aus der Familiengeschichte, denn der Dalberg-Name sei frühestens 1315 durch die Aufnahme des Johannes Kämmerer von Worms in die Ganerbenschaft der Dalburg möglich gewesen; freilich ist die Verwendung des Namensteiles Dalberg/Dalburg erst 1375 für dessen gleichnamigen Enkel (†1415) in Oppenheim bezeugt.3)

Da die Errichtung eines Grabdenkmales im Jahre 1204 von der Geschichte der Kirche und der erst viel später einsetzenden Denkmalentwicklung im angesprochenen Personenkreis ausgeschlossen wird, bieten sich zwei Lösungsmöglichkeiten an: Über die Abschreiber ist eine falsche Jahreszahl überliefert, man müßte also über den Todestag eine später lebende Gertrud, Tochter eines Johannes finden, was nicht gelang. Vorstellbar scheint auch die Errichtung eines Denkmales für eine längst verstorbene Person einer älteren Linie, denn man muß auch gehäufte Überlieferungsfehler etwa bei Namen oder der eigenwilligen Tagesdatierung annehmen. In der Frühgeschichte der Familien Kämmerer von Worms und Dalberg kennt man keine Frauennamen und ein Johann taucht bei den Kämmerern erst um 1300, bei den Dalberg 1235-1239 belegt auf;4) Töchter sind von beiden nicht bekannt. Aus Schannat erwähnt Ockhart, die betreffende Gertrud sei die letzte ihres Stammes und damit die Erbtochter von Dalberg gewesen, die Besitz und Namen den Kämmerern eingebracht habe, folglich eine Tochter jenes bis 1239 genannten Johannes. Obwohl urkundlich anscheinend nicht belegt, findet sich auch in der Familientradition, die über das Genealogisch-historische Stammbuch des Johann Georg (oder Nikolaus) Bickard und seine Fortsetzer unter anderem wohl auch Schannat zur Kenntnis gekommen war, wieder diese verdächtige Angabe, und daß eben jene Gertrud als letzte ihres Stammes – und damit eigentlich Tochter Antons – mit einem Gerhard, Sohn jenes in die Burggemeinschaft aufgenommenen Johannes Kämmerer, verheiratet gewesen sei.5) Freilich wird in diesem Abschnitt der Kämmerer-Genealogie einiges durcheinandergebracht: So war jener erste Kämmerer in der Dalburg, der 1350 verstorbene Johannes, mitnichten der Sohn Gerhards und der Guda von Weinsberg, sondern sein Bruder oder Onkel, und kein Gerhard war sonst nachweislich mit einer Gertrud verheiratet; in der dalbergischen Linie der Kämmerer trifft die Information der Inschrift auch nicht annähernd auf eine andere Gertrud zu.6)

In beiden Nachzeichnungen bemühte man sich übrigens, den Charakter der Buchstaben wiederzugeben; daß unziale, wohl gotische Majuskeln E, G, H, M und N wirklich zum Jahre 1204 gehören könnten, ist kaum anzunehmen, da das unziale M damals nicht in der vorliegenden achsensymmetrischen Form denkbar ist. Mag man diese Einwürfe aus der Inschriftenpaläographie auch nicht zugunsten einer Spätdatierung akzeptieren, weil natürlich berechtigte Zweifel an der Realitätsnähe der Zeichnung bestehen mögen, so weisen doch das Arrangement auf der Platte und der Titel DOMINUS IN DALBERG ebenfalls auf eine spätere, und zwar erheblich spätere Zeit hin.

Vorangehende Beobachtungen zu Stammbaum, Form, Text und Ort sind an dieser Stelle für eine Deutung und Datierung der Inschrift zusammenzusehen: Obwohl keine der Nachrichten hinsichtlich der Wiedergabe der Jahreszahl Verdacht erweckt, kann das Denkmal nicht am Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden sein; Denkmaltyp und vorgeblicher Begräbnisort weisen zusammen frühestens auf das Ende des 15. Jahrhunderts, als sich die Philippsche Linie in Herrnsheim etablierte. Auch das könnte ein allzu früher Ansatz sein, da die Inschrift bei dem eifrigen Sammler und Kenner der Familie Georg Helwich nicht überliefert ist. Macht man die Errichtung eines Denkmales für eine Person, die der Familie neben Besitzzuwachs auch den sozialen Aufstieg und einen prestigeträchtigen Namen einbrachte, von der Rückbesinnung auf die Ursprünge dieser Linie abhängig und setzt gleichzeitig das Vorhandensein ausreichender oder vermeintlich ausreichender Kenntnisse jener Zeiten voraus, gelangt man in das 17. Jahrhundert, als der Dalbergname die Herkunftsbezeichnung Worms stärker zu verdrängen begann. In ihren Grabinschriften führen den Dalberg-Zusatz als erste die Kinder des Johannes Kämmerer von Worms gen. von Dalberg (†1415), seine Frauen Elisabeth, Anna und er selbst in Oppenheim;7) in der Form Kämmerer (genannt) von Dalberg ohne den Zusatz Worms hält sich der Name dort bis zum Ende des 15. Jahrhunderts und in Herrnsheim bei einigen Denkmälern der Philippschen Linie. Die danach in allen Linien dominierenden Titel „Kämmerer (von Worms) gen. von Dalberg“ und ihre Abwandlungen treten seit dem Denkmal des Eberhard (†1559) von 1618, wo er CAMERARIVS A DALBERG heißt, zurück; die Betonung der Herrschaft in Dalberg gelangt dann jedoch bei Wolff Friedrich (†1621), der auf seiner Grabplatte CAMRER, HERR VON DALBVRG genannt wird,8) endgültig in den Vordergrund. Diese beiden Konstruktionen beherrschen die Titel bis zur Erhebung in den Reichsfreiherrenstand im Jahre 1653. Der Titel in der verlorenen Inschrift entspricht noch dem alten Familiennamen, aber auch schon neuen Gepflogenheiten nach 1618, indem die Standesbezeich- nung DOMINUS quasi als Übersetzung der zeitgenössischen deutschen Grabinschriften erscheint; im 14. Jahrhundert oder gar noch früher müßte man nach dem Taufnamen MILES oder vergleichbare Begriffe erwarten. Eine Datierung eben nach Helwichs Inschriftenaufnahmen und über den DalbergTitel ins 17. Jahrhundert kann daher hohe Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen, zumal erst gegen Ende des Jahrhunderts jene Familientradition greifbar wird, nach der in den Schriften Bickards nur vielleicht alte Ableitungen von dem sagenhaften Römer Gaius Marcellus aus Turnierbuchnachrichten und genealogischen Fiktionen bis in historische Zeit wenigstens teilweise aufgefüllt werden.5) Die Inschrift bezog sich also auf die von jenem erwähnte Gertrud von Dalberg als die letzte ihres Stammes und damit quasi Ahnherrin der Dalberg-Linie der Kämmerer. Da in den Nachzeichnungen gotische Majuskeln zumindest angedeutet sind, eröffnen sich zwei Möglichkeiten, das Denkmal zu interpretieren: Zwischen den Enden des 15. und 17. Jahrhunderts ließ man in Herrnsheim eine Grabplatte in historisierenden Formen für eine Person herstellen, deren fiktive genealogische Einordnung sie mit den letzten Vertretern des alten Dalbergstammes assoziierte; wie eine mögliche Verwechslung des angeblichen Vaters Johannes mit dem wirklich letzten Dalberg namens Anton erfolgte, entzieht sich der Kontrolle, wenngleich die Abschriften keinen Kopierfehler nahelegen. Denkbar ist aber auch eine Erfindung eines Familienchronisten, der seine Fiktion mit einer Grabsteinzeichnung untermauern wollte; ein vergleichbares Vorgehen muß man mit guten Gründen Schannat bei der angeblichen Grabinschrift Bischof Adelberts zutrauen. Nachträglich hergestellte Denkmäler zum Gedenken einer wichtigen Person sind relativ häufig im Bereich von Stiftermemorien anzutreffen, wurden aber selten oder zu wenig erforscht im Hinblick auf retrospektiven Familienkult,9) dem die vorliegende Platte zugeschrieben werden sollte.

Textkritischer Apparat

  1. Die Jahreszahl kann so nicht stimmen; eine Verlesung aus 1304 kann aus der Sachlage nicht begründet werden, da die entscheidenden Ereignisse, die zur Übernahme der Dalburg führten, danach liegen und wohl bekannt waren, vgl. unten bei Anm. 5.
  2. ULTIMA Ockhart; QUINTA Abriß (Transskription); das merkwürdige t-förmige Zeichen ließe sich als Minuskel-q oder sogar als 5 in gotischen Ziffern lesen. Als Deutungen der Datierung kämen dann der 5. Tag nach Epiphania, das wäre der 10. Januar, oder aus der vielleicht zeitbedingten Verwechslung von FERIA zu DIE der Donnerstag, also der 7. Januar, in Frage; in beiden Fällen müßte man gestörten grammatischen Anschluß annehmen. Daher ist auch eine Verstümmelung aus gebräuchlichem OCTAVA nicht auszuschließen.
  3. Sic! Abriß, EPIPHANIAE Ockhart.
  4. Die ungewöhnlichen Buchstaben lassen sich nicht als Segensformel im Sinne von R(EQUIESCAT) IN P(ACE) deuten, die im übrigen 1204 genauso unüblich wäre.

Anmerkungen

  1. Ockhart, bes. fol. 48 u. 67.
  2. Zur schlichten körpergroßen Umschriftplatte ohne Figuren von Stiftern oder in besonderer Weise herausgehobener Persönlichkeiten fehlen erschöpfende Aussagen. Daß sie mit Inschrift nach obiger Formel erst ab der Mitte des 13.Jh.s als verbreitete Gruftplatte anzutreffen ist, gilt nach eigener Anschauung zunächst für den Mittelrhein, vgl. Fuchs, Katharinenkirche 139f.
  3. Möller, Stammtafeln AF II Taf. LXVI und übereinstimmend alle späteren; vgl. auch DI XXIII (Oppenheim) Nr. 37f. zu den Grabplatten seiner 1383 verstorbenen Kinder Greda und Johannes mit der Wendung ALIAS DALBURG, ebd. Nr. 54 mit freilich unsicherer Überlieferung des Dalbergnamens und unten bei Anm. 7f.
  4. Vgl. Möller, Stammtafeln AF I 116.
  5. Handschrift bisher nicht gefunden, überliefert in Rheinischer Antiquarius II. Abt. 16, 172, mit Recht die Geschichtsklitterung zum römischen Stammvater und seiner Karriere unter Varus und am Kreuz von Golgatha skeptisch beurteilt. Zur Übertragung des Burgenanteiles 1315 vgl. Dalberger Urkunden Nr. 40.
  6. Möller, Stammtafeln AF II Taf. LXVI. Der Antiquarius verwechselte ihn mit Johann d.Ä. (†1374); auch war natürlich Winand (†1365) Johanns und nicht Gerhards Sohn, dessen Linie nichts mit der dalbergischen zu tun hatte.
  7. DI XXIII (Oppenheim) Nr. 37f., 43, 54.
  8. Vgl. Nr. 649 u. 653.
  9. Vgl. Nr. 17; als Paradebeispiel, aber sicherlich nicht als einziges Exemplar, gilt der Rech-Grabstein in Hagenhausen, übrigens ebenfalls mit einer historisierenden gotischen Majuskel beschrieben, vgl. Kloos, Einführung 133. Weiteres zu dieser Art von Denkmälern ist aus der Feder von Dr. R. Neumüllers-Klauser über Inschriftenfälschungen zu erwarten.

Nachweise

  1. Ockhart fol. 47v u. 99v (nach Schannat, Mon. vetera 45).
  2. Abriß der herrschaftlichen Epitaphien.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 363† (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0036308.