Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 316 Dom, innen, aus Kreuzgang 1488

Beschreibung

Stifter- und Widmungsinschrift des Johannes Kämmerer von Worms gen. von Dalberg, Bischof von Worms, am Relief des Stammbaumes. Innen an der Wand des nördlichen Seitenschiffs, im mittleren Doppeljoch, im 19. Jahrhundert in der Nikolauskapelle, aus dem Domkreuzgang, dort wahrscheinlich im Ostflügel, wo sich eine von Dalberg errichtete Marienkapelle befand.1) Großes Steinrelief aus hellgelbem (Tiger?) sandstein mit zweizeiliger Inschrift auf dem niedrigen Sockel (B) und Jahreszahl (A) beiderseits des Stammes, unmittelbar über der Figur des Jesse. Unter einem schwach gespitzten Bogen, der mit starkem, reich verschlungenem Astwerk besetzt ist, in Halbrelief Stammbaum Jesu in Form eines mächtigen Baumes, der aus der Seite des Jesse hervortritt; nahezu symmetrisch sendet der Baumstamm vier Äste aus, die sich jeweils wieder in drei Zweige teilen. Die Zweige umschließen 12 Halbbüsten der Vorfahren Josephs, alle mit Zepter und Spruchbändern, auf denen in schwarzer Farbe gemalt ihre Namen standen (C); wohl Nachmalungen des 19. Jahrhunderts aus älteren Resten. Allein David wird mit einer Harfe individuell gekennzeichnet. In der Spitze des Baumes sitzende Muttergottes im Strahlenkranz, dem Christkind eine Traubendolde reichend. Flankiert wird das Bild von zwei Figurengruppen unter Astwerkbaldachinen, links außen Hieronymus mit dem Löwen und Petrus, der seine Rechte auf die Schulter der betenden Stifterfigur gelegt hat und ihn Maria empfiehlt, rechts zwei im 19. Jahrhundert mit Gips stark überarbeitete Heiligenfiguren, außen mit Schwert, innen mit Buch, möglicherweise ursprünglich Paulus und ein weiterer Heiliger oder Kirchenvater. In der Spitze des Reliefs über einer Astwerkkonsole die beschädigte Büste eines Propheten mit leerem Spruchband. Beiderseits der Sockelinschrift je ein Wappen, von geflügeltem Putto gehalten, rechts Putto verloren. Bogenrahmen neu, Teile von Köpfen, Gliedern, Astwerk und Insignien ergänzt. Gegenüber der Abbildung im Kunstdenkmälerwerk ist die Figur des Hieronymus heute leicht nach rechts gedreht. Trotz anscheinend gewaltsamer Reinigungen finden sich geringe Farbspuren in Vertiefungen und oben am Relief, so blau an Trauben und Gewändern, gold an Gewandsäumen, Kronen und Haaren.

Ergänzt und identifiziert nach Böcher gemäß Matthäuschronologie (C).2)

Maße: H. ca. 410, B. 370, Bu. 5 (A), 3,7-4 (B), 2,1-2,6 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Dr. Rüdiger Fuchs) [1/1]

  1. A

    M CCCC / LXX[X]VIIIa)

  2. B

    DIVAE · MARIAE · DEI · GENITRICI ·b) VENERANDISQ(VE) · EIVS · PROGENITORIBVS / IO(HANNES) · CAMER(ARIVS) · DALB[E]RGc) · EPIS(COPVS) · EREXIT · CVIVS · DVCTV · HAEC · PORTICVS · ATQVE · CIRCVITVS · COEPTVS

  3. C

    DAVIDSALOMONROBO[AM]AB[IAS]ASAIOSAPHAT ·JORAMOSIAS ·JOATHAMACHAZ· EZECHIAS ·· MANAS[SES]

Übersetzung:

Der göttlichen Maria, Gottesgebährerin, und ihren ehrwürdigen Ahnen errichtete es Johannes Kämmerer (von) Dalberg, Bischof, unter dessen Leitung diese Halle und dieser Kreuzgang begonnen wurden.

Wappen:
Kämmerer von Worms gen. von Dalberg, Greiffenclau zu Vollrads.

Kommentar

Das wegen seines illustren Stifters und der Qualität der Darstellung schon früh vergleichsweise häufig belegte Relief der Wurzel Jesse ist mit einer in höchstem Maße der frühen Renaissance verpflichteten Inschrift versehen, die die Widmung an Maria, den Stifter und Bauherrn des ganzen Kreuzgangunternehmens, Johannes (von Dalberg), verewigt. Die erste sicher in Worms belegte Verwendung einer geradezu klassischen Kapitalis ist mit feinen Linien in solcher Regelmäßigkeit ausgeführt, daß man sie entgegen der expliziten Datierung für wesentlich später halten könnte, insbesondere weil Dalbergs Schlußstein von 1489 und andere zeitnahe Reliefs desselben Bau- und Ausstattungsprogramms noch mit einer dekorativen gotischen Minuskel beschrieben sind.3) Proportionen, Linienführung und kreisrunde O folgen allerbesten klassischen Vorlagen, M ist leicht konisch mit tief herabgezogenem Mittelteil; bei Buchstaben ohne Rundungen schwanken die Strichstärken nicht, waagerecht verlaufende Rundungen sind nur wenig dünner, die einseitig nach unten ausgezogenen Dreiecke als Worttrenner klassisch. Die Nachahmung geht sogar soweit, daß die Bögen der P wie bei antiken Inschriften regelmäßig und bei B und R gelegentlich nicht bis auf den Schaft durchgezogen sind.4) Anders als bei der Inschrift unter der Madonna der Palästinafahrer von 1484, deren Schäfte noch zum Ende hin langsam breiter werden, ein Merkmal der Gotik, sind in Worms Balken- und Schaftenden mit zierlichen Sporen versehen. Mit dem Mainzer Madonnenbild hat Dalbergs Inschrift auch die unklassische Ausbildung der doppelt geschwungenen R-Cauda gemeinsam, die etwa im Mainzer Henneberg-Epitaph von 1504 schon zugunsten der spornartig geraden oder leicht nach unten durchhängenden Form, die am rechten unteren Ende des Bauches ansetzt, aufgegeben worden war.5) Auch die Namensnennung durch IO CAMER DALBERG verzichtet ganz auf die mittelalterlichen zuordnenden Verbindungen, quasi die Namensgebung auf römischen Inschriften nachempfindend.

Es gibt keinen hinreichenden Grund, die Entstehung von Relief und Inschrift wesentlich später als 1488 anzusetzen, da für die Ausführung der Inschrift mit der vorliegenden Schriftqualität in der Person des Stifters alle Voraussetzungen gegeben waren, denn Dalberg hatte in Pavia Recht bis zur Promotion studiert, Rom gesehen und die alte und neue Kultur seines Umfeldes in sich aufgesogen, ließ selbst Römersteine in seinem Bischofshof bergen und instandsetzen und pflegte insbesondere über die Universität Heidelberg intensive Kontakte zu Frühhumanisten, zu deren Kreis er selbst mit Recht zählt.6) Weitere Argumente gegen die Spätdatierung der Inschrift liegen in zeitlich einzuordnenden Entstehungsbedingungen und ihrer entwicklungsgeschichtlichen Position gegenüber wenig späteren. Anhand datierter Schlußsteine läßt sich ein Nachlassen der Bauintensität nach 1489 vermuten, 1494 trat wohl sogar eine Pause ein, die durch das Exil des Wormser Klerus über den Tod Dalbergs 1503 mindestens bis 1509 währte; erst ab 1513 sind am Kreuzgang wieder Arbeiten im Gange. Dieser Zeit gehört das Relief nicht mehr an, auch gibt es keinen Anhaltspunkt, durch wen und warum die Inschrift nachgetragen sein sollte; eine spätere Anbringung wäre wegen ihrer Position am zurückspringenden Sockel beim aufgestellten Denkmal höchst schwierig gewesen und daher kaum in der vorliegenden Qualität gelungen. Da in der unweiten Dorfkirche von Herrnsheim auf dem Denkmal des 1492 verstorbenen Philipp Kämmerer von Worms gen. von Dalberg, der ein Onkel des Johannes war, zudem das Todesdatum in einer Kapitalis nachgetragen worden war und für diese Anwendung einer, wenn auch weniger vollkommenen, neuen Schriftform ein Präzedenzfall gegeben sein mußte,7) kann man ihre Verwendung nur von der Stammbauminschrift als innovativem Markstein gelernt haben.

Das Relief der Wurzel Jesse oder des Stammbaumes gehört zu einem wohl von Dalberg selbst ins Werk gesetzten soteriologischen Denkmalprogramm, in dem die großen Reliefs paarweise angeordnet waren und dem Stammbaum das der Grablegung entsprach, weil er die irdische Abkunft Jesu nachzeichnet gegenüber seiner Rückkehr zur Erde.8) Im Jesse-Baum, wie ihn Otto Böcher wohl treffend bezeichnete, vereinigen sich mehrere Traditionslinien; theologisch umfaßt er sowohl den Lebensbaum wie auch den eucharistischen Baum, besonders sinnfällig in der dem Jesukind gereichten Weintraube, er symbolisiert die jungfräuliche Empfängnis und greift die seinerzeit intensiv betriebenen genealogischen Interessen auf mit all ihren legitimierenden Implikationen. Ikonographisch gehört das Wormser Exemplar zu der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ausgebildeten Vollform des Baumes mit liegendem Jesse, 12 Königen, Maria mit Kind und Gottvater oder hier mit einem Propheten, der wohl mit Jesaja zu identifizieren ist, bei dem es Kap. 11,1 heißt: „Et egredietur virga de radice Jesse“. Der Messias würde also von Jesse/Isai, dem Vater Davids abstammen, so auch aus Apoc. 5,5; daher darf es nicht verwundern, wenn sich die Königsgenealogie Josephs nach Matthäus (1,5-16) gegenüber der des Evangelisten Lukas (3,23-38) durchsetzte. Die gesamte Ahnenliste von Abraham bis Joseph hält etwa die umfangreiche Deckenmalerei der Pfarrkirche von Maria Saal aus dem Jahre 1490 fest;9) der Mainzer Sippenteppich von 1501 als weitere zeitnahe und ähnlich qualitätvolle Arbeit reicht von Jesse bis Joseph.10) Demgegenüber nötigten Raumbeschränkung und Komposition des Wormser Reliefs zur Auswahl, die sich auf die symbolträchtige Zwölfzahl beschränkt und daher nur bis Manasse reicht. Eine unanfechtbare Quasi-Ahnenprobe lag nicht in der Absicht der Darstellung, sonst hätte man sich gegen Matthäus auf die vollständigere im zweiten Buch Paralipomenon beziehen müssen. Auch der scheinbare Widerspruch von jungfräulicher Empfängnis und Legitimierung aus der Stammliste des Vaters bestand für die Zeitgenossen nicht.11)

Anhand genauester Beschreibung künstlerischer Details gelang es schon früh, den Hauptmeister der oberrheinischen Schule des Nikolaus Gerhaert zuzuweisen;12) daß es sich um Conrad Seyfer aus Sinsheim handelte, wird heute wegen guter Vergleichsbeispiele im Straßburger Raum, der mit der Wormser Dombauhütte des 15. Jahrhunderts eng verbunden war, nicht mehr ernsthaft bestritten.13) Der tiefe Realismus der Gerhaertschen Schule kommt auch in dem Idealportrait der Stifterfigur zum Ausdruck, deren Kopf mit einem Schädelfund nahe bei dem Dalberggrab anatomisch übereinstimmt.14)

Textkritischer Apparat

  1. M CCCC LXXXIII Kdm. Über den römischen Zahlbuchstaben waagerechte Linien wohl für Ordinalzahlen.
  2. Danach Lücke von ca. 25 cm.
  3. Keine Kürzungen und Verbindung der beiden Namen erkennbar.

Anmerkungen

  1. Schmitt 298 nach Hertzogs Kreuzgangaufzeichnungen fol. 229v u. ff. u. Schannat, Hist. ep. Worm. I 6; genau Issel: neben der Tür zwischen Kreuzgang und Nikolauskapelle; vgl. oben S. LXXVf. Es ist bekannt, daß die Jesuiten von der Nikolauskapelle einen Durchgang zur Marienkapelle des Kreuzganges brechen lassen wollten.
  2. Jeweils von unten im Uhrzeigersinn Zweige links unten: David, Asa, Salomon; Zweige rechts unten: Josaphat, Abias, Roboam; Zweige links oben: Joatham, Ozias, Achaz; Zweige rechts oben: Joram, Ezechias, Manasses.
  3. Vgl die Schlußsteine ab 1484, Nr. 301ff., und die Kreuzgangreliefs ab 1487, Nr. 311ff.
  4. Man vergleiche etwa den Neptunstein aus Baden-Baden, bei dem die Cauden des R aber stärker geschwungen sind, DI XX (Karlsruhe) Abb. 81, und die Maulbronner Bauinschrift des Abtes Johannes Burrer von 1493, DI XXII (Enzkreis) Nr. 122 u. Abb. 53.
  5. DI II (Mainz) Nr. 206, 278.
  6. Vgl zu Biographie und akademischer Karriere Morneweg, Johann von Dalberg, passim u. L. Lenhart, Art. Dalberg, in: NDB 3 (1957) 488.
  7. Vgl. Nr. 297 (1483/1492).
  8. Vgl. Hotz, Wormser Kunst 30. Gegen Hertzog handelt es sich nicht um ein Denkmal des Totengedächtnisses, wenngleich die Wormser Reliefs auch als Weiterentwicklung aus dem Epitaph betrachtet wurden, vgl. Tiemann 44.
  9. Leitner, Inschriften von Maria Saal 71f.
  10. DI II (Mainz) Nr. 268.
  11. Vgl. die ausführliche Diskussion des Jesse-Baumes und eine Liste bildlicher Darstellungen nach 1460 bei Böcher 156ff. Für das 12./13. Jh. A. Watson, The early iconography of the tree of Jesse. Oxford/London 1934. Zusätzliche Symbolik ist nach Behling angeblich in den Pflanzendarstellungen zu sehen, bei denen sich das verschlungene Ast- und Blattwerk in den Baldachinen und in der Konsole über dem Christuskind zu einer Art Dornenkrone verdichtet; es ist fraglich, ob man diese Aussage nicht realistischer dargestellt hätte.
  12. Vgl. Tiemann 51ff.
  13. Vgl. Hauck, Zimmermann, Seeliger-Zeiss, Lorenz Lechler 81 u. Hotz, Dom 141. Datierung in den Anfang des 16. Jahrhunderts und Zuschreibung an Hans von Heilbronn nach Klingelschmitt 90f. ist heute überholt. Reinhardt, Bildhauer Konrad Sifer 248f. sah dessen Hand am Astwerk und bei der David-Büste, aber auch Hans Seyfer beteiligt.
  14. Tiemann 52f.: Idealportrait; zur Schädeluntersuchung vgl. auch Ranke/Birkner, Untersuchung der Skelettreste.

Nachweise

  1. Hertzog, Beschreibung I 2 fol. 216 u. 311 (A,B, so alle anderen außer Schmitt und Böcher).
  2. Zorn-2 fol. 153.
  3. Ders., Chronik bei Arnold 196.
  4. Zorn-Wilck (W) 440, (M) 555.
  5. Helwich, Syntagma 17.
  6. Ders., Prodromus 45.
  7. Ockhart fol. 134.
  8. Schannat, Hist. ep. Worm. I 422.
  9. Wickenburg II 164.
  10. Zorn-Meixner fol. 91v.
  11. Issel, Bericht in Lohmeyer, Leben 153.
  12. Falk, Bildwerke 8.
  13. Kdm. Worms 194 u. Abb. 96.
  14. Klingelschmitt, Magister Valentinus Taf. 31.
  15. Tiemann, Beiträge 55 Anm. 175.
  16. Back, Jahrtausend 221 Anm. 14.
  17. Illert, Regesten 37.
  18. Kautzsch, Dom Taf. 113f.
  19. Schmitt, Bildwerke 287 (A-C).
  20. Wolff, Kaiserdome Abb. S. 37.
  21. L. Behling, Die Pflanzenwelt der mittelalterlichen Kathedralen. Köln/Graz 1964, 158 u. Abb. CLIVa.
  22. Hauck, Conrad Sifer 275 Anm. 288 u. 291 u. Abb. Taf. 37b.
  23. Dehio/Caspary 1010; 21165.
  24. O. Böcher, Zur jüngeren Ikonographie der Wurzel Jesse, in: MZ 67/68 (1972/73) 153f. u. Abb. 11a (A-C).
  25. Zimmermann, Syfer Abb. S. 59.
  26. Hotz, Dom 132 u. Abb. 65.
  27. Englert, Dom Abb. S. 30.
  28. v. Winterfeld, Dom Abb. S. 79.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 316 (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0031605.