Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 32† Martinsstift 1.D.13. Jh.?

Beschreibung

Verlorene Spruchinschrift an der Außenwand des südlichen Langhauses. 1858 noch sichtbar, wahrscheinlich bei Ausbesserungsarbeiten nach 1870 verschwunden;1) wohl kaum unter Putz erhalten.

Nach Mone.

Schriftart(en): Gotische Majuskel, früh?

  1. CVM MARE SICCATVR ETa) DAEMON AD ASTRA LEVATVRTVNC PRIMOb) LAICVS FIT CLERO FIDVS AMICVS

Übersetzung:

Wenn das Meer austrocknet und Satan zum Himmel erhoben wird, erst dann wird der Laie dem Klerus ein treuer Freund.2)

Kommentar

Da weder die genaue Lokalisierung bekannt ist noch Abbildungen irgendeiner Art existieren, kommt als einziger Anhaltspunkt für die Datierung Mones Vorschlag des 12. bis 13. Jahrhunderts in Frage, welchen er nur aus dem Vergleich der Schriftformen mit jenen der Tympanoninschrift gewonnen haben kann.3) Ist die Beobachtung über die Schriftformen zutreffend, könnte die Inschrift im Zuge des Langhausbaues um 1220 entstanden sein.

In diesem Falle wäre sie als frühester Beleg des mehrfach so oder ähnlich formulierten Spruches anzusehen, der in Spruchsammlungen des 14. bis 15. Jahrhunderts vorkommt4) und seine bekannteste Verwendung dem Zitat in einer Tischrede Martin Luthers verdankt.5) Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob Luther, der 1521 im Wormser Johanniterhof unweit der Martinskirche wohnte, die Anregung von der Inschrift an der Kirche seines Namenspatrons empfing oder nicht; er resümierte in dem Spruch über andauernde Feindschaft von Laien und Predigern das Ergebnis ihrer gegenseitigen moralischen Kontrolle. Demgegenüber ist der Hintergrund der Wormser Verwendung vielleicht im Gegensatz zwischen Stiftsklerus und Pfarrseelsorge6) oder wahrscheinlicher in den Konflikten zwischen Klerus und Stadt zu suchen. Nach dem Amtsantritt Bischof Heinrichs II. (1217-1234) aus dem Grafenhause Saarbrücken war es zu Verfassungskämpfen gekommen, während denen der Bischof die vierzig Stadträte auf fünfzehn reduzierte und die Zerstörung des Bürgerhofes, Repräsentativ- und Gerichtshaus der Bürgerschaft, durchsetzte.7) Wenn sich der Spruch mit seiner dem Kamel-Nadelöhr-Gleichnis in Matthäus 19,24 nachgebildeten unerfüllbaren Bedingung konkret auf die nie enden wollenden Spannungen zwischen Stadt, bischöflicher Stadtherrschaft und Stiftsklerus bezieht, erscheint es tunlich, Zweifel an der Datierung nicht zu verschweigen; denn auch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren in Worms gotische Majuskeln, freilich gegenüber 1220 anders geformt, verbreitet, und die Umstände und Dauer der Verfassungskämpfe des Spätmittelalters standen der Abfassung des resignierenden Sinnspruches gewiß näher.8) In welcher Zeit die wenig eleganten, leoninisch gereimten Hexameter besser vorstellbar sind, sei dahingestellt.

Textkritischer Apparat

  1. CVM Zorn-Wilck.
  2. TVNC PRIMVM ebd., TVM PRIMVS King, TVNC PRIMVS Panzer.

Anmerkungen

  1. King, Kranzbühler, Böcher.
  2. Kranzbühler: „Wenn das Land die Meere trinkt, Satan sich zum Himmel schwingt, Dann erst siehst als treue Freund‘ Pfaff und Laien du vereint“.
  3. Vgl. vorangehende Nr.
  4. „Tunc primo laycus clero nascetur amicus“ nach Anthologie von 1366 in Göttingen, Universitätsbibliothek, Cod.phil. 130 fol. 170, vgl. E. Voigt, Florilegium Gottingense, in: Romanische Forschungen 3 (1887) 285 Nr. 27 – die unmittelbar darauffolgende Nr. 28 bezieht sich übrigens auf das Kamel-Nadelöhr-Gleichnis in Mt. 19,24; ebenso eine Handschrift in St. Gallen von 1462. „Dum mare ...“ nach Handschrift Basel aus dem 1. Viertel des 15. Jh.s, vgl. J. Werner, Lateinische Sprichwörter und Sinnsprüche des Mittelalters aus Handschriften gesammelt (Sammlung mittellateinischer Texte, hg. von A. Hilka 3) Heidelberg 1912, 15 Nr. 176 u. 24 Nr. 165.
  5. Martin Luther, Tischreden hg. von H.H. Borcherdt u. W. Rehm (Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. von H.H. Borcherdt 8) München 1925, 224 Nr. 368 u. M. Anton Lauterbach‘s, Diaconi zu Wittenberg, Tagebuch (zum 25. November 1538), hg. von J.K. Seidemann. Dresden 1872, 178: „secundum dictum vetus: Dum mare siccatur, dum daemon ad astra levatur, Tunc clero laicus fidus amicus erit“. In den Tischreden übersetzt: „Wenn‘s Meer vertrocknet und Satan / Wird in den Himmel gnommen an, / Alsdenn wird der Lai und die Welt / Den Dienern Gotts zu Freunden gestellt.“
  6. Böcher 9f.
  7. Vgl. Chronicon Wormatiense saeculi XV 46.
  8. Vgl. Boos, Quellen III 235ff. Beilage G.

Nachweise

  1. Zorn-Wilck (M) 907.
  2. Mone, Kunstnachrichten II Sp. 57.
  3. Th.H. King, The Study-Book of Medieval Architecture and Art IV. Edinburgh 1893, Kapitel Worms.
  4. Otte/Wernicke, Handbuch der kirchlichen Kunstarchäologie 5I 425.
  5. Kraus, Christliche Inschriften II 81 Nr. 180.
  6. Kranzbühler, St. Martin 43.
  7. Panzer, Inschriften des deutschen Mittelalters 20.
  8. Böcher, St.-Martins-Kirche 9.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 32† (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0003204.