Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 21 Dom, innen um 1165?

Beschreibung

Bildbeischrift am Relief mit der Darstellung des Daniel in der Löwengrube. Hoch oben in einem Strebepfeiler, nämlich der Westwand der Annakapelle eingemauert, zusammen mit drei Löwen und der Darstellung, wie ein Engel den Habakuk am Schopf faßt und ihn Daniel Speise bringen heißt, vom alten romanischen Südportal. Das beschriftete Relief aus hellgelbem Sandstein zeigt den bartlosen Daniel mit erhobenen Händen sitzend und die Köpfe zweier Löwen, die zahm seine Hand und Knie lekken, unter einer doppelten Bogenstellung, die auf zierlichen Halbsäulen ruht. Die farbig nachgezogene Inschrift füllt die Bogenblenden aus, hinter denen orientalisch stilisierte Turmhelme herausschauen.

Maße: H. 93, B. 95, Bu. ca. 6 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. DANIELa) INLACVb) / + LEONVM

Übersetzung:

Daniel in der Löwengrube.

Kommentar

Wenige Unzialen, nämlich A und E neben kapitalen Formen sowie halbgeschlossenes M und die ausgeprägten Sporen an kräftigen Schaftenden sind zeitgleich mit den Buchstaben des Christus-Tympanons anzusetzen, das ebenfalls zur romanischen Gestaltung des Südportals gehörte. Die Datierung auf um 1165 resultiert aus dem dendrochronologisch wenigstens annähernd abgesicherten Bauverlauf; wie weit die über der nördlichen Mittelschiffsarkade geborgenen Gerüstholzer von 1161 und 1163 zeitlich von der Ausführung des Südportales, das sich im 12. Jahrhundert ein Joch weiter westlich befand, entfernt sind, läßt sich nicht genau abschätzen.1) Die älteren Einordnungen des Reliefs reichen von 11.-12. Jahrhundert (Falk), 13. Jahrhundert (Kraus und Boos) bis zur ebenfalls baugeschichtlichen Datierung auf Ende 12. Jahrhundert (Kautzsch, Schmitt und andere).

Literarische Vorlagen sind sowohl Daniel Kap. 6 und wegen der Verklammerung mit der HabakukSzene die apokryphe Schrift „Draco“ (Daniel Kap. 14): Nach der Vulgata wurde Daniel durch den Perserkönig Darios in die Löwengrube geworfen, weil er das Gesetz über sein Anbetungsvorrecht verletzt hatte, und dort durch einen Engel Gottes gerettet, der den Löwen den Rachen verschlossen habe. Nach dem Zusatz zur Septuaginta hatte Daniel babylonische Götzen, nämlich „Bel“ und „Draco“, vernichtet, wofür er in die versiegelte Löwengrube geworfen wurde; Speisung während seiner siebentägigen Gefangenschaft besorgte ein Engel, indem er den Propheten Ambakum/Habakuk mit Nahrung von Palästina an den Haaren nach Babel trug.2) Beide Errettungswunder verherrlichen auch in christlicher Deutung die Gnadenmacht Gottes und den Sieg des Glaubens über die falschen Götter. Außerdem fließen in der Person des Daniel und seiner Errettung aus der Löwengrube bis zum Hochmittelalter mehrere Verbindungslinien gerade zu Christus zusammen: Die an frühchristlichen Grabdenkmälern beliebte Darstellung Daniels assoziiert die Rettung der frühen Glaubenszeugen, die Löwen vorgeworfen worden waren; nach Hippolyts Daniel-Kommentar war jener auch ein Märtyrer Christi, der im Gegensatz zu vielen anderen von Gott errettet worden war und daher im besonderen die Auferstehungshoffnung symbolisiert;3) bei Hippolyt finden sich auch die leckenden Löwen. Christusverkündigung und des Hieronymus Namensdeutung als „judicium Dei“ stehen in unmittelbarem ikonologischem Zusammenhang mit dem Tympanonrelief des romanischen Portales; zu dessen Bildprogramm müssen die beim gotischen Umbau im Strebepfeiler der Annakapelle vermauerten Skulpturen gehört haben.4) Umso mehr ist das vorauszusetzen, als richtender Christus und die Auferstehungsassoziation der Daniel-Darstellung5) dem alten Friedhof im Domkomplex zugewandt waren.

Die greifbare Darstellung der Daniel-Geschichte machte sie außer in Bibelillustrationen zu einem beliebten Motiv der Bauplastik ab dem 11. Jahrhundert, insbesondere in Frankreich; in Vézélay und Marétay ist der Daniel-Szene sogar dieselbe Inschrift wie in Worms beigegeben.6)

Textkritischer Apparat

  1. Absplitterung im L als EL-Ligatur rekonstruiert.
  2. Wortübergreifende Ligatur.

Anmerkungen

  1. Vgl. oben S. XVIIf. zum Bauverlauf; Hotz: um 1165, v. Winterfeld: um 1160.
  2. J. Lebram, Art. Daniel/Danielbuch, in: TRE 8 (1982) 342f.
  3. Wacker 28ff.
  4. Schon Schmitt und jüngst bekräftigt von Hotz und v. Winterfeld gegen Doberer, die aus der manieristischen Verwendung und Anordnung der Spolien auf eine Verbauung nach 1500 schloß und sie dem damals vermutlich erneuerten Ostlettner zuwies.
  5. Als alttestamentlicher Typ der Auferstehung Christi fand die Darstellung der Daniel-Errettung Eingang in die frühchristliche Sepulkralplastik. – Noch in der Commendatio animae des Rituale Romanum flehten die Gläubigen: „Libera, Domine, animam servi tui, sicut liberasti Danielem de lacu leonum“. Zu vielfältigen Deutungen Daniels vgl. Feldbusch und Wacker.
  6. Wacker 56 u. 94 sowie Feldbusch zu zahlreichen Abbildungen; CIFM 7 Nr. 33 (Daurade), 8 Nr. TG 47 (Moissac).

Nachweise

  1. Falk, Bildwerke 2.
  2. Ders., Heiliges Mainz 310.
  3. Kdm. Worms 191 u. Abb. 92.
  4. Kraus, Christliche Inschriften II 80 Nr. 175,1.
  5. Boos, Städtekultur I 273.
  6. Thieme/Becker, Künstlerlexikon 1 (1907) 82.
  7. Hamann, Deutsche und französische Kunst II 43 u. Abb. 77.
  8. Beenken, Romanische Skulptur 260f. (Abb.).
  9. Baum, Malerei und Plastik 245 u. Abb. 234.
  10. Back, Jahrtausend 50 u. Abb. 12.
  11. Hege/Weigert, Kaiserdome 53 u. Abb. 87.
  12. Kautzsch, Dom Taf. 71.
  13. Schmitt, Bildwerke 260f.
  14. H. Feldbusch, Art. Daniel, in: RDK 3 (1954) Sp. 1038 u. 1040 Abb. 4.
  15. G. Wacker, Die ikonographische Untersuchung zur Darstellung Daniels in der Löwengrube. Phil. Diss. Marburg 1954, Abb. 178.
  16. Illert, Worms im wechselnden Spiel der Jahrtausende Abb. Nr. 15.
  17. J. Baum, Zwölf deutsche Dome des Mittelalters. Aufnahmen von H. Schmidt-Glassner. Zürich 1955, Abb. 36.
  18. E. Steingräber, Deutsche Plastik der Frühzeit. Aufnahmen von H. Schmidt-Glassner (Die Blauen Bücher 1) Königstein/T. 1961, Abb. 79.
  19. Von der Reichsstadt zur Industriestadt 146 Nr. 94.
  20. Illert, Worms 37f. Nr. 8.
  21. Backes/Caspary/Dölling, Kunstwanderungen Abb. 67.
  22. Doberer, Romanische Skulpturen 138 u. Taf. 8a u. 9.
  23. Villinger, Dom zu Worms 11f. u. Abb. S. 14.
  24. Hotz, Dom 77 u. Abb. 32.
  25. Hootz, Kdm. Rheinland Abb. 322.
  26. Englert, Dom Abb. S. 2.
  27. v. Winterfeld, Dom 65 mit Abb.
  28. Großmann, Baugeschichte 307.
  29. Hotz, Wormser Bauschule 97.
  30. Fuchs, Wormser Inschriften 86 u. Abb. 33.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 21 (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0002107.