Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 362† Worms, Pfauenpforte E.15.-A.16. Jh.?

Beschreibung

Kurze Namensbeischrift auf einem Quaderstein hoch oben an der Pfauenpforte,1) auf der der Stadt abgewandten südlichen Seite der Befestigung unter einer Sonnenuhr, über einem Fenster; nach Hammans Zeichnung unter einem Erker.2)

Nach Reisel.

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis?

  1. SPECVLA VA(N)GIONV(M)a)

Übersetzung:

Warte der Wormser.

Kommentar

Die Datierung und damit die Bedeutung der Inschrift bereiten erhebliche Schwierigkeiten; als Anhaltspunkte können dienen die freilich dürftigen Bemerkungen zum Aussehen und zur Schrift, der Terminus „Vangiones“, wenn man nichtrömischen Ursprung annimmt,3) und funktionale Vergleiche. Es ist zudem nicht bekannt, ob die beiden Worte die gesamte Inschrift in ihrem ursprünglichen Wortlaut wiedergeben.

„Mit alten Buchstaben“,4) „mit alten großen Buchstaben“,5) „fere longis litteris“,6) „mit sehr langen Buchstaben“,7) „antiquae sunt litterae capitales“ beziehungsweise „antiquae litterae hac forma“8) wurde die Schrift von Autoren charakterisiert, die als normale Monumentalschrift die Kapitalisschrift des 16. und 17. Jahrhunderts ansahen. Bernhard Hertzog bezeichnete diese regelmäßig als „lateinische Universalbuchstaben“.9) Alle Berichterstatter, die die Inschrift aus eigener Anschauung kannten, hielten es also für notwendig, die Schriftformen grob zu beschreiben und damit zumindest Abweichung von den ihnen geläufigen Formen zu bekunden. Salomon Reisels „litterae capitales“ weist jedoch auch nur auf Versalien, da er auch die römerzeitlichen Inschriften, die 1484 im Bischofshof aufgestellt worden waren, nur allgemein als „litterae majusculae“ charakterisiert.10) Als Alternativen bieten sich daher an die römische Actuaria und eher eine noch von gotischen Einflüssen verfremdete, schlanke frühhumanistische Kapitalis vor und um 1500. Aus den Nachzeichnungen aus einer verlorenen Wormser Handschrift mit den Abschriften Reisels ist zudem eine Version bekannt, die ausdrücklich mit „litterae hac forma“ charakterisiert als Text SPECVLA · WAGIONV(M) (N und V verschränkt) angibt.11) Wenn diese Wiedergabe stimmt, ließen sich die Varianten bei Hertzog und Zorn erklären; andere Wiedergaben in quasi klassischer Form sind dann als Umsetzung aus einer römischen Identifizierung zu deuten, die von falsch verstandenen Formen und der Bezeichnung „Vangiones“ rührt. Unter der Voraussetzung, daß die Beobachtungen Reisels stimmen und die übrigen Schriftcharakterisierungen eine Datierung um 1500 stützen, kann auf Grund anderer Materialien in jener Zeit eine Bestätigung gesucht werden.

Der Name „Vangiones“ für die früheren Bewohner der Stadt war das ganze Mittelalter hindurch geläufig gewesen und wurde gerade als namengebende Wurzel für „Worms“ und als neue Bezeichnung seiner Einwohner um 1500 mehrfach genannt.12) Schon Kraus verglich daher die Inschrift am Pfauenturm funktional mit den Mainzer Zinnensteinen, die den Umfang der von umliegenden Orten mit Bergerecht in der Stadt Mainz zu unterhaltenden und zu besetzenden Mauerabschnitte bezeichneten.13) Die Wormser Inschrift müßte dann in einer Zeit angebracht worden sein, in der die Pfauenpforte gebaut, instandgesetzt wurde oder die Stadtbefestigung und die mit ihr zusammenhängenden Pflichten in der Öffentlichkeit eine Rolle spielten. Nach der Bischof Thietlach (†914) zugeschriebenen Mauerbauordnung14) erfährt man kaum etwas über konkrete Befestigungsmaßnahmen der Stadt, wenn man von Regulierungen zur Unterhaltung des Stadtgrabens 1321 absieht;15) erst die Zeitenwende liefert wieder einen konkreten Anhaltspunkt im sogenannten „Memorial über die Organisation des Kriegswesens der Stadt Worms“, das kurz nach und in ursächlichem Zusammenhang mit dem Auszug des Klerus 1499 geschrieben wurde und konkrete Vorschläge zur Wahrung und Verbesserung der Verteidigungskraft der Stadt macht.16) Darunter zählt der anonyme Autor auch die Organisation des Wachdienstes und Vorkehrungen zu Verstärkung und Ausbesserung von Mauern; die Empfehlungen an den Rat der Stadt fallen mit einer Zeit innerer und äußerer Bedrohung zusammen, in der eine inschriftliche Fixierung von Zuständigkeiten an der Stadtmauer gut denkbar ist. Nach der Mauerbauordnung, deren Geltungsdauer man freilich nicht kennt, waren für den Mauerabschnitt zwischen Rheinturm und Pfauenpforte „urbani, qui Heimgereiden vocantur“ verantwortlich, also Bewohner der Kernstadt; bezeichnenderweise teilte eine Wormser Chronik vom Anfang des 16. Jahrhunderts die Stadt in drei Teile, von denen einer „Vangie“ geheißen habe, und auch andere Inschriften aus dem bürgerlich-städtischen Bereich jener Zeit knüpften bewußt an die „Vangiones“-Tradition an.17)

Aus der Zusammenschau von Schriftcharakterisierungen, Nachzeichnungen Reisels, funktionaler Deutung und Einordnung in historisierendes Denken städtischer Kreise wurde oben die Lesung eines Textes versucht, der an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert entstanden sein könnte. Die früher fast durchgängige römerzeitliche Datierung einer Spolie kann damit nicht zweifelsfrei widerlegt werden; allerdings ist heute davon auszugehen, daß keine römische Stadtmauer in Worms existierte und Befestigungen zum Kastell gehörten.18) Die Inschrift an der Pfauenpforte ist auch nicht mit der Benennung von Toren nach zur jeweiligen Seite hin liegenden Städten zu vergleichen; eine „Wormser Warte“ lag etwa im Norden der Speyerer Stadtmauer.19)

Textkritischer Apparat

  1. SPECVLA WAGIONV(M), N und V verschränkt, in einer Nachzeichnung aus Reisel im Nachlaß Kranzbühler 7; SPECVLA WANGIONVM Hertzog, Zorn; alle anderen SPECVLA VANGIONVM.

Anmerkungen

  1. Lokalisierung bei Hertzog u. Zorn; da schon verschollen Schannat ungenau „Porta Pavonum vulgo Viehe-Thorr“; Reisel suggeriert, daß die Pfauen- oder Frauenpforte fälschlicherweise zu seiner Zeit schon Vieh-Tor genannt worden sei. Das Vieh-Tor lag aber unweit der Pfauenpforte am äußeren Mauerring; zur Lage vgl. Armknecht 64. Über der Bezeichnung „Frauwenthurm“ steht schon 1550 bei Sebastain Münsters Stadtbild von Worms „Specula Vangionum“. Im Plan Peter Hamanns von 1690 heißt der betreffende Turm „Pfauwpforte“, vgl. die Abbildungen bei Kranzbühler, Verschwundene Wormser Bauten Abb. 1 u. 3. „Pfaw-Thurn“ ist die Bezeichnung in der offiziellen Begutachtung der Stadtmauer 1686, vgl. F.M. Illert, Vor dem Ende der wehrhaften Stadtbefestigung, in: Der Wormsgau 2,5 (1941) 312f.
  2. Reisel; Reuter.
  3. Von Brambach unter die Spuriae gezählt, dagegen Kraus und Becker. Als römisches Relikt aufgefaßt bei Zorn, Freher, Schopp in Weckerling, Reisel, Schannat.
  4. Hertzog.
  5. Zorn.
  6. Freher.
  7. Zeiller.
  8. Reisel 71 u. Abschrift im Nachlaß Kranzbühler 7.
  9. Etwa I 2 fol. 230v zum Heppenheim-Epitaph, Nr. 470 (1559).
  10. Reisel 66v.
  11. Spitzes A mit breiter Trabs, W als verschränkte V, Kürzung als Siculus; Beleg wie Anm. a. Spätmittelalterliche Entstehung oder Humanistenhand vermutete auch Christ wohl aufgrund der Schriftbeschreibungen.
  12. Etwa Chronicon Wormatiense saeculi XV 3ff., Vita sancti Eckenberti bei Boos, Quellen III 129 u. Auszüge aus einer alten deutschen Chronik bei Boos, Quellen III 203; inschriftlich bezeugt in den Königs- und Kaiserinschriften, vgl. Nr. 333f.
  13. Vgl. Kraus und DI II (Mainz 1958) Nr. 668; ebenso Christ 75, zustimmend F. Beyerle, Zur Wehrverfassung des Hochmittelalters, in: Festschrift Ernst Meyer zum 70. Geburtstag. Weimar 1932, 46.
  14. Text bei Boos, Quellen III 223f.
  15. Boos, UB II 118f. Nr. 169.
  16. Boos, Quellen III 351ff.
  17. Boos, Quellen III 203 u. Inschriften wie Anm. 12.
  18. Grünewald, Römer in Worms 71-73.
  19. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz 1. Stadt Speyer, bearb. von H. Dellwing. Düsseldorf 1985, 34f. mit Abb. u. Inschrift von 1451.

Nachweise

  1. Hertzog, Beschreibung I 2 fol. 197.
  2. Schopp s. unten Weckerling.
  3. Zorn-2 fol. 1.
  4. Zorn, Chronik bei Arnold 12.
  5. M. Freher, Originum Palatinarum liber II. Heidelberg 1612, 71.
  6. Zeiller, Itinerarium Germaniae 311.
  7. M. Zeiller, Topographia Palatinatus Rheni et Vicinarum Regionum. Das ist Beschreibung und Eigentliche Abbildung der Vornemsten Stätte, Plätz der Untern Pfaltz am Rhein und Benachbarten Landschafften, als der Bistümer Wormbs und Speyer, der Bergstraß, des Westerreichs, Hundsrücks, Zweybrüggen etc. Frankfurt 1645; Faks. der 2. vermehrten 1672 erschienenen Auflage Kassel 1963, 97.
  8. Reisel, Monumenta et inscriptiones 71 u. Abschrift in Nachlaß Kranzbühler, StA Worms, Abt. 150 Nr. 97, S. 7.
  9. Reuter, Hamman 80f. Nr. 14 (Nachzeichnung).
  10. Schannat, Hist. ep. Worm. I 4.
  11. Rheinischer Antiquarius 482.
  12. Brambach, Corpus inscriptionum Rhenanarum App. 363 Nr. 39.
  13. I. Becker, Corpus inscriptionum Rhenanarum consilio et auctoritate societatis Antiquariorum Rhenanae edidit Guilelmus Brambach. Praefatus est Fridericus Ritschius MDCCCLXVII. Elberfeldae in aedibus Rudolphi Ludovici Friderichs XXVI u. 390 S. 4°, in: Jbb. d. Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande 44/45 (1868) 243.
  14. Weckerling, Römische Abteilung II 10 (aus Marginalie zum Brief des Neuhausener Rektors Konrad Schopp an den Heidelberger Bibliothekar Jan Gruter von 1603, aus Vatikanischer Bibliothek, Cod.Pal.Lat. 1907 fol. 74).
  15. Kraus, Christliche Inschriften II 125 Nr. 264.
  16. Christ, Borbetomagus 75 u. 44.
  17. Armknecht, Wormser Stadtmauern 60.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 362† (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0036209.