Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 331 Worms, Hauptfriedhof, Hochheimer Höhe, vom Amandusfriedhof(?) 1493

Beschreibung

Meisterinschrift und Kreuztitulus. Großes Kruzifix aus hellgelbem Sandstein mit dreisprachigem, teils spiegelverkehrtem, wie ein Pergamentblatt weich überhängendem Titulus (A), sechszeiliger Inschrift des Meisters Thomas knapp über dem Fuß (B), unter dem Titulus Jahreszahl (C), darüber zwei achsensymmetrische t, wohl anzusehen als Steinmetzzeichen, Nr. 5. Als Sockel ein Steinhaufen, besät mit Knochen, an denen eine Ratte und ein Fuchs/Hund/Wolf nagen, des weiteren kriechen da Eidechsen, Schlangen und Kröten umher. Darunter ein zweistufiger, übereck gestellter Unterbau, an den abgeschrägten Ecken Totenköpfe, an den Längsseiten Gebeine. Leicht verwittert.

Maße: H.(Kreuz) 340, B.(Arm) ca. 180, H.(Feld) 33, B. 29, Bu. 2,5 (B).

Schriftart(en): Hebräische Schrift, Griechische Versalien und Kapitalis spiegelverkehrt (A). Gotische Minuskel (B).

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Dr. Rüdiger Fuchs) [1/2]

  1. A

    יהשוע נזאריניa)I(HCY)C NAZAPENYC Rb)I(ESV)S NAZARENVS REc)

  2. B

    Completum / est hoc opus p(er) / magistr(um) thom/an statuarium / sub anno salut(is) / m cccc xciij

  3. C

    1 · 4 · 9 · 3 ·d)

Übersetzung:

Jesus von Nazareth, König. – Vollendet wurde dieses Werk durch Meister Thomas, Bildhauer, im Jahr des Heils 1493.

Kommentar

Für die ungewöhnlichen spiegelverkehrten Inschriften des Titulus wurden schon unbeholfene Kapitalisbuchstaben benutzt, die in ihrer Schlankheit stark vom klassischen Ideal abweichen und bei den kleinen, abgesetzten Bögen von P und R, eingerollten Enden von C, E und S, rundem E und gegenläufigem Z im griechischen Text bizarre Formen ohne Parallelen und Vorbilder in Worms und Umgebung aufweisen, die auch nicht durch die Mischungstendenzen bei gotischen Majuskeln und Bastardkapitalen zu erklären sind;1) die Verfremdung durch die östlichen Schriften wird dadurch jedenfalls unterstrichen. Die Anbringung des griechischen und hebräischen Wortlautes, hier sogar in chronologischer Reihenfolge, war leicht mit der Überlieferung bei Lukas 23,38 und Johannes 19,19-20, wo es bei letzterem heißt „JESUS NAZARENUS REX JUDAEORUM“, zu begründen und griff zurück auf die ebenfalls bei Johannes genannten und im ganzen Mittelalter propagierten „tres linguae sacrae“ aus Isidor von Sevilla.2) Keine der drei Versionen entspricht gelehrter Anwendung von Text und Form: Außer der Verkürzung und spiegelschriftlichen Darstellung sind ungewöhnliche Schreibweisen des hebräischen Textes und Umsetzungsprobleme für den griechischen zu bemerken; statt des griechischen Wortlautes wird nur eine Übersetzung des lateinischen in ein griechisches Alphabet angestrebt, im letzten Buchstaben der Continua, R, aber verfehlt. Die Minuskeln der Meisterinschrift enthalten C-Versalie und a mit Mittelbalken wie zeitnahe Schlußsteine und Grabplatten von 1483 und später.

Die Inschrift zur Fertigstellung des Kruzifixes durch den Bildhauermeister Thomas ist der einzige Beleg für diesen Künstler, der mindestens in der Werkstatt des Meisters der Wormser Grablegung Anregungen empfing. Da er wegen der fehlenden, sonst aber sehr verbreiteten Herkunftsangabe zum Vornamen wohl aus der näheren Umgebung stammte, könnte er zu Arbeiten am Kreuzgangrelief hinzugezogen worden sein; denkbar wäre auch, daß er eine Produktion aus jener Werkstatt nur vollendete, wie ja die Inschrift auch nur davon spricht. Die Ausführung und Einzelheiten der naturalistischen Körpergestaltung lassen zwar an Verbindungen mit hochqualifizierten Werkstätten am Mittelrhein und Worms denken, doch stellt das Kruzifix nicht das heute verlorene aus dem Reliefzyklus des dalbergischen Kreuzganges dar.3) Vielmehr ist es wohl mit einem Kruzifix zu identifizieren, das von der Familie Altheim für den Amandusfriedhof gestiftet worden war, denn der ehemalige Amandusfriedhof der Wormser Katholiken ist zugleich der älteste bekannte Standort des Kruzifixes, das nach 1840 auf den Eisenbahnfriedhof und 1909 ohne große Beschädigungen zur Hochheimer Höhe verbracht worden war.4)

Ein Titulus mit durchaus vergleichbarer, spiegelverkehrter Gestaltung und dreisprachiger Inschrift ist in Osnabrück vom Anfang des 16. Jahrhunderts überliefert.5) Daß griechischer und lateinischer Text oft auch von rechts zu lesen sind, mag aus einer Anpassung an den hebräischen abzuleiten sein, wie auch eines der prominentesten Beispiele, das Florenzer Kruzifix Michelangelos von 1494(!), zeigt.6) Das Wormser Exemplar steht stilistisch in der Nachfolge des Baden-Badener Kruzifixes von Niclaus Gerhaert von Leyden (1467),7) das auch in der Vermittlung van Eyckscher Dreisprachentituli traditionsbildend wirkte.

Textkritischer Apparat

  1. Schreibschriftlich, nicht in der für Inschriften üblichen Quadratschrift. Herrn Dr. T. Kwasman, Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg, und Herrn Manfred Maier, StA Worms, ist für Transskriptionshilfen zu danken. Der ungewöhnlich mit Jeh(o)schua beginnende Titulus, wie in den beiden anderen Sprachen gekürzt, stammt nicht von der Hand eines mit hebräischen Schriftzeichen Vertrauten: die Weiterführung zu melech jehudim fehlt.
  2. Spiegelverkehrt außer Z, Kapitalisformen; in griechischen Buchstaben lateinischer Text verkürzt.
  3. Ebenso spiegelverkehrt und Text verkürzt.
  4. Irrtümlich 1483 Schmitt, der daraus eine Zeitdifferenz zwischen Stiftung und Ausführung ableitete.

Anmerkungen

  1. Vgl. oben S. LXIIIff.
  2. Isidor von Sevilla, Etymologiae IX 1,3 u. Ch. Hannick, Dreisprachenhäresie, -doktrin, in: LdM 3 (1985) Sp. 1392f.
  3. Schmitt mit Einzelheiten der Beschreibung und Ausblick zur Mainzer Plastik. Über die Zerstörung des Kreuzgangkruzifixes weiß man aus den Berichten zu 1689, vgl. Seidenbenders Wahrhafftige Erzählung bei Oncken, Authentische Erzählung 393.
  4. Kraus, Quellen II 125, Bemerkung zum 1541 gewählten Mitglied des Gemeinen Rates Heinrich „Althenn“ (bei Zotz, Nachrichten 23 „Altheim“): „Die Althenne haben das steinen crucifix uff S. Amundi Kirchhof erigirt“. G.F. Gropp, Der Wormser Friedhof auf der Hochheimer Höhe und seine Erweiterung, in: Heimat am Rhein (1927) 9f.
  5. DI XXVI (Osnabrück) Nr. 86.
  6. Propyläen Kunstgeschichte 8. Die Kunst des 16. Jahrhunderts, von G. Kauffmann u.a. Berlin 1970, Abb. 194.
  7. Ohnmacht 26f. u. 153ff.

Nachweise

  1. O. Schmitt, Meister Thomas von Worms, in: Vom Rhein 12 (1913) 65f.
  2. Dehio/Gall 91.
  3. M. Ohnmacht, Das Kruzifix des Niclaus Gerhaert von Leyden in Baden-Baden von 1467. Typus-Stil, Herkunft-Nachfolge (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28: Kunstgeschichte 2) Bern/Frankfurt a. M. 1973, 153ff., Abb. 169.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 331 (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0033106.