Inschriftenkatalog: Stadt Worms

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 29: Worms (1991)

Nr. 318 Dom, innen, aus Kreuzgang um 1488/1570

Beschreibung

Bildbeischrift und Renovierungsvermerk am Relief der Grablegung Christi. Innen an der Wand des nördlichen Seitenschiffs im zweiten Doppeljoch von Westen, im 19. Jahrhundert in der Nikolauskapelle, aus dem Domkreuzgang, wohl ursprünglich im Westflügel.1) Großes Relief aus hellgelbem (Tiger?) sandstein mit Bildbeischrift (A) und Vermerk der Renovierung (B), beide wohl gemalt, die Inschrift A in dem freien Feld des Sarkophags unter einer hängenden Kreuzleiste, B darunter, vielleicht ehemals auf dem weit zurückspringenden Sockel. Unter schwach gespitztem Bogen figurenreiche Szene der Grablegung. In den langen parallel zum Reliefgrund stehenden Sarkophag betten Joseph von Arimathia links und Nikodemus rechts den vom Kreuz genommenen Heiland, der dem Betrachter fast frontal zugekehrt ist und nackt auf einem Bahrtuch liegt; die beiden Träger knien hinter dem Sarg. Zwischen ihnen über den Leichnam gebeugt trauernd der Jünger Johannes und die drei Frauen.2) Flankiert wird die Szene links von dem auf einem vorkragenden Sockel knienden Stifter und rechts von Maria Magdalena mit dem Salbgefäß hinter dem Stifterwappen auf einem entsprechenden Sockel, beide Figuren stark ergänzt. Ganz außen jeweils Prophetenfiguren, rechts mit Gewandsauminschriften (C), beide für den unter Baldachinen verfügbaren Raum deutlich zu klein. Die Betonung waagerechter Linie im Vordergrund gleichen das den Hintergrund beherrschende leere Kreuz, an dem noch die Leiter lehnt, und die übergroßen Figuren der Schächer aus. Die Kehle des alles überspannenden Bogens ist ausgefüllt mit vier geflügelten Engeln, die auf reich durchbrochenen Astwerkbaldachinen sitzen; im Scheitel eine von Maßwerk gestützte Astwerkkonsole, deren Figur verloren ist. Seitlich der Kreuzesszene die Andeutung bebauten und bewaldeten Landes. Starke Ergänzungen an Gliedmaßen und Zierelementen, Rückwandquader, Vorderseite des Sarkophags und Gesimse erneuert,3) erhalten nur die erhabenen Gewandsauminschriften.

A und B nach Hertzog.

Maße: H. ca. 420, B. 407, Bu. 2,2-2,7 cm (C).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis, erhaben (C).

  1. A

    Christus, Deus et homo,a) non in angulo aut occulto quopiam loco, non etiam obscuro vel tempore vel malo est defunctus, sed in lignob) sublime sublatus, gentibus simul et Judaeis spectantibus, et quidem in loco atque die celebri et insigni festi Paschae.c) Nec minime sepulchrum illi magnificum fuit, quippe opulenti et novum nuperque adeo in lapide excisum hominis;d) et ut mors et sepultura Christi irrefragabilem fidem sunt consequutaee), ita deceat resurrectionem firmam indubitatamque credulitatem astruere.f) Niceph. Cal. 1. Cap. 32.

  2. B

    Renovatum 30 Augusti A(nn)o 1570

  3. C

    · N / M · / I · [W] (Brustpartie des Mantels)W · S · (linker Oberarm)· F · (linker Unterarm)· E · A · O · D · C · W

Übersetzung:

(Aber) Christus, Gott und Mensch, starb nicht in einem Winkel oder an irgendeinem geheimen Ort, auch nicht zu unbekannter Zeit oder an einem unbekannten Übel, sondern am Holz erhaben emporgetragen, den Heiden und Juden gleichermaßen vor Augen, und zwar an einem berühmten und ausgezeichneten Ort und Tag, (beschloß er sein Leben) nämlich am Paschafest. Auch erhielt er kein weniger prächtiges Grab, nämlich das neue eines reichen Mannes, das erst kurz zuvor aus dem Stein gehauen worden war. Und wie der Tod und das Begräbnis Christi (an dem sichtbaren Ort geschehen) den widerspruchslosen Glauben vollendet haben, (folgt daraus:) es geziemt sich, (seine) Auferstehung, (zur Errichtung des Glaubens, für etwas Sicheres und Unbedingtes anzunehmen, damit auf jede würdige und geeignete Weise) sichere und unzweifelhafte (Überzeugung und) Glaube darauf aufgebaut werde. Nikephoros Kallistos 1. Buch, Kap. 32. Erneuert am 30. August 1570.

Wappen:
Enolff(i).

Kommentar

Die erhabenen Buchstaben auf den Gewandsäumen des rechten Propheten gehören eindeutig zu einer Form der frühhumanistischen Kapitalis, insbesondere das spitze A mit sehr hoch angesetztem gebrochenem Mittelbalken und ausladender Trabs und das nicht geschlossene, unziale D, das wie die anderen Buchstaben keinerlei Schwellungen mehr aufweist, morphologisch also nicht mehr an die von der Kapitalis nur beeinflußten Übergangsschriften aus der gotischen Majuskel angelehnt ist.4) Die Anbringung von Buchstaben auf dem Gewandsaum erweist die Figur nicht als Meister, wie auch die linke nicht einen mürrisch die Szene betrachtenden Juden darstellt.5)

Ob auch das angebliche Zitat aus der Kirchengeschichte des Nikephoros Kallistos gen. Xantopoulos († um 1335) aus der Entstehungszeit des Reliefs stammt, ist mehr als zweifelhaft, da jenes Werk erst 1553 in lateinischer Übersetzung gedruckt vorlag.6) Die Varianten zur Übersetzung des Johannes Lang beruhen auch nicht auf einer eigenen Wormser Textschöpfung, da wörtliche Übereinstimmung längerer Passagen eine eindeutige Abhängigkeit erweist; vielmehr handelt es sich um eine Adaptation, deren Wortlaut nicht zuverlässig überliefert sein muß. Thematisch steht das Zitat aus Nikephoros zwischen Grablegung und Auferstehung, die gemäß seiner Kapitelüberschrift bewiesen werden soll; als Ausgangspunkt nahm der byzantinische Autor die bekannten Umstände vom Tod Christi und Bestattungsnachrichten, deren nähere Beschreibung jedoch nicht übernommen ist.

Das Relief gehört zur Ausstattung des Dalbergischen Kreuzgangneubaues und steht im soteriologischen Programm der Wurzel Jesse gegenüber;7) wie jenes stammt es noch aus der ersten Bauphase und wird vor dem Tod des Stifters Johannes Enolff(i) von Lahnstein (†1491),8) also auch um 1488 datiert.7) Einig ist sich die kunsthistorische Forschung über die oberrheinisch-elsässischen Grundlagen des Grablegungsmeisters; die schon früh gesehenen Bezüge zu Meister Hans Seyfer aus Heilbronn haben sich mittlerweile zu einer Zuweisung verdichtet, wenngleich natürlich angenommen werden muß, daß mehrere Hände an dem Werk gearbeitet haben und neuerdings auch der Wormser Meister Hans Bilger in Betracht gezogen wird.9) Der Kopf des Nikodemus wurde von den Wormser Bildschnitzern Peter Schanz und Michel Silge beim Chorgestühl in Büdingen 1497-99 kopiert,10) ein sicherer Hinweis auf die frühe Entstehung der Grablegung.

Textkritischer Apparat

  1. Atque equidem Deus ipse, idemque homo Nikeph. Kal. nach der Ausgabe von 1630, wie Anm. 6.
  2. So ebd. statt lingo bei Hertzog u. Schmitt.
  3. Danach vitam finiit. Nec minus sepulchrum Nikeph. Kal.
  4. hominis quippe opulenti, et novum, nuperque adeo in lapide excisum. Quale et funus, ipsaque sepultura fuit. Aloe siquidem et myrrha admodum commistae corpus mortuorum sindone et linteis exceptum complectebantur, atque artissime continentes, usque adeo constringebant, ut omnia ea corpus unum existimarentur, quod quovis glutine ea quae diximus aromata, cuicunque jungantur rei, arctius potentiusque eam constringere possint. Et quemadmodum mors et sepultura Christi... ebd.
  5. persequutae Schmitt.
  6. irrefragabilem in conspicuo peractae loco fidem sunt consecutae, itidem sane consequens erat, decebatque resurrectionem eius, ad fidem faciendam, certum quiddam absolutumque habere, ut omnibus modis firmam indubitatamque dignis et idoneis persuasionem credulitatemque astrueret. Nikeph. Kal.

Anmerkungen

  1. Schmitt nach Hertzog.
  2. Die Identifizierung der Frauen bisweilen verwirrend; aus den Evangelien Mt. 27,56, Mk. 15,40, 16,1 ist folgendes zu rekonstruieren: Johannes mit Maria, Maria, der Mutter des Jakobus und Josephs, und Salome am Grab, rechts Maria Magdalena mit dem Salbgefäß.
  3. Schon im Vorkriegszustand, vgl. Schmitt.
  4. Vgl. oben S. LXIIff.
  5. Vor methodisch bedenklicher Suche nach Kryptogrammen in Gewandsauminschriften warnte W. Arnold, Gemälde-Inschriften, in: Pantheon 34 (1976) 116-120. Gegen die Deutungen der Personen bei Falk, Bildwerke 9 schon Tiemann 46 u. Schmitt 290.
  6. Nikephoros Kallistos Xanthopulos, Ecclesiasticae Historiae libri XVIII, hg. bei Migne, PG 145. Paris 1865, Sp. 726. Lateinische Übersetzung von Johannes Lang in Basel 1553 erschienen. Dem Druck bei Migne liegt eine französische Ausgabe von 1630 zugrunde, die die Übersetzung Langs und die Kollation des griechischen Textes durch den Jesuiten Ducaeus enthält.
  7. Hotz, Wormser Kunst 30.
  8. Vgl. Nr. 323.
  9. Die ältere Zuschreibung bei Klingelschmitt, Magister Valentinus 91f. an Hans Backoffen nach 1491 hat sich nicht erhärten lassen; gegen Hans Seyfer Vöge, Konrad Meits Jugendwerke 34 Anm. 4, Tiemann u. Schmitt. Nach Schnellbach, Werke des Hans Syfer 107ff. in dessen Jugend- und Reifezeit; ders., Spätgotische Plastik 172 schrieb ihm die Hauptfiguren zu. Ihm schlossen sich an Reinhardt, Bildhauer Konrad Sifer; H. Fleischhauer, Zu Hans Syfer, in: Form und Inhalt. Festschrift für Otto Schmitt. Stuttgart 1950, 203; Zimmermann, Syfer 41f. (Maria und Konzeption); Hotz, Dom 143. Hauck, Conrad Sifer 189f. und Seeliger-Zeiss, Lorenz Lechler 81 sahen jenen als Hauptmeister, ohne sich zwischen Hans und Conrad entscheiden zu wollen; Hotz, Wormser Kunst 30 zu Hans Seyfer oder eventuell doch Hans Bilger.
  10. Tiemann 50.

Nachweise

  1. Hertzog, Beschreibung I 2 fol. 237 Nr. XXV (A,B).
  2. Kdm. Worms 196 (C) u. Abb. 99.
  3. Schnellbach, Werke des Hans Syfer Abb. S. 105.
  4. Tiemann, Beiträge Taf. 17.
  5. Kautzsch, Dom Taf. 120-122.
  6. Schmitt, Bildwerke 304 Nr. 27 (A,B), 290 Anm. 51 (C).
  7. Illert, Worms Abb. 22f.
  8. Hauck, Conrad Sifer Abb. 38a.
  9. v. Winterfeld, Dom Abb. S. 77.

Zitierhinweis:
DI 29, Worms, Nr. 318 (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di029mz02k0031803.