Inschriftenkatalog: Stadt Wiesbaden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 51: Wiesbaden (2000)

Nr. 91(†) Wiesbaden, Museum und Altes Rathaus 1609, 1610

Beschreibung

Bauinschrift, Spruchinschriften und Namenbeischriften (Tituli) an verschiedenen Teilen des Rathauses. Sofern die Rekonstruktionszeichnung von 18611) zuverlässig ist, waren in der unteren Zone des Fachwerkobergeschosses inklusive der Erker hölzerne Tafeln und Reliefs angebracht. Auf zwei Rollwerktafeln stehen in zwölf und dreizehn Zeilen eine Ehreninschrift auf den Stadtherrn (A) und die Bauinschrift der Stadt (B). Neun weiteren Holztafeln mit ovalen und runden Medaillons sind Flachreliefs der drei christlichen (C-E) und der vier bürgerlichen Tugenden (F-I) sowie des nährenden Pelikans (J) mit dem landesherrlichen Wappen und des Vogels Phönix (K) mit dem Wappen der Stadt in Kombination mit dem Nassauer Stammwappen aufgelegt. Nach der erwähnten Zeichnung ergibt sich folgende Reihenfolge, jeweils von links gezählt: auf den Erkern Pelikan (J) und Phönix (K), Fides (C), Schrifttafel (A), Spes (D), Caritas (E), Justitia (F), Fortitudo (G), Temperantia (H), Schrifttafel (B), Prudentia (I). Diese elf Holztafeln sind beim Abbruch des Fachwerkgeschosses 1829 abgebaut worden und kamen 1859 als Geschenk des Gemeinderats an den Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung in das Wiesbadener Museum, wo sie heute in der SNA, Schausammlungen, gezeigt werden.2) An ihrer Stelle wurden im anschließend massiv erneuerten Obergeschoß Nachempfindungen aus Stein mit deutschsprachigen Inschriften eingesetzt. Im steinernen Erdgeschoß des Gebäudes befindet sich links vom Haupteingang der in Sandstein gehauene Wappenstein mit dem städtischen Wappen und der Jahreszahl (L); rechts hing der Pranger mit Ketten, Halseisen und einer Spruchinschrift auf einer Sandsteintafel (M). Die Tafeln sind modern farbig gefaßt, die Buchstaben mit goldener Farbe ausgemalt, bei (A, B) stehen goldene Buchstaben auf braunem Grund.

Nach Rossel (M).

Maße: Tafeln (A, B) H. 81, B. 64, Bu. 3 cm; Tafeln (C-I) H. 79,5, B. 107, Bu. 3,5 cm; Tafeln (J, K) H. 81, B. 155, Bu. 5,5 cm; Tafel (M) H. ca. 20, B. ca. 60 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Dr. Yvonne Monsees) [1/6]

  1. A

    LVDWICVS MAGNVS, NASSOIA / GENTE CREATVS /EXCELSVS COMES ET PONTIS SARAE / INCLVTVSa) HEROS, /SARWERDAEQVE COMES, LAHRAE / DOMINATOR IN ORIS /WISBADIAEQVE NOVVS PATER / IDSTENIIQVE DYNASTA /HVIVS STRVCTVRAE FVNDVM NO/STRAE DEDIT VRBI /HVIC VT VISIPETVMb) VETERVM / DECVS ADDERET VRBI.

  2. B

    CVI NVNC IMPOSVIT PROPRIO AERE / MANVQVE SENATVS, /ET POPVLVS DOMINO GRATVS, QVAM / CONSPICIS AEDEM. /VT SIT IVSTITIAE SEDES AC IVRIS / ASYLVM, /HANC SERVET SARTAM QVI REGNAT / TRINVS ET VNVS. /M(AGISTER), FRID(ERICVS) WEBER, THERMOPHILVS / FACIEBAT. / EXTRVEBATVR 27 TAG NOVEMB(RIS) / ANNO AERAE CHRISTIANAE / 1609.

  3. C

    FIDES

  4. D

    SPES

  5. E

    CHARI//TAS

  6. F

    IVSTITIA

  7. G

    FORTITV//DO

  8. H

    TEMPER//ANTIA

  9. I

    PRVDE(N)TIA

  10. J

    PILI//CAN

  11. K

    EDELE VOGELL PHENIX.

  12. L

    1610

  13. M†

    Guter Geselle du kommst zu spatSonst hätt ich gefolget deinem Rath.

Übersetzung:

(A) Ludwig der Große, aus nassauischem Geschlecht entsprungen, der erhabene Graf und Saarbrückens berühmter Held, Graf von Saarwerden und Herrscher in Lahrer Gefilden, Wiesbadens neuer Vater und Idsteins Dynast, hat unserer Stadt den Grund und Boden für dieses Bauwerk geschenkt, um der Stadt der alten Usipeter diese Zierde hinzuzufügen. – (B) Auf welchem [Grund und Boden] mit eigenem Geld und Hand der Rat und das Volk, dem Herrn dankbar, dieses Haus errichtet haben, das Du siehst, damit es der Sitz der Gerechtigkeit und des Rechtes Zuflucht sei. Dieses möge wohlgebaut bewahren der, welcher dreifach und einzig herrscht. Magister Friedrich Weber, der Liebhaber der warmen Quellen, hat dies gemacht. Es wurde gebaut am 27. November im Jahre 1609 der christlichen Zeitrechnung.3) – (C) Glaube. – (D) Hoffnung. – (E) (Nächsten)Liebe. – (F) Gerechtigkeit. – (G) Stärke. – (H) Mäßigung. – (I) Klugheit.

Versmaß: Sechs und vier Hexameter (A, B), Deutscher Reimvers (M).

Wappen:
Nassau-Saarbrücken4); Nassau/Stadt Wiesbaden5); Stadt Wiesbaden6).

Kommentar

Bei den großen Inschrifttafeln (A, B) sind die Versanfänge jeweils durch überhöhte Versalien gekennzeichnet. Die Kapitalisbuchstaben bieten insgesamt keine Auffälligkeiten, einzelne Ligaturen, vor allem bei AE, wurden verwendet. Durch die neuere Übermalung wurden freilich einzelne Buchstabendetails verdeckt.

Der Verfasser der Verse, der Mosbacher Pfarrer Friedrich Weber († 1626)7), stammte aus Idstein und gehörte vermutlich zu der dortigen Familie Weber, die im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert evangelische Geistliche und Schullehrer in Wiesbaden und Idstein stellte - etwa Magister Tobias Weber8), der 1607 Superintendent der Grafschaft war und dessen 1615 erbautes Wohnhaus in Idstein9) erhalten geblieben ist.

Die Allegorie des Phönix, der aus der Asche aufsteigt, steht für den Aufstieg der Stadt nach den großen Stadtbränden, der Pelikan, der seine Jungen nährt, dürfte als Anspielung auf die Gunst und den Schutz des Landesherrn zu interpretieren sein. Die Inschrift (M) am Pranger gehörte zu den an Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden zu findenden Inschriften, deren Texte auf die rechtliche Zweckbestimmung dieser Gebäude hinwiesen. Die hier mitgeteilte Inschrift ist als Leseranrede aufzufassen, die den Vorübergehenden darauf hinweisen soll, daß sein mutmaßlicher Hinweis auf gesetzkonformes Wohlverhalten zu spät kam, um das der öffentlichen Demütigung des am Pranger stehenden Delinquenten vorausgegangene Vergehen zu vermeiden. Ein vergleichbarer, verkürzter Wortlaut, nämlich DEIN RAHT VIEL ZV SPADT, findet sich zweimal in Kronberg, und zwar an dem um 1600 erbauten Haus „Zu den drei Rittern“ und von 1634 am Haus Tanzhausstraße 16.10)

Das Rathaus ist der Nachfolgebau des 1547 dem großen Stadtbrand zum Opfer gefallenen „gemeinen Hauses“, der sog. „(Schieß-)Hütte“.11) 1593 wurde eine Petition der Bürgerschaft an den Landesherrn mit der Bitte um Überlassung von Bauland zur Errichtung eines neuen Rathauses eingereicht, aber erst 1608 erhielt die Stadt die beiden leeren Plätze am Markt von Graf Ludwig geschenkt.12) Auf diese Schenkung nimmt Inschrift (A) Bezug. Am 27. November 1609 wurde der Bau dieses Rathauses begonnen. Als Architekt war Stadtbaumeister Valerius Baussendorff tätig, die Bauleitung lag in den Händen des städtischen Baumeisters (Johann) Anton Schöffer (Nr. 97), Holzskulpturen und die Schnitzereien der elf Holztafeln wurden von dem Straßburger Meister Hans-Jakob Schütterlin, die Steinmetzarbeiten von Cyriakus Flügel aus Mainz angefertigt.13) Nach der Fertigstellung lagerte man einen Teil der Stadtdokumente in den Neubau ein, der Rest verblieb im Uhrturmarchiv. Die weitere Geschichte des Baues ist verknüpft mit dem Schicksal der Stadt, die in den Jahren nach 1620 im Gefolge des Dreißigjährigen und später während des Siebenjährigen Krieges Besatzungen, Brandschatzungen und Plünderungen zu erleiden hatte.14) 1725 erfolgten erste Renovierungsarbeiten am Rathaus, das bis 1806 Gemeindezwecken diente. Danach wurde es zum Sitz des Polizeiamtes und des Landrats. Pläne zum Umbau des im Fachwerk baufällig gewordenen, nunmehr sogenannten Alten Rathauses führten dann 1829 zur Entfernung des gesamten Holzwerks im Obergeschoß, das durch einen Steinaufbau ersetzt wurde.15)

Textkritischer Apparat

  1. Sic! für INCLYTVS, so Winkelmann.
  2. Sic! Es handelt sich hier kaum um eine Variante von WISIBADVM, sondern um eine bewußte Anknüpfung an den Namen eines germanischen Volksstammes, den man aus Caesar und Tacitus als am Rhein lebend kannte. Die Ableitung des Namens Wiesbaden aus Usipetes bzw. Visipetes hatte wenige Jahre nach dem Rathausbau Philipp Weber in seiner Thermarum Wisbadensium descriptio 7-9 in Erwägung gezogen; vgl. auch Winkelmann 128f. Ausgangspunkt mochte die Schilderung der Mainzer Belagerung von 70 n. Chr. durch „mixtus ex Chattis, Usipis, Mattiacis exercitus“ (Tacitus, Hist. IV 37) gewesen sein.

Anmerkungen

  1. Brusberg 10, Abb. 3; vgl. ebd. 13 zur Entstehungsgeschichte der Bleistiftskizze.
  2. Inv.-Nr. 10956.
  3. Übersetzung Brusberg.
  4. Quadriert: 1. Nassau, 2. Moers, 3. Saarwerden, 4. Saarbrücken; Mittelschild gespalten von Geroldseck und Mahlberg (in Gold ein schwarzer Löwe).
  5. In Blau Wappenschild Nassau, begleitet von drei goldenen Lilien.
  6. In Blau drei goldene Lilien.
  7. Gensicke, Geschichte Biebrich 55.
  8. Vgl. Renkhoff, Nass. Biographie 850f., zu Tobias Weber ebd. 851 Nr. 4639.
  9. Vgl. DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nr. 570.
  10. Vgl. Bode, Kronberg im Taunus 32f.; zu dem Bildprogramm vgl. Ronner, Bildschmuck 368f.
  11. Vgl. den knappen Überblick bei Spille, Rathäuser 231 und ausführlich Brusberg 7ff.
  12. Brusberg, ebd. 11 zur Urkunde von 1608 August 25; vgl. auch Roth 413.
  13. Rossel 48-51; Brusberg 11.
  14. Vgl. Einleitung Kap. 1.
  15. Brusberg 31ff., hier 33; dort zur weiteren Nutzungsgeschichte besonders 34f. und 41, 47, 50, 53-55.

Nachweise

  1. Winkelmann, Beschreibung 129 (A).
  2. Schenk, Memorabilia 82 (A-B), Geschicht-Beschreibung 371.
  3. Rossel, Stadt-Wappen 46 (L, M), 47 (C-I, K).
  4. Roth, Geschichte Wiesbaden 414 (A-B, M).
  5. Luthmer, Bau- und Kunstdenkmäler (1914) 196-198 (m. Abb. 208-210) (C, E, G, I, J).
  6. Pfeiffer, Rathaus (A, B), 36 (M), Abb. III (A–L).
  7. Meuer, Überreste 61 (C–I, L).
  8. Müller-Werth, Das Wiesbadener Rathaus 6 (B teilw., L).
  9. Kleineberg, Holztafeln 7f. (A-B).
  10. Brusberg, Das alte Rathaus 6 (L, Abb.), 14 (M), 15 (C, Abb.), 16f. (D-G, Abb.), 18 (H-I, Abb.), 20f. (A, m. Abb.), 22f. (B, m. Abb.), 24 (J, Abb.), 25 (K, Abb.), 61 (C, Abb.).
  11. Wiesbaden. Geschichte im Bild 39 (B, Abb.), 38 (E, Abb.).

Zitierhinweis:
DI 51, Wiesbaden, Nr. 91(†) (Yvonne Monsees), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di051mz05k0009105.