Inschriftenkatalog: Stadt Trier I
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 70: Stadt Trier I (2006)
Nr. 71 Rhein. Landesmuseum, aus Trier-Pfalzel, St. Maria A. 11. Jh.-vor 1016(?)
Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]
Beschreibung
Grabplatte der Äbtissin Ruothildis von Pfalzel. Vor 1877 war die Platte in eine Kreuzgangwand, nach Müller in die linke Außenwand des linken Nebenchors, eingemauert, wurde dann auf Initiative von F.X. Kraus nach Trier ins Provinzialmuseum geschenkt (Inv. d. Sammlung d. kgl. Regierung Nr. C 110), eine Kopie blieb zurück,1) die weder vom Bearbeiter noch von Heyen aufgefunden wurde. Das Original wurde im Museum auf Palette 66 ausgelagert. In den Kreuzgang war sie wohl nach dem Neufund beim Begräbnis des Dekans Udalrich Milz 1772 gelangt, so legt das der Bericht Müllers nahe. Daß die am 29. August 1479 entdeckte Inschrift später wieder unter der Erde verschwand,2) zeigt ihren Charakter als Grabplatte bzw. niedriges Hochgrab an; daß sie als Wandplatte geschaffen wurde, könnte man nur aus der Form, ihrer querrechteckigen Beschriftung und dem Rand ablesen, was aber nicht zwingend ist.
Die querrechteckige Kalksteinplatte ist mit achtzeiliger Inschrift in doppelter Lineatur beschrieben, die außen ein schmaler Rankenfries umläuft. An der Außenkante ist die Platte leicht gefast, profiliert und abgetreppt. Drei große Bruchstücke sind zusammengefügt, mehrere tiefe Löcher der vielfach bestoßenen Oberfläche verursachten geringen Schriftverlust. Die Zeilenenden beschließen drei im Dreieck gesetzte halbkugelig vertiefte Punkte.
Maße: H. 71,5, B. 148,5, Bu. 3,1-3,3 cm.
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
+ SPONSA REDE(M)PTORIS IACET HIC TVMVLATA RVOTHILDISa) ·/SVRSVM GLORIFICA TRIPVDIANS ANIMA ·/DVM VIGVIT MVNDO NITVIT CASTISSIMAb) VIRGO ·/ABBATISSA CHORIc) CANDIDA UIRGINEI ·/MANSIT SVB SACRO SPECIOSA CANONICAd) VELO ·/SED TAMEN IN VIT[A V]ERA FVITe) MONACHA ·/f)IPSA KALENDIS SEPTENIS DEFVNCTA DECEMBRIS ·/AD SPONSVM REDIIT QVEM PIEg) PROMERVIT ·/
Übersetzung:
Bestattet ruht hier Ruothildis, die Braut des Erlösers, und ihre glorreiche Seele frohlockt in der Höhe. Solange sie in der Welt lebte, stand sie in Ansehen als überaus züchtige Jungfrau und als leuchtende Vorsteherin der Jungfrauenschar. Unter geweihtem Schleier blieb sie eine schöne Stiftsdame, aber in ihrer Lebensführung war sie wahrhaft Nonne. Sie starb am 7. Tag vor den Kalenden des Dezember (25. November)3) und kehrte zurück zu dem Bräutigam, den sie sich durch ein frommes Leben verdient hat (oder: um den sie sich durch ein frommes Leben verdient gemacht hat).
Versmaß: Vier elegische Distichen, leoninisch einsilbig gereimt.
Textkritischer Apparat
- HRVOTHILDIS AASS.
- CLARISSIMA Libellus.
- R beschädigt.
- Die Silbe NO klein über die Zeile geschrieben.
- Danach ein tiefes Loch in einem schon ursprünglich sehr weiten Spatium.
- Hier endet Libellus.
- PIA AASS.
Anmerkungen
- Kraus, Züscher, Kdm. Ein handschriftlicher Eintrag in ein „Verzeichnis der königlichen Sammlung in der Porta Nigra ...“ von 1863: „Nr. 252 Ruothildis-Platte aus der östlichen Mauer der alten Stiftskirche zu Pfalzel ausgebrochen“ ist nicht zu datieren, vgl. Pulheim, Rhein. Archiv- und Museumsamt, Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Best. D Museumswesen, VII Landesmuseum zu Bonn und Trier, Akte Nr. 11277: Das Museum in Trier, S. 15. Der Hinweis wird Dr. Peter Seewaldt, Rhein. Landesmuseum Trier, verdankt.
- Brouwer/Masen: „... Epitaphium ... at rursum iam terra celatum“; marginal „Repertum an. 1479 29. Augusti“.
- Die sonst an Müller angelehnte Übersetzung hat diesen hier zu korrigieren, wo er den 7. Dezember errechnete.
- Kraus, Christliche Inschriften II 531 Nr. 681 mit Abb.; siehe neuerdings Pfälzisches Klosterlexikon (wie Nr. 64, Anm. 2).
- Vgl. Deschamps, Étude sur la paléographie Abb. 24.
- Vgl. F. de Guilhermy, Inscriptions de la France IV. Ancien diocèse de Paris. Paris 1879, Taf. zu S. 515: Die vier Unzialformen von D, E, M und U stehen neben den leicht häufigeren Kapitalvarianten, wenig variierten A und teils eckigen(!) S. Die Datierung zu 1077 ist wegen der in der Zeichnung beschnittenen Datumszeile und der Lesung MCXXVII, also eckiges C statt L, bei Martène/Durand, Voyage II 70 f., nicht ganz von Zweifeln frei, die auch durch die zweisilbigen Leoniner genährt werden.
- Kloos, Einführung 124. Schon Bauer, Epigraphik 27 hatte auf die ungewöhnliche Mischschrift hingewiesen. Wenn Conrad, Niederrheinische Epigraphik 26 meinte, die massenhafte Verwendung von Unzialformen lasse auf eine Anregung durch die kluniazensische Reformbewegung schließen, blieben er und andere den Beweis schuldig.
- Ein M mit kurzem Mittelteil hat die Titelseite der Maximiner Handschrift von Gregors Moralia in Iob aus dem 3. V. des 10. Jh., vgl. Egbert-Gedenkschrift I Taf. 1; ausschließlich diese M hat das Thronbild im Sakramentar Heinrichs II., vgl. Mayr-Harting, Ottonische Buchmalerei Taf. 15. An epigraphischen Beispielen wäre die Weiheinschrift von Haan aus der Mitte des 10. Jh. zu nennen, vgl. Funken, Bauinschriften 70 f.; die Essener Bauinschriften von 1051, vgl. ebd. 88 f.; die Inschriften der Bernward-Zeit in Hildesheim, vgl. Berges/Rieckenberg, Älteste Hildesheimer Inschriften Taf. mit ungenügenden Nachzeichnungen, Taf. 10 Nr. 2 – dazu DI 58 (Hildesheim) S. 61 m. Anm. 129, haben tiefer gezogene Mittelteile des M, ohne daß sie regelmäßig die Grundlinie erreichen; auch schwankt die Höhe, vgl. ebd. Nr. 9 m. Abb. 12 f. In Trier ist auf den Andreastragaltar und den Petrusstab (Nr. 52 f.) zu verweisen.
- Dieses A auch in der CONCIVES-Inschrift Bernwards von Hildesheim, vgl. DI 58 (Hildesheim) Nr. 16.
- Vgl. Einleitung Kap. 5.2-3.
- DI 2 (Mainz) Nr. 5.
- Vita Popponis abbatis Stabulensis auctore Everhelmo cap. 23, ed. Wattenbach, MGH SS 11, 309.
- Als Vergleichsmaterial eignen sich die Beschriftungen der Widmungs- und Bischofsbilder des Egbert-Psalters, vgl. etwa Egbert-Gedenkschrift I Taf. 8-14, wie auch die Produktionen des Gregormeisters, vgl. ebd. Taf. 17 ff., wobei durchaus die Hierarchien von Kapitalis, Unzialis und Rustica zu beachten sind.
- Vgl. Deschamps, Étude sur la paléographie Abb. 22; ähnliche Formen ebendort Abb. 23 zu 1063 in Moissac (4. Z.), d. i. CIFM 8 (Tarn-et-Garonne) Nr. 10, Abb. 111, und Deschamps 78 zu 2. H. 11. Jh. für Saint-Savin (Vienne), ohne Abb., in CIFM 15 (Ville de Vienne) nicht verifiziert. Das runde T kommt auch auf der Bleiplatte der Königin Richeza von Polen (†1063, ehem. Köln-St. Gereon) vor, vgl. Ehrentraut, Bleierne Inschrifttafeln 197 f. Nr. 9 m. Abb. 1; außerdem in einer normannischen Grabinschrift von 1057, vgl. CIFM 22 Nr. 240 u. Abb. 105. In Trier findet sich der nächste Beleg, und dann noch mit gänzlich abweichender Bildungsweise, auf einem Tympanonfragment aus St. Maximin (Nr. 155).
- Vgl. CIFM 16 (Drôme) Nr. 29 u. Abb. 87.
- Vgl. für Trier u. a. bei Hoffmann, Buchkunst II Abb. 283 (St. Maximin, 3. V. 10. Jh.); Abb. 298 (St. Martin, um 1000); Egbert-Gedenkschrift I Abb. 5 (St. Maximin, 3. V. 10. Jh.), Trierer Passionale, 11. Jh. bei Degering, Schrift Taf. 59. Ein schon viel stärker als üblich gerundetes und mit gewelltem Balken versehenes T wurde benutzt in einem Turoneser Alkuin-Kommentar zum Johannesevangelium (2. V. 9. Jh.), vgl. Glaube und Wissen Nr. 39 zu Dombibliothek Köln, Hs. 107; in Kölner Gregor-Briefen (2. V. 9. Jh.), vgl. ebd. Nr. 34 zu Dombibliothek Köln, Hs. 93.
- Vgl. R. Kahsnitz, Der Werdener Psalter in Berlin, Ms. theol. lat. fol. 358. Eine Untersuchung zu Problemen mittelalterlicher Psalterillustration (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland 24) Düsseldorf 1979, Abb. 3, 14, 57.
- Vgl. Berlin, SBPK, Ms. lat. Qu. 690, fol. 47r aus St. Maximin (diese Seite 11. Jh., so Hoffmann, Buchkunst 461), bei Knoblich, Bibliothek Abb. 28. Dem T der Ruothildis-Inschrift viel näher steht das T im Kölner Jesaja-Kommentar des Hieronymus, vgl. Glaube und Wissen Nr. 29 zu Dombibliothek Köln, Hs. 47 (3. V. 11. Jh.).
- Unter vielen vgl. den Gregormeister, Egbert-Gedenkschrift I Taf. 22 ff., bes. Taf. 28 f., 69, 72.
- Vgl. Steffens, Latein. Paläographie Taf. 53 u. Bernward von Hildesheim II. Katalog Nr. IV-56.
- D. i. Burgerbibliothek Bern, Hs. 477, fol. 8r, s. a. H. Hoffmann, Das Skriptorium von Essen in ottonischer und frühsalischer Zeit, in: Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu. Akten des Internationalen Colloquiums, veranstaltet vom Schnütgen-Museum Köln, ..., hg. von A. von Euw u. P. Schreiner. Köln 1993, 113-153, hier 123 m. Abb. 34.
- Vgl. Mayr-Harting, Ottonische Buchmalerei Abb. 214 f.
- Vgl. ebd. Abb. 221.
- Vgl. Codex Egberti Tafelbd. (1983) zu fol. 1v u. ebd. Textbd. 51.
- Vgl. Göttingen, UB, Ms. theol. 99, fol. 1v (Incipit) aus St. Maximin (3. V. 10. Jh.), bei Hoffmann, Buchkunst 475 f. m. Abb. 284, u. Berlin, SBPK, Ms. lat. Fol. 740, fol. 2r, bei Knoblich, Bibliothek Abb. 104; Hoffmann, Buchkunst 456 datiert die achtzeilige Zierschrift zwar später (12. Jh.?), nimmt aber ein Trierer Muster des 10. Jh. an.
- Gegen die Frühdatierung in Bernward von Hildesheim II. Katalog Nr. IV-49 u. M. Brandt, in: Die Macht des Silbers. Karolingische Schätze im Norden. Katalog zur Ausstellung im Archäologischen Museum Frankfurt und im Dom-Museum Hildesheim, ..., hg. von E. Wamers u. M. Brandt. Regensburg 2005, 95 (m. Abb.); Dr. habil. Sebastian Scholz, Mainz, ist für nützliche Diskussion zu danken.
- Vgl. CIFM 7 Nr. 40 u. Abb. 43. Dieses runde T steht nicht allein, denn der Grabstein des Mommolenus in Bordeaux, der unsicher in die zweite Hälfte des 7. Jh. datiert wird, zeigt es neben unzialem D und eckigem C und O, vgl. Le Blant, Inscriptions chrétiennes II Nr. 586A u. Abb. 490.
- Vgl. S. Fassbinder, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit 1, Nr. VI.14 m. Abb.; die Bedenken nähren Paläographie und Kürzungsweise des OBIIT sowie die im Reichsgebiet sonst erst ab dem ausgehenden 10. Jh. belegte Praxis der Bleitafelbeigabe, vgl. Ehrentraut, Bleierne Inschrifttafeln.
- Vgl. Belege bei Pächt, Buchmalerei Abb. 83, 88, 92 u. Brown, Evangeliar von Kells 21 zu fol. 104r u. 24 f. zu fol. 114v.
- Vgl. Higgitt, Stone-Cutter Abb. 5; Okasha, Hand-list belegt allerdings als „insular majuscule“ eine ganze Reihe von insularen Monumentalschriften des 8.-9. Jh. mit rundem T, vgl. Nr. 9, 30, 48, 145 – alle im Norden Englands; Okasha, Corpus 28 u. Taf. 1b, 2b, 3b; außerdem Hübner, Inscriptiones Nr. 33, 35, 61, 202, 212 u. a. m.
- Vgl. dazu die Zeichnung bei Hübner, Inscriptiones Nr. 182, Koch, Insular Influences Abb. 44; die Abbildung bei Okasha, Hand-list Nr. 42, Hackness läßt diesen Sachverhalt nicht nachvollziehen, die Charakterisierung der Schrift als „Anglo-Saxon capitals“ widerspricht dem sogar. Zum gleichen Ergebnis, daß nämlich alle Verwendungen des runden T in von insularen Formen dominierten Inschriften vorkommen, vgl. dies., Corpus Taf. 1-3. Man vgl. auch die insulare Halbunziale als aus dem Skriptorium abgeleitete Monumentalschrift bei Higgitt, Stone-Cutter 159 f. u. Abb. 5.
- In Kenntnis der Bedenken von Kloos fand auch Koch, Weg zur Gotischen Majuskel 237 Anhaltspunkte für die Frühdatierung im Schriftbild, so ebd. Anm. 66: „Gerahmte Schriftbänder, lockeres Schreiben, ausgewogener Wechsel von breiten und schmäleren Formen, kreisrundes O, zurückhaltende Setzung von kleinen Buchstaben und Verschränkungen, dreieckige A-Formen, einmal mit nach links verlängertem A-Balken, Form des Q“.
- Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, in Pfalzel hätte es insulare Handschriften als mögliche Vorlagen gegeben – darüber weiß man überhaupt nichts. Den Herren Prof. Dr. Walter Koch und Dr. Franz Bornschlegel, München, sei für fruchtbare Diskussion der Paläographie des Steins und Bestärkung in seiner Frühdatierung gedankt.
- Vgl. das Figurengedicht am Anfang einer Grammatik des Bonifatius aus dem 9. Jh., Abb. bei v. Padberg, Christianisierung 62, d. i. UB Würzburg, M.p.th.f. 29, fol. 44r: „Iesus XRIstVs“. Zum Text vgl. MGH Poetae lat. aevi Carol. I,1 16 f. u. Bonifatius, Ars grammatica, ars metrica, edd. B. Löfstedt/G.J. Gebauer (CCSL 133B) Turnhout 1980, 3-6 m. Abb.; zur Handschrift vgl. ebd. u. Die Pergamenthandschriften der ehemaligen Dombibliothek, bearb. von H. Thurn (Die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg 3,1) Wiesbaden 1984, 21 f.
- Gesta Trev., add. et cont. I, MGH SS 8, 175 ff., hier 176.
- Vgl. Heyen, Pfalzel 46 ff. zu MRUB I Nr. 260 = LHA Koblenz Abt. 157 Nr. 2 (Originalurkunde).
- Gesta Trev. cap. 31, MGH SS 8, 172.
- So Heyen, Pfalzel 21.
- Vgl. eine Zusammenstellung bei Scholz, Karolingische Inschrift 151 f. zur Grabinschrift der Walburg von Neuenheerse. Die Vorbildfunktion der Äbtissin schon im Epitaph der Theodechildis († ca. 660) in Jouarre, vgl. Bischoff, Epitaphienformeln 152 f., wo auch die Christusbrautschaft mit Bezug zum Jungfrauengleichnis thematisiert wird. Schon Thomas, Trierer Geschichtsschreibung 77 m. Anm. 189 hatte den Blick auf die Aussage der Grabinschrift gelenkt, ohne jedoch ihre Apologetik zu erkennen.
- So Heyen, Pfalzel 20 ff. u. 61 ff. zu Libellus u. Thomas, Trierer Geschichtsschreibung 89.
- Poensgen, Geschichtskonstruktionen 94 ff., bes. 143.
- Kölzer, Urkundenfälschungen St. Maximin 252 ff., hier 259 f.
- Vgl. ebd. 252 ff. u. 118 f., 136 f. zu MGH DO III. 368, dessen Fälschung paläographisch in die Zeit von MGH DH IV. 158, also um 1065 angesetzt wird – vorher kann es nicht in den Libellus aufgenommen worden sein. Außerdem kannte der Libellus die Vita Irminae, die sicher vor 1081 und wohl erst nach der Mitte des 11. Jahrhunderts entstand, vgl. Kölzer 257, s. a. bei Nr. 101.
- Solche Vorwürfe begleiteten regelmäßig aus politischen und eigensüchtigen Gründen erzwungene Reformen von Kanonissenstiften, vgl. U. Andermann, Die unsittlichen und disziplinlosen Kanonissen. Ein Topos und seine Hintergründe, aufgezeigt an Beispielen sächsischer Frauenstifte (11.-13. Jh.), in: Westfälische ZS 146 (1996) 39-63. Ob die Anschuldigungen berechtigt oder falsch waren, beeinflußt hier nicht die Argumentation zur Rechtfertigung mittels einer Inschrift.
- Man muß freilich konstatieren, daß die Frühgeschichte des Stifts eine quellenarme Zeit ist und daher nie ernsthaft untersucht wurde, vgl. auch Heyen, St. Marien-Stift Pfalzel 111-113.
- Vgl. zu „merita“ in Inschriften Fuchs, Fromme Männer.
- Die erst im Additamentum der Gesta gegebene Begründung für die Auflösung, die Nonnen seien zuchtlos und reformunwillig gewesen, hatte schon Lesser, Erzbischof Poppo 31 f. als vorgeschoben entlarvt, unterschwellig aber Poppo eine rein machtpolitische Aktion unterstellt, was nicht ganz zutrifft.
- Gesta Trev., add. et cont. I, MGH SS 8, 175 ff., hier 176, vgl. auch Heyen, St. Marien-Stift Pfalzel 105-111, auch zum folgenden. Herr Prof. Dr. Franz-Josef Heyen bekräftigte seine Ansichten brieflich (12. Aug. 2005) und wandte sich explizit gegen eine Nachfertigung des Ruothildis-Steins.
Nachweise
- Libellus de rebus Treverensibus (StB Trier, Hs. 1341/86) fol. 218r; cap. 18, ed. Kraus, Fragment 137; ed. Waitz, MGH SS 14, 106.
- Brouwer, Annales (StB Trier, Hs. 1362a/110a) fol. 576v.
- Brouwer, Annales (UB Bonn, Hs. S 412) fol. 352v.
- Brouwer, Annales 639.
- Brouwer/Masen, Antiquitates et annales I 518.
- AASS OSB III 500.
- Gallia christiana XIII Sp. 515.
- Schannat/Bärsch, Eiflia illustrata III 2,1 487 f.
- Müller, Schicksale der Gottes-Häuser (BiblPSem Trier) 364, (BA Trier) 470, (StB Trier) 428.
- [Finck], Chronik der Pfarrei Pfalzel 4.
- Müller, Summarisch-geschichtliche Darstellung Klöster II 58.
- Liehs, Leben und Thaten d. Hll. 301; Fortsetzung II. Abt. 309.
- Bärsch, Moselstrom 210.
- Liehs, Lebensgeschichte der hl. Adela 25.
- Schmitt, Kirche des hl. Paulinus 74 Anm. 1.
- Marx, Geschichte des Erzstifts II,1 471.
- Schorn, Eiflia sacra X 311.
- Kraus, Christliche Inschriften II 203 Nr. 428, I Taf. VII, 10.
- Züscher, Hist.-topogr. Nachrichten Fasc. 1 Nr. 14 (Inschriftliches aus Pfalzel).
- Wengler, Pfalzel 8.
- Keune, Pfalzel 8 (m. Abb.).
- Kdm. Landkreis Trier, Abb. 206.
- Schuhn, Adula 294 Anm. 15.
- Schaller/Könsgen, Initia carminum 15635 (erw.).
- Heyen, St. Marien-Stift Pfalzel 43.
Addenda & Corrigenda (Stand: 17. Juni 2024):
Hinweis zum Kommentar: Der vierte Absatz wurde hinzugefügt. In Anm. 4 wurde der Hinweis auf das Pfälzische Kkosterlexikon hinzugefügt.
Nachtrag zum Kommentar
Gegen seine Frühdatierung kann der Bearbeiter vorläufig nur eine eigene neue Meinung vorbringen, ohne sie an dieser Stelle ausführlich begründen zu können.
Es gibt Indizien dafür, dass Erzbischof Poppo erst später die Schließung des Frauenkonvents „heilte“, indem er mit der Gründung des Stiftes Pfalzel 1027 eine solide Wiederbelebung des Gottesdienstes in Pfalzel und in abhängigen Kirchen erreichte. So bot er mit den neuen Pfründen den zuvor wegen des Frauenkonvents nach Pfalzel orientierten Adligen und anderen Grundherren der Umgebung ein neues Versorgungszentrum und eine Stätte zur Versicherung ihres Seelenheils. Als eine Art „Friedensangebot“ an Ruothilds Familie und ihr Umfeld mochte unter anderem die Grabplatte dienen, deren Text die „wahrhaft“ monastische Lebensführung der „schönen Stiftsdame“ pries und so die alten Vorwürfe, die zum Konflikt geführt hatten, zurücknahm.
Wie lange der Neugründung die Platte gefertigt wurde ist ungewiss, aber noch im 2. Viertel des 11. Jahrhunderts; es wurden einige Parallelen zur Platte des Abtes Gumbert von Limburg († ca. 1040) festgestellt (siehe Beleg bei Nr. 64).
Zitierhinweis:
DI 70, Stadt Trier I, Nr. 71 (Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di070mz10k0007100.
Kommentar
Die einzige Abkürzung in der ersten Zeile ist dem Raummangel zuzuschreiben, ebenso die nur dort vorkommenden verkleinerten und teils untergestellten Buchstaben, das erste E und das O in REDEMPTORIS, das mit H verschränkte I in RVOTHILDIS; in der fünften Zeile vermied der Hersteller durch Überschreiben eine Drängung der Buchstaben. Ansonsten ist die Schrift bis auf die großzügige Spationierung in der zweiten Hälfte der Pentameter regelmäßig verteilt. Diesem Eindruck großer Regelmäßigkeit tut auch die starke Varianz der Buchstabenformen keinen Abbruch. Das Nebeneinander von kapitalen und unzialen bzw. runden Buchstabenvarianten – und deren Fortschrittlichkeit, wird man hinzufügen müssen – bewogen schon Rudolf M. Kloos, die Ruothildis-Platte als Protagonistin eines neuen breiteren und mit vielen runden Varianten durchsetzten Schriftstils hervorzuheben, der den älteren engeren, mit eckigen Formen und zahlreichen Buchstabenverbindungen charakterisierbaren im Laufe des 11., aber verstärkt erst im 12. Jahrhunderts abgelöst habe; Kloos tat dies freilich nicht ohne Zweifel an der zeitgenössischen Herstellung der Platte, also um 1000, denn das Todesjahr der Ruothildis ist nicht bekannt. Als jüngere Belege für die Schriftformen schob er den Grabstein des Abtes Gumbert von Limburg, gestorben nach 10354), das Epitaph des Hubert von Saint-Rémy in Reims5) aus der Mitte des 11. Jahrhunderts und das des Priesters Eurinus in Lagny (†1077 oder 1127?)6) nach.7) Mit diesen Vergleichen scheint Kloos eine Datierung des Ruothildis-Steines um oder nach der Mitte des 11. Jahrhunderts nahelegen zu wollen. Daß es sich, wie Kloos gleichfalls nicht ausschließen wollte, um das Resultat einer Überarbeitung handelte, scheint angesichts der Formensprache ausgeschlossen – er meinte wohl eine weit spätere Herstellung, als das nach den Belegen für Ruothildis von um 990 möglich erscheint. Es wird im Folgenden versucht werden, durch die ausführliche Analyse der Schriftformen und weitere Vergleiche einen frühen trierisch geprägten Seitenweg der Majuskel zu ermitteln und historische Argumente für die Datierung einzubringen. In Erinnerung zu rufen ist hier, daß eine paläographisch gewiß begründbare Spätdatierung zwingend mit anderen Fakten aus der Konventsgeschichte abgesichert werden muß.
Als klassizierende Relikte, die in Trier allerdings bis weit ins 12. Jahrhundert hinein festzustellen sind, müssen Linksschrägenverstärkung bei A und V, fast ebenso regelmäßig bei M und N, wobei die Strichstärken schwanken, sowie deutliche Bogenverstärkung aus dem Kreisbogen gelten. Die Ausrichtung der Schattenachsen ist nicht konsequent linksschräg und daher in der nur leichten Unvollkommenheit dem erstgenannten Merkmal schwankender Strichstärken gut entsprechend. Eine ebenfalls nur geringe Unsicherheit des Schriftkanons zeigen nicht konsequent eingehaltene Proportion, kleine nicht sauber geschlossene Bögen bei P und R, dessen Cauda zwar aus einer stachelförmigen abgeleitet, jedoch auch mit leichter Schwellung bzw. Durchbiegung versehen ist; ebenfalls unvollkommen klassizierend sind einige kreisrunde, aber mit eher senkrechter Schattenachse versehene O und Q, dessen Cauda waagerecht auf der Grundlinie liegt. Der Mittelteil der kapitalen M-Variante ist nicht mehr konsequent bis in die Nähe der Grundlinie, sondern nur noch knapp unter die halbe Buchstabenhöhe heruntergezogen. Der Ruothildis-Stein steht also in der sich seit dem Ende des 10. Jahrhunderts abzeichnenden Tendenz, dieses Merkmal klassizierender Schriftformung aufzugeben, was sich in Handschriften, auch trierischen, nur selten klar erweisen läßt, im epigraphischen Bereich aber gut nachzuvollziehen ist.8) Hohes Niveau offenbart auch die Gestaltung der Schäfte, indem eine ganz leichte Taillierung vorgenommen ist.
Ein völlig neues Element stellen die unzialen bzw. runden Buchstabenvarianten in ihrer Formung und Anzahl dar, wenn man sie mit anderen Inschriften der Jahrtausendwende vergleicht. Schon die kapitale Variante des A – neben der symmetrischen mit sich oben leicht überschneidenden Schrägschäften gibt es auch eine mit geknicktem (2x) und eine mit nach links verlängertem Mittelbalken (2x) – weist statt Mittelbalken auch einen nach oben gebogenen Haken (mehr als 2x) auf, der so auch beim letzten A in ABBATISSA begegnet, das schon in die unziale Variante überleitet. Diese kommt ohne Balken in ANIMA vor,9) mit Balken unter stark gebogenem linkem Schaft in SACRO und MONACHA. In SACRO ist am oberen Ende des überstehenden rechten Schaftes ein nach links gezogener dünner Deckbalken angesetzt, der in den kapitalen Varianten in geringerem Ausmaß vorkommt. Andere runde Buchstabenvarianten sind in unterschiedlicher Häufigkeit zu festzustellen: E (5), G (4), H (2), M (2), T (7 gegen 11 kapitale Varianten), U (1), nicht N. Die von Kloos beobachteten Schriftähnlichkeiten bestehen in der Tat hinsichtlich Proportion und Einzelformen zum Grabstein des Gumbert, und zwar im auffällig breiten unzialen E – hier im Kontrast zum schmalen kapitalen – und fast waagerecht nach links gezogenem freiem Bogenende des unzialen D sowie im unzialen A mit Mittelbalken. Fast bis zur Grundlinie gezogener Mittelteil des M und gerade, rechts am Bogen ansetzende Cauda des R stellen neben den einem Kreis angenäherten Bögen in Limburg eine stärkere Anbindung an eine epigonale karolingische Kapitalis her. Geringe Reste davon, sogar eher stachelartige, jedoch auch leicht gewölbte Cauda des R, auch schon unziale D, E und U, enthält die Schrift des Theoderich-Epitaphs aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts in St. Matthias (vorangehende Nr.), die außerdem in breiter Proportion und Kreisbögen mit Verstärkungen weitere Übereinstimmungen mit der Ruothildis-Inschrift aufweist. Beide Vergleichsschriften könnten als weniger sauber und konsequent durchstilisierte Versionen des sich im Ruothildis-Stein manifestierenden neuen Duktus angesehen werden. Ohne daß man eine konsequente Reihung mehr oder weniger fortschrittlicher Phänomene herausfiltern könnte, gehören zumindest die stärker zum Trapez neigende Form des kapitalen A, rundes N und die Art der Buchstabenverbindungen (Ligaturen VS und ST) in Limburg zur fortschrittlicheren Formensprache;10) Spiel mit verlängertem Mittelbalken des A weist dagegen auch die ältere Mainzer Willigis-Inschrift11) auf, die gegen den dort vorherrschenden Duktus schon ein unziales H enthält. Besonderes Gewicht erhalten diese Beobachtungen durch den Umstand, daß Abt Gumbert von Limburg von Abt Poppo von Stablo und St. Maximin vielleicht aus letzterem Konvent nach Limburg geschickt worden war12) und sich so ein Trierer Einfluß erklären ließe.
Durch die Umdatierung des Ruothildis-Steins, siehe den Nachtrag, wird diese Beeinflussung in Frage gestellt oder umgekehrt.
Für die Datierung ist festzuhalten: Alle Formen, auch die runden und unzialen, sind bis auf eine Ausnahme aus den Handschriften der Zeit und auch Triers vielfach nachweisbar, nicht zuletzt in denen der Egbert-Zeit,13) einige sogar in gut eingrenzbaren Inschriften. Die Ausnahme, die nach Kloos und den bisher bekannten Belegen monumentalpaläographischer Untersuchungen eine Spätdatierung nahelegen könnte, ist das runde T, das hier mit einem leicht geschwungenen Deckbalken über einem gut ausgebildeten, aus dem Kreis entwickelten Bogen ausgeführt ist. Inschriftlich ist es, und zwar mit fast geradem Balken und oben zunächst gerade heruntergeführtem Bogen, in Trier sicher erst 1124 (Nr. 113) belegt und wird auch sonst frühestens um die Mitte des 11. Jahrhunderts angesetzt, etwa in der Weiheinschrift von Waha.14) Man könnte allerdings schon im ST-Nexus in Limburg die Kenntnis eines runden T voraussetzen. Bezeichnenderweise sind in allen frühen Inschriften mit mehrfacher Benutzung von unzialen und runden Buchstabenvarianten wie u. a. in der Weiheinschrift von 972 für Saint-Michel de Monflans in Étoile-sur-Rhône (Hérault)15) keine runden T vertreten. Dieser Beobachtung entspricht auch die Tatsache, daß das runde T, also das T der Halbunziale, in den Auszeichnungsschriften bis ins 2. Viertel des 11. Jahrhunderts nicht oder höchst selten benutzt wurde, jedenfalls nicht in den höheren Schrifthierarchien 1 (Kapitalis) und 2 (Halbunziale und Rustica), sondern nur in Minuskelumgebung, ganz selten dort auch als Versal, allerdings fast nie mit Auszeichnungscharakter.16)
Bevor rundes T in Auszeichnungsschriften, etwa im Werdener Psalter (1030-1050)17) und in Trierer Handschriften des 11. Jahrhunderts18), faßbar wird, könnte die schon ältere Variante eines kapitalen T mit geradem Schaft, der unten nach rechts umgebogen ist, in Ebenen wenigstens der Stufe 219) eine gewisse Vorbild- bzw. Ersatzfunktion gehabt haben. In einer St. Gallener Privaturkunde von 828 und auf einer Textzierseite des Sakramentars aus St. Gereon in Köln (984-996) ist ein solches T im Wort „FELICITER“ bzw. als Auslaut von „CEPIT“ schon gerundet, in St. Gallen sogar mit gewelltem Deckbalken;20) ein ähnlicher, dem T der Ruothildis-Inschrift gut entsprechender Buchstabe findet sich auf der Zierseite einer Vita s. Galli des Walahfrid Strabo aus Verdun.21) Weit weniger deutlich begegnet dieselbe Erscheinung im Warmund-Sakramentar von um 100022) und im Hitda-Codex aus Köln von 1000-1020.23) Auf der Hauptauszeichnungsebene der Reichenauer Produktion für Egbert ist das untere Schaftende des T zumeist nach links gebogen, in Tituli von Szenen aber auch schon in der Vorform des runden T zu finden, zusätzlich ein einziges Mal auf der zweiten Schriftebene in der Widmung „HUNC EGB(ER)TE LIBRVM“.24) Die herausragende Erhebung des runden T in die Stufe von Auszeichnungsschriften geschah für Trier in der Maximiner Sammelhandschrift zum Alkuin-Brief und möglicherweise im Incipit der ebenfalls aus dem 3. Viertel des 10. Jahrhunderts stammenden Augustinus-Handschrift desselben Skriptoriums,25) wo auch die Schwingung des Balkens angelegt ist. Daß Buchstabenformen aus unteren Schriftebenen in die Monumentalschrift Eingang finden konnten, belegt eine frühe Verwendung des runden T (neben unzialen D und E) auf dem Riemenende des Ermadus, das nach stilistischen Kriterien in der Mitte des 9. Jahrhunderts in Lothringen entstanden sein soll, paläographisch aber doch wohl erst ein knappes Jahrhundert später anzusetzen ist.26) Eine der frühesten Verwendungen des runden T, und zwar in einer fast identischen Form zu der des Ruothildis-Steins, dürfte auf dem Epitaph eines Bernardus im Augustinermuseum von Toulouse vorliegen, das von den Editoren ins 8. Jahrhundert gesetzt wird;27) die leider nicht ausführlich begründete und mit konkreten Vergleichen untermauerte Datierung wird man allerdings überprüfen müssen. Eher der aus Handschriften bekannten Form eines T mit geradem, unten umgebogenem Schaft entspricht die Form auf der Bleitafel des 845 verstorbenen Bremer Bischofs Leuderich; es ist aber mehr als zweifelhaft, ob die Herstellung der Inschrift wirklich im 9. Jahrhundert anzusetzen ist.28) Eine besonders frühe Verwendung dieses T findet sich auf dem Grabstein des Flodericus (Hlodericus) (Nr. 1); es gibt also auch eine alte Wurzel für die Verwendung des Buchstabens in Inschriften.
Daß man in unzialen (runden) Auszeichnungsschriften rundes T zunächst nicht benutzte, mag aus der Überlegung resultieren, eine Verwechslung oder Leseschwierigkeit von TI zu U zu vermeiden; schließlich erhob man das runde N in frühen Halbunzialschriften auch nicht in den Kanon, es hätte einem R geglichen. Beide Formenvarianten fließen zunächst an untergeordneter Stelle als Versalien, dann zögernd in die Auszeichnungsschriften des Kontinents ein. In insularen Produktionen gehört das runde T zum gemeinen Bestand sogar von Initialseiten, etwa in den Evangeliaren von Durrow, Lindisfarne und Kells29) und wurde schließlich in von insularer Halbunziale geprägte Inschriften übernommen.30) Als weiterer Beleg für dieses Verfahren mag vielleicht der Grabstein der Aedelburga in Hackness (Yorkshire) gelten, wo das in insularer Schrift geläufige runde T in stark vereckter Form in die Kapitalis eingebunden wurde.31) Man könnte also mit Recht fragen, ob die isolierte Formensprache des Ruothildis-Steines, für die es aber um 1000 durchaus Ansätze gibt,32) aus einer Art experimenteller Umsetzung von Handschriften in Stein resultierte.33) Auf welchem Weg Unzialen in die monumentalen Auszeichnungsschriften gelangten, ist bisher nie grundsätzlich untersucht worden. Nach allgemeiner Meinung gelten Auszeichnungsschriften der Skriptorien als Vorläufer und Vorbilder. Für das runde T ergibt sich die Schwierigkeit, daß Skriptorien diesen Buchstaben gewöhnlich mieden und eine Übertragung daher nicht leicht nachzuvollziehen ist. Vermittelndes Zwischenglied, das Vehikel für die Emanzipation halbunzialer Formen und damit einer Innovation, mochten Schriftenanwendungen gewesen sein, bei denen eigentlich nicht zu Auszeichnungsschriften gehörende Passagen in besonderer Weise hervorgehoben wurden. Dazu zählen möglicherweise Figurengedichte wie das des Bonifatius, in dessen Zentrum das Kreuz mit dem Namen IESVS XRISTVS steht.34) Hier wie in den Passagen von Akrostichon und Tetrastichon sind halbunziale Formen mit denen der Kapitalis gemischt, darunter auch das halbunziale, d. i. das runde T, dessen stark gerundeter Bogen sich klar von dem der Minuskel des Haupttextes abhebt. Solche Mischschriften aus Kapitalis, Unziale und Minuskeln wie im Christus-Namen eines Kreuzes könnten eine gewisse Gleichwertigkeit suggeriert haben. Die durchaus vorhandenen Schriftkenntnisse des Herstellers stehen dem nicht entgegen.
Eine aus all diesem abzuleitende Frühdatierung kann gegen die Bedenken von Kloos durch eine historische Erklärung des Inhalts der Grabinschrift gestützt werden.
Die Frühgeschichte von Pfalzel beleuchten, von wenigen Urkunden abgesehen, im Wesentlichen zwei Quellen, eine Gründungs- und Besitzgeschichte im Zuge des über Oeren vermittelten Libellus de rebus Trevirensibus und ein Anhang zu den Gesta Treverorum.35) Die Äbtissin Ruothildis hatte ihrem Kloster neun Mancipien mit Familien geschenkt; mit guten Gründen sah man darin die im Libellus im gleichen achten Regierungsjahr Ottos III. (23. Dez. 990 bis 23. Dez. 991), aber zu 988 genannte Schenkung von „Emdadesdorf“, das – sprachgeschichtlich – nicht überzeugend mit Ingendorf südwestlich von Bitburg identifiziert wurde.36) Mit Ruothilds Grabinschrift endet dann besagter Libellus, der die nicht lange danach erfolgte Auflösung des Frauenkonvents in Pfalzel nicht mehr mitteilt.
Erzbischof Poppo (Nr. 75-77) nahm angeblich einen hexerischen Anschlag einer Konventualin auf sich selbst zum Anlaß, das Frauenkloster in Pfalzel aufzuheben und reformunwillige Insassinnen nach Oeren und anderen Klöstern zu schicken.35) Die Hauptfassung der Gesta berichtet anders als das Additamentum nur, Poppo habe nach seinem Amtsantritt (Weihe 1. Januar 1016) aus den Besitzungen von St. Paulinus und Pfalzel Lehen ausgegeben.37) Das geschah offenbar zur Demontage seines Hauptwidersachers Adalbero, Propst von St. Paulinus und ehemaliger Gegenbischof. Man wird aber diese Aktion und die Vertreibung der Frauen nicht notwendigerweise gleichzeitig und daher letztere nicht auch 101638) ansetzen müssen. Nach einer Jerusalemreise (1028), die als Sühne für die Auflösung des Klosters gelten sollte, gründete Poppo ein Männerstift in Pfalzel, das ihm nicht nur Personalressourcen bot, sondern auch gegen die Begierde anderer Institutionen besser gewappnet war – er entzog also der Partei des noch lebenden Adalbero eine frühere Hilfsquelle. Das alte benediktinische Kloster hatte er aber sicher nicht nur aus machtpolitischen Gründen aufgelöst; es war wohl wegen Disziplin- und Regelproblemen schon ins Gerede gekommen, denn Meinungsverschiedenheiten bestanden über angemessene Kleidung und Lebensführung, in den Gesta „habitus“ und „conversatio“. Das ausführliche und für andere Steine desselben sozialen Umfeldes ungewöhnliche Totenlob der Ruothildis nimmt die mittlere Hälfte des Textes ein und konzentriert sich auf nur einen Aspekt, in dem es in verschiedenen Wendungen immer wieder betont, daß Ruothildis eine geistliche Frau und Konventsmutter ohne Tadel gewesen sei und über die Anforderungen an eine Kanonissin hinaus – der Libellus berichtet über ihre Erziehung im königlichen Stift Essen – wie eine Nonne gelebt habe. Das Epitheton SPONSA REDEMPTORIS verstärkte diese Aussage noch, indem es an Forderungen der Kanonissenreform des 9. Jahrhunderts anknüpfte, nach denen sich geistliche Frauen ihrer Brautschaft Christi durch entsprechenden Lebenswandel würdig zu erweisen und Äbtissinnen beispielhaft voranzugehen hätten.39) Diese auffällige Gewichtung macht am ehesten Sinn, wenn die Grabinschrift im Hinblick auf schon bestehende Anfeindungen im oben skizzierten Sinne und im Vorfeld der Aufhebung antworten sollte. In diesem Sinne hat man auch dem Verfasser des Libellus die Absicht unterstellt, zumindest im abschließenden Kapitel 17 eine Apologie des Konventes in Zeiten der Anfechtung wenigstens vorbereitet zu haben.40)
Ob man den Libellus nun in anderer Deutung als erzbischöflich-trierische Entgegnung der von Mainz beanspruchten Vorrechte qua historischem Lehrstück41) oder als einen Versuch bzw. Materialsammlung aus der Umgebung des Erzbischofs Eberhard (†1066) versteht, die Stellung von Pfalzel und Oeren als erzbischöflichen Klöstern zu untermauern,42) so weist doch die Zusammenstellung der Fakten im Schlußkapitel mit letzterer Deutung konformgehend auf die besonderen Beziehungen zwischen Konvent und den jeweiligen Erzbischöfen hin: Zwei Schwestern Hettis (Nr. 32 f.) waren dort Äbtissinnen, wie der Libellus aus ihren Grabinschriften weiß; Schenkungen werden zu Amtszeit und sogar Anwesenheit von Erzbischöfen in Beziehung gesetzt, darunter die der Ruothildis zur Zeit Egberts und dessen eigene. Die um die beiden letzten Verse verkürzte Grabinschrift der Ruothildis bemüht der Libellus dann, um seine Behauptung zu untermauern, sie sei keine Nonne, sondern Kanonisse gewesen. Er endet dann abrupt; die nicht viel spätere Auflösung des Konvents interessierte ihn offenbar nicht, sofern man Poensgen und Thomas in der Annahme folgt, der in einer Handschrift des ausgehenden 12. Jahrhunderts geschriebene Text sei die weitgehend vollständige Abschrift eines genauso konzipierten und weder durch Hinzufügung noch Verstümmelung in seiner Aussage veränderten Textes. Die Struktur des Libellus, auch die seines Schlußkapitels, legt jedenfalls nicht nahe, daß eine später ausgeführte Grabinschrift in die Ur-Version eingefügt wurde, die man neuerdings im dritten Viertel des 11. Jahrhunderts ansetzt.43) Diese Ur-Version, mit Nachrichten zu Ruothildis endend, kann also formal nicht für eine Frühdatierung ihrer Grabinschrift genutzt werden. Es ist aber wohl auch nicht anzunehmen, daß man, um die Fälschungsaktionen der Eberhard-Zeit zu untermauern, parallel den Libellus verfaßt und die Inschrift geschaffen hätte; dann hätte man im bischöflichen Eigenstift die Inschrift gezielter manipulieren können, falls die Behauptung des Libellus zur Kanonisse Ruothildis überhaupt etwas bezwecken sollte. Angesichts des neuen Männerstifts den weltklerikalen Charakter der vermeintlich letzten Äbtissin herauszuheben und ihren Rang als „canonica“ zweimal zu betonen, mag ein solches Anliegen des Libellus gewesen sein. In diesem Falle hätte man allerdings die sechste Zeile SED TAMEN ... MONACHA und nicht nur die beiden folgenden unterschlagen müssen, da sie einen entgegengesetzten Akzent setzt. Daher kann die Inschrift nicht zu dem Zweck nachgefertigt worden sein, eine Kontinuität der Kanonikerschaft zu implizieren, was zumindest im Bereich des Denkbaren läge und bisher als einzige Absicht hinter einer möglichen Nachfertigung erkannt wurde; die erwähnte sechste Zeile wäre sogar tendenzwidrig.
Angesichts der modern erscheinenden Schrift wird man zwar eine spätmöglichste Datierung der Platte bevorzugen, aber kaum über 1016 hinausgehen wollen. Später, nachdem das Männerstift eingerichtet war, hätte man die Erinnerung an Ruothildis nicht mehr auf diese Weise fokussieren müssen, zumal die Aussage des Textes der eigenen Gründung und ihrer Berechtigung entgegenträte, selbst wenn Poppos Kritik an der Regeltreue des Vorgängerkonventes nur die kirchenrechtliche Verbrämung eines Raubzuges gewesen sein mochte.44) Ansonsten müßte man wenigstens einen Versuch erkennen, die alte Position des Frauenkonventes auch später noch zu stützen oder wiederzugewinnen. Von erzbischöflicher Seite bestand Interesse an Pfalzels Vergangenheit nur hinsichtlich der gegenseitigen Rechtsbeziehung. Es ist auch kein Grund zu erkennen, warum der neue Männerkonvent eine Grabinschrift nachfertigen oder erneuern, geschweige denn einen alten Text monumentalisieren lassen sollte.45) Es gibt gleichfalls keinen Anlaß, in einer später angefertigten Inschrift eine nachträgliche Rechtfertigung des Begräbnisses im Sinne geretteter „merita“46) zu sehen.
Es sind also folgende Beobachtungen zusammenzusehen: Der Konvent von Pfalzel hatte Anlaß zur Reform gegeben. Erzbischof Poppo kam das gelegen, um Ressourcen zu gewinnen und die Machtbasis der Partei Adalberos zu übernehmen.47) Allerdings war er mit der Auflösung des Klosters offenbar über das Ziel hinausgeschossen, denn es regte sich Opposition. Der Anhang zu den Gesten berichtet, Poppo habe sein Unrecht eingesehen und um eine Buße nachgesucht; der Papst (Johannes XIX.) habe ein Urteil der „comprovinciales“, also der Suffragane, angeordnet, die eine Bußfahrt nach Jerusalem auferlegt hätten.48) Unmittelbar nach seiner Rückkehr, so die Gesten, habe er in Pfalzel Kleriker eingesetzt, „in loco supradicto (d. i. Pfalzel) ad laudes Dei celebrandas clericos religiosos mancipavit“. Darin scheint nach Heyen der wahre Grund für Poppos Jerusalemreise durch: Es ging nicht nur um die Vertreibung der Nonnen, er büßte vielmehr dafür, daß er die „laus Dei“ abbrechen ließ. Die Opposition, also wohl Suffragane, Klerus und auch Laien, konnte ihm zwar das Recht zur Reform nicht absprechen, ihn jedoch zwingen, den „Stifterwillen – die laus Dei in einer strukturierten communitas, einer vita religiosa“ zu respektieren und durch eine Neugründung abzusichern. Die zentrale Aussage der Grabplatte der Ruothildis ist daher eingebettet in die Diskussion um die Reform und die Aufhebung des Klosters bis zum Jahre 1016.