Inschrift im Fokus
Stadt Hildesheim: Buchdeckel des Ratmann-Sakramentars
Der reich geschmückte Deckel des berühmten Ratmann-Sakramentars aus dem Benediktiner-Kloster St. Michaelis in Hildesheim trägt eine Reihe von Inschriften. Ein Sakramentar ist eine Sammlung von Gebeten und anderen Texten, die der Priester für die Feier der Messe benötigt. Seit dem frühen Mittelalter wird eine solche Sammlung auch Missale genannt. Gestiftet und geschrieben hat dieses Hildesheimer Sakramentar ein Mönch namens Ratmann, dessen Namen auch auf dem Buchdeckel vermerkt ist. Auf einem Pergamentstreifen nennt er sich mit den Worten: „Herr Gott, sei im Guten eingedenk des Ratmann.“ Der Buchdeckel zeigt weiterhin eine Darstellung Christi mit Kreuznimbus, der in der rechten Hand eine Erdscheibe mit der folgenden Inschrift trägt: „Ich erfülle den Himmel und die Erde.“ In der linken Hand Christi befindet sich ein Buch mit der dreizeiligen Inschrift: „Ich bin der Herr, euer Gott.“ Um die Darstellung herum verläuft gegen den Uhrzeigersinn eine Umschrift auf einer schmalen Leiste mit dem Text: „Die du alles lenkst, das Widrige unterdrückst, das Feindliche bändigst, gütige Majestät, dich bitten wir, errette uns Niedrige.“ Das Haupt Christi wird flankiert von den beiden Buchstaben Α (Alpha) und ω (Omega), dem ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets. Allgemein wird diese Buchstabenkombination als symbolische Umsetzung des Bibelworts: „Ich bin der Anfang und das Ende“ aus der Offenbarung des Johannes (22,13) bzw. ihrer alttestamentlichen Vorform im Buch des Propheten Jesaja (44,6) – interpretiert.
Anmerkung: Alle Inschriften sind original in lateinischer Sprache.
DI 58: Stadt Hildesheim (2003)
Nr. 36 Dom-Museum
Beschreibung
Buchdeckel des Ratmann-Sakramentars1) aus St. Michaelis. Auf dem Vorderdeckel sind über rotem Leder durchbrochene, gravierte Kupferplatten angebracht.2) Der Rahmen besteht aus Kupferplatten mit Blattranken und acht Bergkristallen: In den Ecken vier runde Bergkristalle, darunter auf Pergament Miniaturen der Evangelistensymbole. Sie halten jeweils ein Schriftband mit dem Incipit des zugehörigen Evangeliums.3) In der Mitte der Schmalseiten je ein ovaler Bergkristall, darunter auf Pergament ein Besitzvermerk.4) An den Langseiten zwei rechteckige Bergkristalle, darunter Pergamentstreifen mit einem Stiftervermerk.5) Im Innenfeld eine hochrechteckige, durchbrochen gearbeitete Kupferplatte, die Christus mit Kreuznimbus zeigt. Er steht auf einem Löwen und einem Drachen. In der Rechten hält er die Erdscheibe mit Inschrift A in zwei Zeilen, in der Linken ein Buch, auf dessen beiden aufgeschlagenen Seiten in drei Zeilen Inschrift B angebracht ist. Die Darstellung wird gerahmt von einer schmalen Leiste mit Inschrift C, deren Buchstaben nach außen zeigen. Der erste Vers beginnt in der Mitte der oberen Schmalseite mit einem Kreuz, der zweite auf der unteren Schmalseite unten rechts, ebenfalls mit einem Kreuz. Neben dem Haupt Christi die mit einem Kreuz verzierten Buchstaben Alpha und Omega (D). Die Inschriften A–C sind graviert, Inschrift D aus der Kupferplatte ausgeschnitten.
Maße: H.: 35,2 cm; B.: 24,1 cm; Bu.: 0,2 cm (A), 0,2 cm–0,4 cm (B), 0,5 cm (C), 3,3 cm (D).
Schriftart(en): Romanische Majuskel (A–C), griechische Buchstaben (D).
- A
CELV(M) ET · T(ER)RA(M) / EGO · I(M)·PLEO ·6)
- B
EGO / SVM / D(OMI)N(V)S // D(EV)S / VES/TER7)
- C
+ CVNCTA / REGENS · ADVERSA · PREMENS · INIMI/CA · COERCENS + NOS · / HVMILES · SALVA · MAIESTAS · QVESU/MVS · A[L]MAa)
- D
Α ω
Übersetzung:
Ich erfülle den Himmel und die Erde. (A)
Ich bin der Herr, euer Gott. (B)
Die du alles lenkst, das Widrige unterdrückst, das Feindliche bändigst, gütige Majestät, dich bitten wir, errette uns Niedrige. (C)
Versmaß: Zwei Hexameter, der erste als Trininus saliens, der zweite zweisilbig leoninisch gereimt (C).
Textkritischer Apparat
- A[L]MA] L durch einen Nagel verdeckt.
Anmerkungen
- Inv. Nr.: DS 37.
- Detaillierte Beschreibungen des Einbands in: Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1024 a,b, S. 1164f.; Kat. Bernward 2, S. 605–607; Kat. Heinrich der Löwe 1, S. 512; Beschreibung der Handschrift in: Handschriften im Domschatz, S. 117–123.
- Vgl. Zeichnung in DBHi, HS C 375, fol. 52: liber . generati .// Jn . princi . // fuit . in . die . // Vox . claman .. ‚Das Buch von der Abstammung [...]. Am Anfang [...]. In den Tagen [...]. Die Stimme des Rufenden [...]‘.
- Oben: Liber. / S(ancti). Michahel(is). / archangel(i)., unten: S(an)c(t)iq(ue). Bern/wardi . ep(iscop)i. / i(n) . hildenesh(eim). ‚Das Buch des heiligen Erzengels Michael und des heiligen Bischofs Bernward in Hildesheim.‘ Text nach DBHi, HS C 375, Bl. 52 (Nachzeichnung des Einbands).
- Links: RATMANNI / I(N) . BONVM .; rechts: MEM(EN)TO D(OMI)NE . D(EV)S . ‚Herr Gott, sei in Gutem eingedenk des Ratmann.‘ Text ebd.
- Ier. 23,24.
- Lv. 19,2.
- Die Buchstaben ähneln in ihren Grundformen denen auf dem Godehard- und dem Epiphaniusschrein. Vgl. die Schriftbeschreibung dort Nr. 40 u. Nr. 41.
- Text nach Abb. 2 bei Brandt, Emailkunst: Notum sit [...] qualiter dilectus f(rate)r n(oste)r Retmannus p(res)b(i)ter et monachus hunc missalem librum p(ro) indicio pie deuotionis ad locum sue p(ro)fessionis et stabilicionis (?) p(ro)prio labore et industria p(er)missione n(ost)ra conscrips(er)it communi utilitati contulerit . et principali altari ad missas ibi dicendas assignari petierit. Weiter unten auf derselben Seite: Anno d(omi)nice incarnat(ionis) M c l viiii hic liber consummatus e(st)... ‚Es sei bekannt, daß unser lieber Bruder Ratmann, Priester und Mönch, dieses Missale als Beweis seiner frommen Ergebenheit für den Ort seiner Weihe und seines beständigen Aufenthaltes in eigener Arbeit mit Fleiß und mit unserer Erlaubnis geschrieben und zum allgemeinen Nutzen gestiftet hat und gebeten hat, daß es dem Hauptaltar dort für das Lesen der Messe zugeteilt werde.’ ‚Im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1159 wurde dieses Buch fertiggestellt.‘
- Vgl. Brandt, Emailkunst, S. 12–16.
Nachweise
- DBHi, HS C 375, Bl. 52 (Zeichnung).
- DBHi, HS C 1527 o. S. (Zeichnung Kratz, nur Kupferplatte).
- Mithoff, Kunstdenkmale, S. 136.
- Bertram, Bistum 1, S. 171.
- Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 101.
- Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1024 a,b, S. 1164 mit Abb.
- Kat. Heinrich der Löwe 1, S. 512 (C), Abb. S. 514.
- Handschriften im Domschatz, S. 120.
- Kat. Abglanz des Himmels, S. 133, Abb. S. 122.
- Slg. Rieckenberg, S. 307, ein Photo.
Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 36 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0003607.
Kommentar
Die Inschriften sind in einer entwickelten romanischen Majuskel ausgeführt, E, T, M, U kommen eckig-spitz und rund im Wechsel vor, G in eingerollter Form, A spitz bis schmal trapezförmig. H in HVMILES mit nach unten ausgebuchtetem Querbalken, M links geschlossen. Die Buchstaben laufen keilförmig aus oder enden in dreieckigen Sporen, wodurch einzelne E bei an sich offener Grundform eine Tendenz zum Abschluß aufweisen und die Hasten von I und L in der Mitte eingeschnürt wirken.8) Vergleicht man die Inschriften des Buchdeckels mit den Auszeichnungsschriften in der Handschrift selbst, dann zeigen sich deutliche Unterschiede: In den Beischriften des Widmungsbildes ist A mit breit überstehendem Deckbalken oder als unziales A ausgeführt, E und C sind nahezu abgeschlossen, die Übergänge von der Haste zu den Balken – wie z. B. bei B – sind ausgerundet, O und C weisen Bogenschwellungen auf. Diese Unterschiede sollten nicht als Argument dagegen verwendet werden, daß Codex und Einband zu derselben Zeit und an demselben Ort entstanden sind. Vielmehr zeigen Beispiele wie dieses, daß zwischen den in Handschriften verwendeten Auszeichnungsschriften und epigraphischen Schriften, auch wenn sie in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang entstanden sind, material- und stilbedingt Unterschiede bestehen können.
Die Datierung der Inschriften gründet sich auf einen fol. 1r eingetragenen Vermerk, demzufolge der Codex im Jahr 1159 fertiggestellt worden ist. Geschrieben hat ihn der Priester und Mönch Ratmann, der ihn mit der Bitte, daß dieses Missale am Hauptaltar für die Meßfeier benutzt werden solle, zum allgemeinen Nutzen gestiftet hat.9) Da sich vielfältige Beziehungen zwischen der Handschrift und dem Einband nachweisen lassen10) und Ratmann sich auch auf dem Einband als Stifter nennt (vgl. Anm. 5), kann das in der Handschrift angegebene Herstellungsdatum auch für die Entstehung des Einbands angenommen werden.