Der epigraphische Tipp

Folge 5: Was ist ein „Retabel”?

Der Begriff Altarretabel oder kurz Retabel bezeichnet jede Art von Altaraufsatz. Retabel können an verschiedene Stellen auf, neben oder hinter dem Altar angebracht sein und auf unterschiedliche Weise ausgestaltet sein. Die Gestaltung des Altaraufsatzes richtet nach dem vorherrschenden Stilprinzipien der Epoche. Mehr dazu finden Sie in unserem Glossar.

Nachfolgend noch ein Beispiel aus der ev.-luth. Kirche St. Marien in Hetjershausen im Landkreis Göttingen:

DI 66: Lkr. Göttingen (2006)

Nr. 116 Hetjershausen, ev.-luth. Kirche St. Marien

Beschreibung

Altarretabel, ehemaliges Triptychon. Holz, farbig gefaßt, Reste von Gemälden. Das Triptychon wurde 1799 zerlegt und in einen damals errichteten Kanzelaltar einbezogen.1) 1938 wurden die Altarteile restauriert und wieder zusammengefügt. Im Mittelteil des Schreins die Figur der Maria mit Kind, die von einem Strahlenkranz und einem großen Nimbus auf der Schreinwand hinterfangen wird. Im Nimbus die Inschrift A. Links und rechts in zwei Nischen übereinander Katharina und Martin sowie Maria Magdalena und Anna Selbdritt. Alle Figuren stehen auf Sockeln, die die zugehörigen Tituli tragen (B). In den Innenseiten der Flügel in zwei Reihen übereinander angeordnet die Zwölf Apostel, ebenfalls durch Tituli auf den Sockeln bezeichnet (C). Auf den Außenseiten der Flügel die Reste von Gemälden, die die Verkündigung und Geburt Christi sowie die Heimsuchung und die Anbetung durch die Heiligen Drei Könige zeigen. Bei der Restaurierung von 1938 fand man auf der Rückwand des Schreins hinter der Marienfigur die in braunroter Farbe auf Kreidegrund ausgeführte Inschrift D.2) Die Buchstaben der Inschrift A glatt vor schraffiertem Hintergrund in den Goldgrund der Rückwand einpunziert, die Versalien der gemalten Inschriften B und C rot, die Minuskeln in Schwarz auf silbernem Grund.

Maße: H.: 188 cm; B.: 172 cm (Schrein); Bu.: 5 cm (A), 2,5 cm (B, C).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A), gotische Minuskel mit Versalien und frühhumanistischer Kapitalis (B), gotische Minuskel mit Versalien (C), Kursive (D).

  1. A

    AVE · SANTISSIMA · MARIA · MATER · DEI 3)

  2. B

    · S · Katherina · // · S · Martinusa) · // · S · Maria · magd(alena) // · S · ANNA ·

  3. C

    · S · Petrus · // · S · Andreas · // · S · Jacobus · · S · Philipp(us) · // · S · Bartholom(eus) // · S · Matheus · · S · ioha(n)nes · // · S · Thomas · // · S · iacob(us) ba) · S · Simon · // · S · Iudas · tade(us) · // · S · Mathiasb) ·

  4. D

    1509c) / A(n)no d(omi)ni m° ccccc° viiii° / is dusse tafele bereidet / dorch bartolt kastrop / bordich v(a)n north(e)nd) vn(de) / wone(n)de to der tidt in / der baruote(n) strate(n) an / dem orde der jode(n) / straten dem god geue / syne(n) vrede vn(de) sy / ome ghenedich vn(de) / barmhertich / o maria bidde dy(n) / leue kint vor my

Übersetzung:

Sei gegrüßt, heiligste Maria, Mutter Gottes. (A)

Im Jahr des Herrn 1509 ist diese Tafel angefertigt worden durch Bartold Kastrop, gebürtig aus Northeim und zu dieser Zeit in der Barfüßerstraße an der Ecke zur Jüdenstraße wohnhaft, dem Gott seinen Frieden geben möge und ihm gnädig und barmherzig sei. O Maria, bitte deinen lieben Sohn für mich. (D)

Kommentar

In den Inschriften A–C Worttrenner in Form von Quadrangeln mit nach oben und unten ausgezogenen Zierhäkchen. Die in einer hohen schlanken Form der frühhumanistischen Kapitalis einpunzierte Inschrift A enthält A mit weit überstehendem Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken, die Schräghasten nach unten keilförmig verbreitert, epsilonförmiges E neben kapitalem E, konisches M mit sehr kurzem Mittelteil und keilförmig verbreiterten Schräghasten, N mit ausgebuchteter Schräghaste, auch die Haste des T nach unten keilförmig verbreitert. Im Vergleich zu zwei weiteren Altären Kastrops aus den Jahren 1498 und 1499 in Göttingen-Geismar und in Reinhausen handelt es sich hier um eine elegantere, weiter entwickelte Form der frühhumanistischen Kapitalis (vgl. Nr. 82).

Bartold Kastrop, der wohl in Northeim geboren und dort 1488 als Bürger aufgenommen wurde,4) fertigte 1499 einen Altar für die Martinskirche in Geismar an und zusammen mit Heinrich Heise, dessen Schwester Katharina Kastrops Ehefrau war, 1524 einen Altar für St. Marien in Göttingen. Beide Altäre wurden ebenfalls mit einer Künstlerinschrift versehen.5) In Göttingen hatte Kastrop 1499 das Bürgerrecht erworben.6) Wie die Inschrift D belegt, wohnte Kastrop an der Ecke Barfüßerstraße/Jüdenstraße und zwar in dem heute als ‚Junkernschänke’ bezeichneten Haus Barfüßerstr. 5.7) Die Witwe des vor dem Herbst 1532 verstorbenen Bartold Kastrop8) verkaufte das Haus 1541 an den Bürgermeister Gyseler Swanenflogel.9) Ungewöhnlich ist die auf der Altarwand angebrachte ausführliche Inschrift D insofern, als sie für den Betrachter des Altars nicht sichtbar ist, da sie durch die davor befestigte Marienfigur verdeckt wird. Die im Strahlenkranz der Figur stehende Inschrift soll somit nicht den Betrachter über den ausführenden Künstler und seinen Wohnsitz informieren, sondern ist lediglich an die in der Fürbitte direkt angesprochene Maria gerichtet. Das mag auch den Umstand erklären, daß Kastrop zwar seinen Herkunftsort angibt, nicht aber seinen Wohnort, auf den sich die Straßenangabe bezieht.

Textkritischer Apparat

  1. M mit eingezogenem ausgebuchteten Balken, in Form eines H.
  2. b mit hochgestelltem Häkchen dahinter. Durch die Zusätze a und b sind Jacobus maior und Jacobus minor auch auf dem Altar in Reinhausen (Nr. 82) unterschieden.
  3. Linksgewendete 5.
  4. Hinter dem h eine schmale und eine breite Haste, darüber ein breiter Kürzungsstrich. Auch wenn die Lesung north(e)n lautet, ist hier wohl nicht Nörten gemeint, sondern Northeim. Vgl. Anm. 4.

Anmerkungen

  1. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 105, beschreibt den alten Zustand.
  2. Zur Ausführung Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 101, sowie Friedrich Buhmann, Bertold Kastrop, ein Meister der Marien-Altäre in Süd-Niedersachsen. In: Göttinger Blätter für Geschichte und Heimatkunde Südhannovers, N. F. 4, 1938, Heft 3, S. 16–20, hier S. 17.
  3. Beginn einer Antiphon, in ausführlicherer Form auf den Rahmenleisten des Marienaltars in Reinhausen (Nr. 82), zum Textnachweis vgl. dort.
  4. Buhmann (wie Anm. 2), S. 17. Northeimer Neubürgerbuch. In: Northeimer Heimatblätter 3, 1927, S. 1–16, 54–63, 85–95, 132–143, hier S. 95, 14b 1, Zeile 29. Die von Walter Hellige (Der Geismarer Marienaltar. In: Göttinger Jahrbuch 18, 1970, S. 65–75) vertretene Ansicht, Kastrop stamme aus Nörten, beruht auf der Ortsangabe in der Künstlerinschrift auf dem Geismarer Altar von 1499 (vgl. DI 19, Stadt Göttingen, Nr. 57), die als north mit folgender kurzer und anschließender nach unten ausgezogener Haste mit großem Kürzungsstrich darüber ausgeführt ist und damit der Ortsangabe in der Inschrift E ähnelt. Selbst wenn man in beiden Fällen north(e)n liest, spricht nichts dagegen, es als ‚Northeim’ aufzufassen, zumal sich bei einer Ortsangabe ‚Nörten’ der in beiden Ausführungen enthaltene große Kürzungsstrich im Grunde erübrigt hätte.
  5. Vgl. DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 57 u. 87. Zu Kastrop und Heise: Hans Georg Gmelin, Zum Werk des Göttinger Malers Heinrich Heisen. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 5, 1966, S. 161–180; sowie Gmelin, Tafelmalerei, S. 73ff.; S. 588ff., Nr. 196; S. 601f., Nr. 199.
  6. Kelterborn, Bürgeraufnahmen, S. 132. Bei der Bürgeraufnahme wurde Kastrop als pictor bezeichnet.
  7. StA Göttingen, Kelterborn, Häuserbuch, Bd. 8B, K33.
  8. Buhmann (wie Anm. 2), S. 18.
  9. Vgl. den Artikel zum Haus Barfüßerstr. 5 in DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 100 (dort weitere Literaturangaben).

Nachweise

  1. Friedrich Buhmann, Bertold Kastrop, ein Meister der Marien-Altäre in Süd-Niedersachsen. In: Göttinger Blätter für Geschichte und Heimatkunde Südhannovers, N. F. 4, 1938, Heft 3, S. 16–20, hier S. 16 (D), Abb. neben S. 88.
  2. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 105 (A–C).
  3. Münzenberger/Beissel, Altäre, Bd. 2, S. 188 (A).
  4. Stuttmann/von der Osten, Bildschnitzerei, S. 101 (D) u. Abb. Tafel 91.
  5. K. Deckert, Bartold Kastrop. Die Auffindung des Namens eines südniedersächsischen Bildschnitzers um 1500. In: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 1940/41, S. 197f., hier S. 198 (D) u. Abb. S. 178–180.
  6. Kat. Kunst und Kultur 2, Nr. 85, S. 385 (D).

Zitierhinweis:
DI 66, Lkr. Göttingen, Nr. 116 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di066g012k0011604.