Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 854 Seedorf (Lk. Herzogtum Lauenburg), St. Clemens u. Katharinen 1617

Beschreibung

Epitaph des Heinrich Witzendorff. Holz, geschnitzt und farbig gefasst mit schwarz gefasster Metalltafel. Das mehrteilige Epitaph stammt aus St. Johannis, wo es in der auf der Südseite des Turms gelegenen Kapelle der Familie Witzendorff angebracht war. Nach der Auflassung der schon lange nicht mehr genutzten Familienkapelle im Schuddemantel (vgl. Nr. 129) und der Entfernung der dort noch befindlichen Grabdenkmäler zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Epitaph nach Seedorf gebracht, wo die Familie von Witzendorff ansässig ist, und in der dortigen ev.-luth. Kirche an der Südwand des Kirchenschiffs angebracht. Trotz seiner verhältnismäßig bescheidenen Größe zeigt das Epitaph ein ungewöhnlich umfangreiches Bild-/Textprogramm. Den Mittelteil bildet eine hochrechteckige schwarz gefasste Metalltafel mit der Inschrift A, die Buchstaben erhaben und in Gold hervorgehoben. Die heutige farbige Fassung entspricht nicht exakt den darunter sichtbaren Buchstabenkonturen und ist insgesamt versetzt angebracht. Eingerahmt wird der Mittelteil von zwei heute leeren Nischen, vor denen – dem das Epitaph detailliert abbildenden Kupferstich (vgl. Kommentar) zufolge – ursprünglich links die Tugend Patientia mit Lamm und Kreuz und rechts die Tugend Constantia mit einer Säule standen. Beide Tugenden waren durch die Inschriften B und C unten auf den Sockeln bezeichnet. Unten rechts außen neben der Nische der Constantia ein Täfelchen mit der Inschrift D, darunter auf dem Gesims stehend ein vergoldeter Korb, auf dem eine kleine Tafel mit der Inschrift E liegt. Beide Inschriften beziehen sich auf die Akanthuspflanze, die durch den Korb niedergedrückt trotzdem zu seinen Seiten hervorwächst. Gegenstücke zu den beiden Inschriften D und E fehlen – auch im Kupferstich – auf der linken Seite, wo nur noch – in der Aussage ähnlich – ein vergoldeter Amboss erhalten ist, auf dem mit einem Hammer eine Feder bearbeitet wird.1) Auf dem Fries über dem Mittelteil die Inschrift F.

Im oberen Teil des Epitaphs in der Mitte über dem Fries von zwei Pilastern eingerahmt ein oben durch einen Bogen abgeschlossenes Relief, das zwei sitzende Frauen, Patientia mit Kreuz und Constantia mit Palme, zeigt, darüber oben im Bildfeld in den Wolken der Heilige Geist in Gestalt der Taube, über die zwei Engel eine Krone halten, oben im Bogen die Inschrift G. Zu beiden Seiten des mittleren Reliefs zwei hochrechteckige Bildfelder mit den Reliefdarstellungen der Elemente Luft und Feuer mit den Inschriften H und I oben auf der Rahmenleiste. Außen in dieser Zone aus Wolken emporsteigend die Halbfiguren zweier Engel, der linke mit Siegerkranz, der rechte mit Schild und Schwert, beide bezeichnet durch die Beischriften J und K auf den senkrechten Rahmenleisten. In der das Epitaph bekrönenden Zone seitlich links und rechts Kartuschen, darauf in runden, von Volutenornament eingefassten Medaillons Reliefdarstellungen der beiden anderen Elemente Erde und Wasser, denen auf dem einfassenden Rahmen die Inschriften L und M zugeordnet sind. Zur Mitte hin neben den Kartuschen zwei von Löwen gehaltene Wappenschilde, mit der anderen Pranke hält der linke Löwe eine oben mit einem Kreuz im Siegerkranz besetzte Säule, der rechte Löwe eine bekrönte Säule, von der ein Schellenkranz abhängt. In der Mitte halten zwei Engel eine ovale Kartusche mit der Inschrift N darauf. Die Kartusche lehnt an einem Sockel, auf dem ein großer Kelch mit der als Sonne gestalteten Hostie darüber steht, zu beiden Seiten brennende Kerzen oder Fackeln, aus denen Rauch aufsteigt. Oberhalb der Hostie die Inschrift O, darunter zu beiden Seiten der Hostie die Inschrift P, beide erhaben in vertieften Feldern.

Auf dem mehrteiligen Unterhang in der Mitte eine große querovale Kartusche mit der in Lüneburg verbreiteten Darstellung des städtischen Friedens, wie ihn u. a. auch der Kamin aus dem Witzendorffschen Haus Grapengießerstr. 45 (Nr. 575) und das Gemälde des Daniel Frese (Nr. 518) zeigt. Das Relief stellt vor der von der Sonne beschienenen Stadtsilhouette Lüneburgs in der Mitte die thronende Res publica dar, vor ihr, an ihr linkes Bein gelehnt, die schlafende Pax, außen links die Tugenden Prudentia und Justitia, rechts Concordia mit Wabe und Bienenstock sowie Religio mit Büchern und Palme, über der die von einem Strahlenkranz umgebene Taube schwebt. Die Frauenfiguren sind mit Ausnahme der Justitia durch die Tituli Q im Bild bezeichnet, die Tituli der beiden äußeren Figuren senkrecht am Bildrand in vertieften, schwarz gefassten Buchstaben, die anderen Tituli erhaben und vergoldet. Justitia sitzt auf einem vergoldeten Stuhl, dessen Wange zwei sich reichende Hände mit einem Herz darüber zeigt, eigentlich Symbol der Concordia, darunter der farblich nicht hervorgehobene Titulus R in erhabenen Buchstaben, der sich auf die hier nicht vorhandene Figur der Tugend Fides beziehen müsste. Umgeben ist die Kartusche von der vierteiligen, durch Ornament unterbrochenen Inschrift S. Zu beiden Seiten der Kartusche sind ikonographische Elemente und Texte aus einem Kupferstich Sadelers verarbeitet (vgl. Kommentar): auf zwei den Fries tragenden Voluten links die Darstellung des Opferlamms auf einem Altar zwischen zwei Öllampen mit der Inschrift T unter der Kehle der Volute, sowie unterhalb der Volute die Inschrift U, rechts die Darstellung der drei Parzen, von denen eine den Lebensfaden durchschneidet. Darunter in der Kehle der Volute die Inschrift V, die sich auf die Inschrift W unterhalb der Volute bezieht. Den unteren Abschluss des Epitaphs bildet eine große von Voluten gerahmte und unten durch einen Engelskopf abgeschlossene Kartusche mit der Inschrift X, außen links und rechts zwei kleinere Kartuschen mit den Inschriften Y und Z, darüber auf der rechten Seite auf dem Gesims die Inschrift AA in schwarzen erhabenen Buchstaben auf goldenem Grund, der eine Entsprechung auf der linken Seite fehlt.

Soweit nicht anders vermerkt, sind die Buchstaben aller Inschriften erhaben und in Gold auf schwarzem Grund ausgeführt.

Inschriften B und C nach dem Kupferstich.

Maße: H.: 200 cm; B.: 115 cm; Bu.: 2,5–3 cm (A), 0,7–1,5 cm (B–R, T–W, AA), 2 cm (S), 1–1,5 cm (X–Z).

Schriftart(en): Kapitalis (A–O, Q, R, T, V, AA) Griechisch (P), Kapitalis und humanistische Minuskel (S), humanistische Minuskel mit Kapitalisversalien (U, W, X–Z).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/6]

  1. A

    HENRICO WITZENDORPHIO / MAGNO ILLI SEMONIa) ET CONSVLI / LVNEBVRG(ENSI) EMERITO, / QVI IN HOC EVIGILAVIT, VT CONCORS / PATRIA A VI FRAVDEQ(VE) EXTERNA TVTI=/OR STABILI QVIETEb) CVM DIGNITATE / FRVERETVR: OMNI OFFICIO PA=/TRIAE PARENTIS LAVDATISSIME PER=/FVNCTVS, IN ADVERSIS PATIENS / ET STANS IN RECTO FIRM(VS) POSTQV(AM) / PLEN(VS) AETATE AC MERITIS, A NOBIS DIS=/CESSIT, AVTORITATIS SVAE ET VIRTVTIS / SVMMAE HVMANITATI CONIVNCTAE / TRISTE DESIDERIVM BONIS RELIQVIT O(MN)IB(VS), / HEREDES PATRI AGNATOQ(VE) DE SE / OPTIME MERITO. / P(VBLICE) P(OSVERVNT) / OBITc) XXIXd) NOVEMB(RIS) / M DCXVII.e)

  2. B†

    PATIENTIA EMERSI

  3. C†

    CONSTANTIA VICI

  4. D

    DEPRESSA / RESVRGIT

  5. E

    ACANTHUS

  6. F

    APO · 21 · QUI VICERIT POSSIDEBIT HAEC ET ERO ILLI DEUS ET ILLE ERIT MIHI FILIUS2)

  7. G

    PATIENTIAE ET CONSTANTIAE

  8. H

    HAC AVRA RECREOR

  9. I

    COELESTI HOC EXCOQUOR IGNE

  10. J

    VIC//TORIA

  11. K

    MALORUM // DISPARTIOf)

  12. L

    NON IGNARUS ORTUS TERRENI

  13. M

    HAC ABLUOR UNDA

  14. N

    MUNDI / REDEMPTIO / SANGUIS DIVINI VERBI3)

  15. O

    LAUDATE DOMINUM4)

  16. P

    ΘΑΝΑΤΟΙ // ΑΘΑΝΑΤΑ

  17. Q

    PRVDENTIA // PAX // RES PUB(LICA) // CONCORDIA // RELIGIO

  18. R

    FIDES

  19. S

    HOS voveo cives // QVOS PUBLIca cura Fatigat // ReiPUBL(icae) CurIS · // immori Pulchrum est5)

  20. T

    POSSIDETE ANIMAS / VESTRAS6)

  21. U

    Sistatur ut anim(us) / Deo sui compos.

  22. V

    HIOB . 14

  23. W

    Constituisti illis / Terminos / Qui praeteriri / non Roteruntg)7)

  24. X

    Defuncti Valedictio & in patriam pietas /Da deus, ut claros inter Luneburga Labores /AEternum spectes Decus et tibi Dextra secundent /Numina proventus. hac spe salve atq(ue) valebis. /Eiusdem admonitio ad Reip(ublicae) Senatum: /O Vigiles Aperite animos incuria ne vos /Impia terribili deprimat exitio:8)

  25. Y

    Fortis ferendo / vincere.

  26. Z

    Est momentum A Quo magnum / Mirabile pendet, dat Bona / Perpetuo vel, mala / Vita Brevis

  27. AA

    ALTIh) SUB LEGE TENEMUR

Übersetzung:

Heinrich Witzendorff, jenem großen Ratsherrna) und ehemaligen Lüneburger Bürgermeister, der darüber gewacht hat, dass die einträchtige Vaterstadt sicherer vor Gewalt und von außen kommender Hinterlist beständige Ruhe in Würde genießen kann, der jede Pflicht eines Vaters des Vaterlandes in löblichster Weise erfüllt hat, in Widrigkeiten geduldig und im moralisch Richtigen fest blieb, und der, nachdem er reich an Lebensjahren und Verdiensten von uns geschieden ist, allen Guten eine traurige Sehnsucht nach seiner Autorität und seiner mit höchster Menschlichkeit verbundenen Tugend hinterlassen hat, ihm, dem um sie sehr verdienten Vater und Verwandten haben die Erben (dies) öffentlich aufgestellt. Er starb am 29. November 1617. (A)

Durch Geduld bin ich gerettet worden. (B)

Durch Beständigkeit habe ich gesiegt. (C)

Der Akanthus richtet sich wieder auf, wenn er niedergedrückt wurde. (D, E)

Wer gesiegt hat, der wird dies besitzen, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein. (F)

Der Geduld und der Beständigkeit. (G)

Von dieser Luft werde ich erfrischt. (H)

Von diesem himmlischen Feuer werde ich gereinigt. (I)

Der Sieg. (J)

Das Verschwinden der Übel. (K)

Der Herkunft aus dem Erdreich eingedenk. (L)

Mit diesem Wasser werde ich reingewaschen. (M)

Das Blut des göttlichen Wortes ist die Erlösung der Welt. (N)

Lobt den Herrn. (O)

Die Tode. Das Unsterbliche. (P)

Klugheit. Frieden. Das Gemeinwesen. Eintracht. Religion. (Q)

Glaube. (R)

Diejenigen erkläre ich feierlich zu (wahren) Bürgern, welche die Sorge um das Gemeinwohl umtreibt. Es ist schön, sich in Sorgen um das Gemeinwohl zu verzehren. (S)

Seid im Besitz eurer Seelen, damit der in sich ruhende Geist in Gott seinen Halt finde. (T, U)

Du hast jenen Grenzen gesetzt, die nicht überschritten werden können. (W)

Lebewohl und die Liebe des Verstorbenen zu seiner Vaterstadt: Gebe Gott, dass du, Lüneburg, bei deinen ruhmvollen Anstrengungen auf den ewigen Ruhm schaust und dass dir das wohlwollende göttliche Walten deinen Fortgang begünstige. In dieser Hoffnung sage ich: Gruß dir und lebe wohl. Mahnung desselben an den Rat der Stadt: O ihr Wächter, haltet Eure Sinne offen, damit nicht gottlose Sorglosigkeit euch in schreckliches Verderben stürzt. (X)

Es kennzeichnet den Tapferen, dass er durch Erdulden siegt. (Y)

Es ist der Augenblick, von dem auf sonderbare Weise Großes abhängt, das kurze Leben gibt auf ewig Gutes oder Schlechtes. (Z)

Wir unterliegen dem Gesetz des Schicksals. (AA)

Versmaß: Teile von Hexametern (D/E, H, I, M, AA), ein Hexameter (S, 1. Teil), drei Hexameter und ein elegisches Distichon (X), jambischer Dimeter (Y), ein elegisches Distichon (Z).

Wappen:
Witzendorff9)Töbing10)

Kommentar

Die Beurteilung der ursprünglichen Ausführung der Inschrift A wird dadurch erschwert, dass die heutige Vergoldung an vielen Stellen nicht den Konturen der erhabenen Buchstaben entspricht. Es ist zwar wohl davon auszugehen, dass der ausgeprägte Strichstärkenwechsel ebenso wie die E, L und T mit keilförmigem Sporn an den Balkenenden nicht erst das Werk eines Restaurators sind, aber insgesamt entsprechen die Buchstaben in ihrer heutigen Fassung eher dem Geschmack des 19. Jahrhunderts als den Vorstellungen der Renaissance. Die im Verhältnis zur textlichen und ikonographischen Qualität des Epitaphs insgesamt eher schlicht wirkenden schlanken hohen Buchstaben der humanistischen Minuskel mit teilweise stumpfen Schaftenden, einstöckigen a, e mit kleinem oberen Bogenabschnitt und r, das aus einem geschwungenen Schaft und einem kurzen Mittelbalken besteht, ähneln sehr den Inschriften in humanistischer Minuskel auf dem Epitaph Töbing/Dassel von 1621 (Nr. 863). Es ist daher zu vermuten, dass beide Epitaphien aus derselben – unbekannten – Werkstatt stammen.

Heinrich Witzendorff, der älteste Sohn des Franz Witzendorff und der Ursula Garlop (vgl. Nr. 503), wurde 1551 geboren. Im Jahr 1565 immatrikulierte er sich im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinem Cousin Hieronymus Witzendorff an der Universität Jena, danach laut der Leichenpredigt Gesners auch in Erfurt und in Ingolstadt, kehrte aber bereits 1568 nach Lüneburg zurück.11) Seinen Leichenpredigten zufolge ging er bis 1568 auch auf eine Bildungsreise durch Deutschland und Italien, 1568/69 nach Leipzig und anschließend auf Reisen nach Ungarn, Österreich und Oberdeutschland, die auch Besuche an verschiedenen Fürstenhöfen einschlossen. Auch wenn auf die Ausbildung dieses Sohnes aus besonders wohlhabender Patrizierfamilie große Sorgfalt verwendet wurde, so zeigt dessen Itinerar für die Jahre von 1565 bis 1572 – also für den 14- bis 21jährigen Patriziersohn –, dass die Studien allein durch die vielen Reisen nicht sonderlich intensiv gewesen sein können. Seit 1572 ist Heinrich Witzendorff dann als Sülfmeister in Lüneburg nachweisbar. Beim Tod seines Vaters 1574 war er erst 23 Jahre alt und musste somit schon in sehr jungen Jahren in dessen Nachfolge Verantwortung übernehmen. Seit 1579 ist er als Barmeister und seit 1592 als Sodmeister nachweisbar. In den Rat wurde er im Jahr 1579 gewählt, 1594 zum Bürgermeister.12) Am 26. Oktober 1574 heiratete er Elisabeth Töbing (zu ihr vgl. ihre Grabplatte Nr. 569), die schon 1586 starb. Zum Zeitpunkt seines Todes 1617 wohnte Heinrich Witzendorff in dem Haus Schröderstraße 18 an der Ecke zur Apothekenstraße, über dessen reiche Inneneinrichtung ein Nachlassinventar detailliert Auskunft gibt (vgl. a. Nr. 855).13) In seinem am 28. August 1617 verfassten Testament legte Heinrich Witzendorff fest, dass er neben seiner Ehefrau Elisabeth in den schüttemantel ad Sanct Johannem begraben werden wollte.14) Außerdem enthielt das Testament die Verfügung, den von seinem Vater ererbten Interimspokal mit den Wappen Witzendorff und Töbing zu versehen und ihn in das Ratssilber zu geben (vgl. dazu Nr. 381). Vermutlich stammte der Entwurf des Epitaphs und seiner Inschriften von Heinrich Witzendorff selbst, der in seinem Testament die Absicht äußerte, sich noch zu Lebzeiten im Schüttemantel von St. Johannis (vgl. Nr. 129) ein Epitaph aus Messing setzen lassen zu wollen. Auch wenn dies der Inschrift A zufolge wohl nicht mehr geschah, so ist doch davon auszugehen, dass Heinrich Witzendorff seinen Nachfahren einen Entwurf hinterließ, nach dem sie das Epitaph anfertigen lassen konnten.

Die Vorlagen für dieses Epitaph wurden aus verschiedenen Werken der Druckgraphik entnommen. So entspricht die Darstellung des Korbes, der den Akanthus niederdrückt, exakt der gedruckten Darstellung bei Camerarius.15) Die Motive und Inschriften zu beiden Seiten des unteren Teils mit der Darstellung des Opferlamms und der drei Parzen entsprechen einem Kupferstich von Aegidius Sadeler aus dem Jahr 1589, in dem sich bereits die Kombination der Bilder mit dem Hiobzitat (hier Inschrift W), einer Inschrift auf dem Altar unter dem Opferlamm (hier Inschrift T), und den unten auf dem Blatt wiedergegebenen Texten der Inschriften U und Y finden.16) Die Darstellungen des Opferlamms und die inschriftliche Mahnung, seelischen Halt in Gott zu finden (T/U), sind zugleich eng auf die ehemals über dieser Darstellung des Opferlamms angebrachten Figur der Patientia bezogen, ebenso wie auf der anderen Seite die durch das Hiobzitat (V/W) erläuterte Darstellung der Parzen unterhalb der Statue der Constantia die Standhaftigkeit bis in den Tod versinnbildlichen sollen.

Die auf die vier Elemente bezogenen Inschriften H, I, L und M finden sich in einem Kupferstich des Hendrick Goltzius aus dem Jahr 1581 zusammen mit entsprechenden Darstellungen der Elemente, die auf dem Epitaph jedoch vereinfacht sind.17) Das größte Relief des Epitaphs stellt die ruhende, an die Res publica gelehnte Pax dar, umgeben von den Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Eintracht und der Religion, sowie dem wenn auch nur durch einen Titulus vertretenen Glauben. Die Darstellung ist hier im Vergleich zu dem Gemälde Freses Nr. 518 und den Kaminreliefs Nr. 575 und Nr. 577 um die Tugenden Prudentia, (Fides) und Religio erweitert. Dass dieses Motiv, das sich schon an dem Kaminsturz aus dem Haus des Heinrich Witzendorff findet (Nr. 575), an zentraler Stelle auf seinem Epitaph wiederholt wird, zeigt, wie wichtig dem Lüneburger Bürgermeister der Gedanke war, der Pax quasi als oberster Schutzpatronin das Stadtregiment zu unterstellen, an dem alle Tugenden mitwirken sollten. In der Silhouette der Stadt Lüneburg auf dem Epitaph ist in der Fassade des Rathauses die mittlere Nische gut zu erkennen, in der die Figur der Pax aufgestellt war (vgl. Nr. 775).

Zu dem mit emblematischen Darstellungen überfrachteten Epitaph, dessen Inschriften für den normalen Betrachter teilweise bis zur Unverständlichkeit verklausuliert sind, passen die 1619 gedruckten, weitschweifig in lateinischer Sprache verfassten Ausführungen von Plato Matthias Schilher zur Ausdeutung des Grabdenkmals auf mehr als 200 Druckseiten.18) Dieses Werk, das über längere Passagen eher den Charakter einer Leichenpredigt hat, als dass es sich gezielt mit der Ikonographie und den Inschriften des Epitaphs beschäftigt, spricht von einem Epitaph aus Marmor(!) in St. Johannis. Der beigefügte Kupferstich19) des Witzendorffschen Epitaphs stimmt weitgehend mit den Inschriften des Epitaphs überein. Im erläuternden Teil des Werks ist allerdings anstelle der Inschrift A bewusst eine andere Inschrift gesetzt (inscriptio quam monumenti tabula capere non potuit).20) Die Person des Lüneburger Bürgermeisters tritt in den folgenden Erörterungen weitgehend zurück hinter die umfänglichen und weitschweifigen Auslassungen Schilhers zu den Bild- und Textmotiven des Epitaphs, die gespickt sind mit Zitaten diverser, vor allem auch antiker Autoren. Mit den Inschriften des Epitaphs haben viele dieser Erörterungen höchstens insoweit noch etwas zu tun, als das Epitaph mit seinen Texten und Bildern die Stichworte zu den Ausführungen gibt. Ganz besonders breiten Raum nehmen die Erläuterungen zur Emblematik der Res publica ein, in deren Zusammenhang auch die Tugenden gehören. Die Ausführungen werden hier auch auf den Verstorbenen bezogen, dessen Sorge über den Tod hinaus seiner Vaterstadt Lüneburg galt, wie die Inschrift X anschaulich zeigt.21) Schilher spricht auch die Darstellung der ruhenden Pax an, die das größte Glück für das Gemeinwesen darstellt und damit der Res publica Anlass bietet, mit der erhobenen rechten Hand in den Himmel zu weisen.22) Wenn man allerdings erwartet, hier die Erklärung für das in Lüneburg so ungewöhnlich beliebte Bildmotiv zu finden, wird man enttäuscht. Auch Schilhers Ausführungen hierzu sind gemessen an seinen anderen Erläuterungen äußerst knapp. Im Anschluss an die Betrachtungen zur ‚weltlichen Ikonographie‘ im unteren Teil des Epitaphs befasst sich Schilher ausführlich mit der ‚geistlichen Ikonographie‘ und den theologischen Motiven vor allem in der oberen Zone des Epitaphs, ganz besonders auch mit den dort dargestellten vier Elementen, die er im christlichen Sinn ausdeutet.23) Den Sinn der rätselhaft erscheinenden griechischen Inschrift P, die – auf beiden Seiten von Kelch und Hostie stehend – einerseits auf den Tod und andererseits auf das ewige Leben verweist, erklärt auch Schilher nicht im Detail.24) Dies ist charakteristisch für sein Apographum, das mehr aus Allgemeinplätzen als aus detaillierten Erklärungen besteht. Ganz in der Art einer Leichenpredigt stellt Schilher an das Ende seines Werks einen Epilog, der u. a. verschiedene Leichencarmina enthält.

Textkritischer Apparat

  1. SEMONI Kupferstich, Büttner nach dem Kupferstich. Vermutlich ein Fehler bei der Ausführung des Wortes SENATORI.
  2. CVIETE in der farbigen Fassung heute falsch restauriert.
  3. Das I deutlich höher als die anderen Buchstaben, wohl als OBIIT zu verstehen.
  4. XXXIX irrtümlich bei Büttner.
  5. Neulateinische Zahlzeichen.
  6. Irrtümlich anstelle von DISPARITIO.
  7. Irrtümlich anstelle von Poterunt. Möglicherweise falsch restauriert.
  8. Falsch restauriert. Bei Schilher korrekt FATI.

Anmerkungen

  1. Plato Matthias Schilher, Apographum monumenti gentilitii Lunaeburgensis ... . Lüneburg 1619. Im Text setzt Schilher (S. 51) als Beischriften zu dieser emblematischen Darstellung PERFER & OBDURA (‚Ertrage und harre aus!‘) sowie MERSUS UT EMERGAM (‚Ich bin untergegangen, um wieder aufzuerstehen‘). Der Kupferstich zeigt anstelle des Amboss mit Hammer und Feder einen Phoenix. Der Kupferstich weicht auch in anderen Details von der Gestaltung des Epitaphs ab.
  2. Apc. 21,7.
  3. Vgl. Justus Lipsius, De cruce libri tres ..., Rom 1595, S. 114: Mundi redemptio sanguis Dei verbi als Übersetzung einer griechischen Inschrift, die um eine Medaille mit einer Kreuzigungsszene umlief.
  4. Liturgischer Text nach Ps. 116,1. Vgl. Cantus Database, ID 003586.
  5. Der zweite Teil der Inschrift nach Erasmus. Vgl. Erasmus, Apophthegmatum Lib. IV, Z. 480f.
  6. Nach Lc. 21,19.
  7. Nach Iob 14,5.
  8. Montenay, Emblematum Christianorum Centuria, LI.
  9. Wappen Witzendorff (zwei gekreuzte Rechen). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  10. Wappen Töbing (Maulbeerbaum auf Hügel). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  11. Matrikel Jena, Bd. 1, S. 367. Matrikel Ingolstadt, Bd. 1, Sp. 889 (Artes). In der Erfurter Matrikel nicht nachweisbar. Paul Gesner, Christliche Leichbegängnußschrifft ... Heinrich Witzendorffs ... . Lüneburg 1818 (SUB Göttingen, 8° H. Hann. IV 9790 u. 2° Conc. fun. 111,6). Georg Bachmann, Leichenpredigt für Heinrich Witzendorff, Lüneburg 1618 (Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Cm 398). Nach Hipp, Bilder, S. 213, hätte er auch an den Universitäten Leipzig, Bologna und Padua studiert. In der Matrikel der Universität Leipzig lässt sich Heinrich Witzendorff indessen nicht nachweisen. Über den Besuch in den Städten Padua, Bologna, Ferrara und Venedig wird in der ausführlicheren Leichenpredigt Gesners (S. 38) lediglich gesagt, Heinrich Witzendorff habe sie und die dortigen Universitäten besichtiget. Entsprechend ist er in den Matrikeln von Bologna und Padua auch nicht eingetragen. Die Behauptung von Hipp (Bilder, S. 218), Heinrich Witzendorff sei promovierter Jurist gewesen, ist falsch.
  12. Büttner, Genealogiae, Stammtafel Witzendorff II.
  13. StA Lüneburg, UA b: 1618 Januar 8. Reinecke, Geschichte, Bd. 1, S. 431–433, setzt die Inventarliste in eine anschauliche Beschreibung besonders der Stube des Hauses um. Die Anmerkung von Hipp (Bilder, S. 227) anders als zu Reineckes Zeit sei die Ausstattung des Hauses heute nicht mehr zu beschreiben, ist nicht ganz zutreffend.
  14. StA Lüneburg, UA b: 1617 August 28.
  15. Camerarius, Symbola et Emblemata, Cent. I, Nr. LVIII. Vgl. a. Henkel/Schöne, Emblemata, Sp. 342.
  16. Kupferstich nachzuweisen im British Museum, Inv. Nr. 1914, 1209.1. http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details/collection_image_gallery.aspx?assetId=445788001&objectId=3041182&partId=1 (April 2015).
  17. British Museum, Inv. Nr. 1854, 0708.17, Porträt der Charlotte de Bourbon, die Darstellungen der vier Elemente in den Ecken des Kupferstichs. http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?objectId=1472357&partId=1&searchText=Goltzius&from=ad&fromDate=1581&to=ad&toDate=1581&page=1 (April 2015).
  18. Schilher, Apographum (wie Anm. 1).
  19. Ebd., S. 27.
  20. Ebd., S. 28.
  21. Ebd., S. 80.
  22. Ebd., S. 89.
  23. Ebd., S. 176–189.
  24. Ebd., S. 209f.

Nachweise

  1. Plato Matthias Schilher, Apographum monumenti gentilitii Lunaeburgensis ... . Lüneburg 1619 (Kupferstich und Text mit einigen Abweichungen).
  2. Büttner, Genealogiae, Stammtafel Witzendorff II (A).
  3. Hipp, Bilder, S. 229 (S, X), Abb. S. 228, 230 u. 249.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 854 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0085408.