Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 100: Stadt Lüneburg (2017)
Nr. 796† Rathaus 1607
Beschreibung
Inschriften an der Ost- und Nordfassade des ehemaligen Richthauses, dem nordöstlichen Teil des Rathauskomplexes. Die ehemals nach Norden zum Ochsenmarkt hin in Nischen aufgestellten Statuen, die vier Kaiser darstellen, waren mit Inschriften versehen. Büttner überliefert die am Rathaus angebrachten Inschriften in dem Zustand, in dem sie sich vor dem großen Umbau der 1720 fertiggestellten Ostseite und der damit verbundenen Umverteilung der Figuren und Inschriften befanden (vgl. Einleitung, Kap. 3.3.7.1./2.). Die Statuen von Justinian und Karl dem Großen trugen nach Büttner darüber angebrachte Inschriften (A, B), die Statuen Friedrichs II. und Karls V. darunter angebrachte Inschriften (C, D). Weitere fünf Statuen waren an der Ostseite des Richthauses in Nischen zum Markt hin aufgestellt. Es handelte sich um die Figuren der Tugenden Justitia, Severitas, Clementia, Veritas und Prudentia, die jeweils durch einen Titulus und eine erläuternde Inschrift bezeichnet waren.1) Die Statuen selbst sind erhalten; sie wurden zunächst 1720 zusammen mit den zugehörigen Schrifttafeln auf die Ostfassade der Seitenflügel (Tugenden) und die Süd- und Nordfassade der Flügelbauten (Kaiser) verteilt,2) und sind seit 1869 ohne die zugehörigen Schrifttafeln in die Ostfassade integriert (vgl. Kommentar); sie tragen heute Tituli aus jüngerer Zeit.3)
Inschriften nach Büttner.
- A
Justinianus I. immensa et dispersa L(egum) Rom(anarum) volumina in ordinem redigi curavit A(nno) C(hristi) 528
- B
Carolus Magnus cum Religione Christiana primus in Saxoniam Jus scriptum introduxit A(nno) C(hristi) 804
- C
Federicus II. Speculum juris Saxonici ex antiquis monumentis compilatum confirmavit A(nno) C(hristi) 1213
- D
Carolus V. Constitut(ionibus) judiciorum capitalium Vindicem scelerum et innocent(ium) asylum promulgavit A(nno) C(hristi) 1533
- E
JUSTITIA // Cuiqve suum tribuita)4)
- F
SEVERITAS // Severitas in calumniae manifesta et enormia delicta juris rigorem tempestive exercet
- G
CLEMENTIA // Clementia in indubiis et ubi causa apparet ad lenitatem cum judicio declinat
- H
VERITAS // Veritas discussis calumniae nebulis sole clarior resplendet et justitiam fovet
- I
PRUDENTIA // Prudentia justum ab injusto discernit et Severitatem cum clementia caute moderatur
Übersetzung:
Justinian I. hat die ungeheuer zahlreichen und weit verstreuten Bände der römischen Gesetze in eine Ordnung bringen lassen im Jahr Christi 528. (A)
Karl der Große hat als erster mit der christlichen Religion in Sachsen das geschriebene Recht eingeführt im Jahr Christi 804. (B)
Friedrich II. hat den Spiegel des Sächsischen Rechts, der aus alten (Schrift)denkmälern zusammengetragen wurde, bestätigt im Jahr Christi 1213. (C)
Karl V. hat durch die Bestimmungen zur Gerichtsbarkeit einen Richter für Kapitalverbrechen und den Schutz der Unschuldigen eingerichtet im Jahr Christi 1533. (D)
Die Gerechtigkeit. Sie teilt jedem das Seine zu. (E)
Die Strenge. Die Strenge wendet gegen erwiesene und schwerwiegende Delikte falscher Anklage rechtzeitig die Härte des Rechts an. (F)
Die Milde. Die Milde neigt in unzweifelhaften Fällen und wo der Fall klar ist, zur Milde mit Besonnenheit. (G)
Die Wahrheit. Die Wahrheit erstrahlt, wenn die Nebel der falschen Anklage aufgelöst sind, heller als die Sonne und unterstützt die Gerechtigkeit. (H)
Die Klugheit. Die Klugheit unterscheidet das Gerechte vom Ungerechten und vermittelt behutsam zwischen Strenge und Milde. (I)
Textkritischer Apparat
- Heute in der Inschrift der Justitia an der Ostfront wieder aufgegriffen.
Anmerkungen
- Zu den Figuren vgl. Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 104f. Anhand des Inschriftenprogramms, das Rogacki-Thiemann nicht kennt, lässt sich die von ihr geäußerte Vermutung, die heute in das Figurenprogramm integrierte Tugend Misericordia habe nicht zum urspünglichen Programm gehört, bestätigen.
- Zu der Umstellung der Figuren vgl. die Tabelle bei Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 109. Die Neuverteilung der Figuren samt den zugehörigen Inschriften und einer neuen Renovierungsinschrift aus dem Jahr 1720 ist dokumentiert in der Akte StA Lüneburg, AA B1 Nr. 2. Die Aufzeichnung der Inschriften entspricht zwar der Überlieferung Büttners, ist aber fehlerhaft und an vielen Stellen korrigiert.
- SEVERITAS // CLEMENTIA // MISERICORDIA / GLORIATVR / ADVERSVS / IVDICIVM // VERITAS // PRVDENTIA // IVSTINIA/NVS 1 · // CAROLVS / MAGNVS // IVSTITIA / CVIQVE SVVM / TRIBVIT · // FREDERI/CVS 2 // CAROLVS 5. Zur etwas willkürlich wirkenden Umgestaltung der Fassade 1869 vgl. Rogacki-Thiemann, Erneuerung, S. 108f.
- Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 13289b.
- StA Lüneburg, AB 56/7, fol. 283v.
- StA Lüneburg, AB 56/7, fol. 323r.
- Vgl. die entsprechenden Artikel im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. 1. Aufl., Bd. 1–5, Berlin 1971–1998, sowie die 2. digitalisierte Auflage http://www.hrgdigital.de.
Nachweise
- Büttner, Inscriptiones.
- StA Lüneburg, AA B1 Nr. 2 (Zustand 1720 vgl. Anm. 2).
Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 796† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0079600.
Kommentar
Die neun Figuren fertigte der Bildhauer Hans Schroder aus Bückeburger Sandstein und wurde für jede Statue nach Ausweis des Kämmereiregisters von 1607 mit 21 Talern entlohnt. Der Kämmerer vermerkt dazu: ... habe Jch mit obgemelten M. Hans Schroder vordingett Negen van gutem Bückenberger Stehn (d. h. Obernkirchener Sandstein) Bÿlde mit dem Pedestal dieselben zirlich und wol kunstrich zu hauwen so hog vnd groß Sie in die Steinscheffe (Nischen) ans Richthaus konnen föglich gebracht werden, alß 5 Thugede vnd 4 keiserliche Bildnus, sie oben van außen ans Richthauß ins Osten vnd Norden in die Steinscheppe sollen gesetz werden, zusammen vor Stehn, arbeides lohn vnd zu setzen ein ieder vmb 21 Thaler zu 33 (Groschen) ist vnd thuedt die Summa 389 (Thaler) 13 (Groschen).5)
Im selben Kämmereiregister wird unter den Aufträgen, die Daniel Frese 1607 noch am Fürstensaal und am Richthaus zu erledigen hatte, neben der Ausmalung des Niedergerichts (vgl. Nr. 799) auch festgelegt, dass er an dem Richthauße die Newen steinern Bilder mit der vorgulden Scriptur vmbt Richthauß herumb versehen sollte.6) Die Aufstellung der vier Kaiser in Nischen ist auch in der Entwurfszeichnung des Daniel Frese für die Rathausfassade zu sehen. Zu der Zeichnung vgl. den Kommentar zu Nr. 775. Zu bezweifeln ist allerdings, dass es in Entsprechung zum Richthaus einen ebenso gestalteten Bau an der Südostecke des Rathauses gegeben hat, wie ihn die Gebhardische Zeichnung darstellt. Damit ist auch das in der Zeichnung überlieferte Baudatum ANNO // 1605 anzuzweifeln, das sich in der Freseschen Zeichnung auf zwei Ädikulabekrönungen auf den Dächern beider Bauten verteilt.
Passend zu dem ‚Richthaus‘ vermittelten die Inschriften A–D eine kleine Rechtsgeschichte, die durch die vier Herrscherfiguren repräsentiert wurde. Inschrift A hebt als Verdienst des Kaisers Justinian das zwischen 528 und 534 erstellte Corpus Iuris Civilis hervor, Inschrift B bezieht sich auf die Aufzeichnung der Stammesrechte unter Karl dem Großen, Inschrift C nennt den von Eike von Repgow zusammengestellten Sachsenspiegel, der in die Regierungszeit Kaiser Friedrichs II. (1211/12–1250) fällt. Die Inschrift D bezieht sich auf die 1532 veröffentlichte Constitutio Criminalis Carolina, die als das erste Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs gilt und die Peinliche Gerichtsbarkeit regelte. Die dazugesetzten Jahreszahlen dienen der ungefähren zeitlichen Einordnung, entsprechen aber nicht mehr den heutigen Datierungen.7) Ergänzend dazu erläutern die Inschriften E–I die Rolle, die die verschiedenen Tugenden im Idealfall bei der Rechtsfindung spielen und wie sie dabei zusammenwirken sollen. Die Figuren stehen hier also nicht wie sonst oft als allgemeine Vertreterinnen ethisch richtigen Verhaltens, sondern sinnbildlich für alle Aspekte einer vorbildlichen Gerichtsbarkeit. Dieses geschlossene Bild-/Textprogramm wurde bereits durch die Umverteilung der Figuren im Zuge des 1720 abgeschlossenen Umbaus zerstört.