Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 760† St. Marien 1604 o. später

Beschreibung

Epitaph des Joachim von Broitzem. Das Epitaph befand sich nach Rikemann im Chor.

Inschriften nach Rikemann.

  1. A

    Joachimus a Broitzen I(uris) U(triusque) D(octor) Patricius Brunsvicensis D(omi)ni Bernhardi co(n)s(ulis) filius cancellarius primum Abbatiae Quedlinburgensis inde Sÿndicus Patriae per sexennium primus verum a seditiosis quibusdam et rebellibus contra Magistratum civibus quorum perniciosis machinationibus animose et fideliter cum senatu et recte sentientibus restiterat malam reportans gloriam renuntiatam patriae operam Amplissimae Lunaeburgensium Reipub(licae) addixit et fideliter dum vixit praestitit tandem vero post biennium gravibus ob publicam patriae et privatam suam calamitatem exhaustus curis et morbo confectus pie et placide decessit 6 Junÿ Anno C(hristi) 1603 aetatis vero 48 hic expiravit cuius corpus in Spe Beatae resurrectionis quiescit Adversarÿs eius altero anno post eius obitum proditionis convictis et in ipso patriae foro ignominiosae mortis supplicio affectis et ita defuncto et iam innocentiae testimonium dantibus

  2. B

    Psalm 118 Non moriar vivam Domini sed facta sonabo1)

Übersetzung:

Joachim von Broitzem, Doktor beider Rechte, Braunschweigischer Patrizier, Sohn des Herrn Bürgermeisters Bernt, war zunächst Kanzleivorsteher der Abtei Quedlinburg, dann sechs Jahre lang erster Syndikus seiner Vaterstadt. Als aber einige Bürger einen Aufruhr anzettelten und sich gegen den Magistrat erhoben und er sich deren Machenschaften gemeinsam mit dem Senat und mit den Rechtgesinnten mutig und fest entgegengesetzt hatte, womit er sich üblen Ruhm einhandelte, sagte er seine Unterstützung, die er seiner Vaterstadt aufgekündigt hatte, der hochberühmten Stadt Lüneburg zu und ließ sie ihr Zeit seines Lebens zukommen. Schließlich aber verschied er zwei Jahre später, erschöpft von den schweren Sorgen wegen des allgemeinen Unglücks seiner Vaterstadt wie auch wegen seines schlimmen privaten Schicksals von Krankheit verzehrt, fromm und friedlich am 6. Juni im Jahr Christi 1603; er starb im Alter von 48 Jahren. Sein Leib ruht hier in der Hoffnung auf eine selige Auferstehung. Seine Gegner wurden im anderen Jahr nach seinem Tod des Hochverrats überführt und auf dem Marktplatz ihrer Vaterstadt hingerichtet (mit schändlichem Tod bestraft), und bezeugten so dem Verstorbenen auch jetzt noch seine Unschuld. (A) 

Ich werde nicht sterben, sondern leben und die Taten des Herrn preisen. (B)

Versmaß: Ein Hexameter (B).

Kommentar

Zu dem Vater des Verstorbenen, dem Braunschweiger Bürgermeister Bernt von Broitzem, vgl. DI 56, Nr. 493 und 494. In der Inschrift ist die Rede von der sogenannten ‚Brabandtschen Revolution‘ (1601–1604), einem von dem Braunschweiger Notar Henning Brabandt angeführten Aufstand von Teilen der Braunschweiger Bürgerschaft gegen die Herrschaft der alten Ratsfamilien in der Stadt.2) Nachdem der alte Rat vorübergehend Zugeständnisse machen musste, setzte er sich schon 1604 erneut durch und ließ die Anführer des Aufstands im Herbst 1604 hinrichten. Danach ist das Epitaph datiert, auf dem in Inschrift A die Hinrichtungen erwähnt sind. In ihrer detaillierten Schilderung des Lebenswegs und den sehr persönlichen Angaben zu dem Verstorbenen und seiner Gemütsverfassung bildet die Grabschrift des Joachim von Broitzem die absolute Ausnahme unter den zahlreichen nur aus Topoi und Amtsdaten zusammengesetzten Lüneburger Grabschriften.

Joachim von Broitzem gehörte als Sohn des Bernt von Broitzem und der Elisabeth von Vechelde einer der alten Braunschweiger Ratsfamilien an. Dass er durch den Brabandtschen Aufstand gezwungen war, seine Heimatstadt Braunschweig zu verlassen, in der er seit sechs Jahren als Syndikus tätig war, betrachtete er offenbar als die große Katastrophe seines Lebens, die in ungewöhnlich ausführlicher Weise in seiner Grabschrift thematisiert wird. Daran änderte sich auch nichts dadurch, dass ihn die Stadt Lüneburg am 18. April 1601 unmittelbar nach seiner Flucht ebenfalls als Syndikus anstellte.3) Bemerkenswert ist eine in den Akten überlieferte, von Joachim von Broitzem geschriebene Liste, die eine Aufstellung sämtlicher bei seiner Einstellung in Lüneburg zu behandelnder Punkte enthält. Einigen dieser Punkte ist ein kurzer Vermerk zu dem Verhandlungsergebnis hinzugefügt. Daraus lässt sich u. a. entnehmen, dass die Stadt Lüneburg es abgelehnt hatte, einen in Lemgo zur Schule gehenden Sohn Broitzems mit 50 Mark zu unterstützen. Die Forderung nach einem Antrittsgeld in Höhe vom 800 Mark übertraf die Stadt Lüneburg noch, indem sie Broitzem wie seinem Vorgänger bei seiner Anstellung die beträchliche Summe von 1000 Mark zahlen wollte.4)

Anmerkungen

  1. Nach Ps. (G) 117,17. Die Stellenangabe in der Inschrift entspricht der Zählung der Luther-Bibel.
  2. Vgl. dazu Werner Spieß, Ratsherren der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1970 (Braunschweiger Werkstücke 52), S. 38–41. Sowie DI 56, S. XIX.
  3. StA Lüneburg, UA a: 1601 April 18.
  4. StA Lüneburg, AA A7a Nr. 10kk.

Nachweise

  1. Rikemann, Libellus, fol. 51v.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 760† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0076007.