Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 695 Rathaus 1600

Beschreibung

Gemälde, eine kombinierte Allegorie der Themen ‚Verleumdung‘, ‚Gerechter Richter‘, ‚Gute und böse Mächte‘ und ‚Gesetz und Gnade‘ darstellend. Öl auf Leinwand. Das querrechteckige Gemälde hängt im ersten Stock des Treppenhauses der Eingangshalle. Es zeigt in der Mitte den halb kahlen, halb belaubten Baum aus dem Bildthema ‚Gesetz und Gnade‘. Rechts im Baum hängt ein Schild, der oben die Inschrift A trägt. In der rechten unteren Bildecke die Jahreszahl B. Vor der Teile Lüneburgs darstellenden Stadtsilhouette im Gewitter im Hintergrund sitzt ganz links der Richter, der sich das linke Ohr zuhält, um bösen Einflüsterungen zu entgehen (vgl. a. das Gemälde Freses Nr. 519); der Richter ist auf der Rücklehne seines Throns durch den Titulus C bezeichnet. Oben über dem Thron die durch den Titulus D bezeichnete Tugend Sapientia. Vor dem Richter auf der verdorrten Seite des Baumes die bösen Mächte, die durch die Tituli E bezeichnet sind und die als am Boden sitzende angeklagte Männerfigur dargestellte Patientia (Titulus F) quälen. Auf dem Geldsack der Avaritia die Ziffern G, in den Händen hält Avaritia einen Pokal und den Kalkberg. Am Baum lehnt zusammengesunken Tristitia (H). Rechts unter der belaubten Krone des Baumes im Siegeszug die ebenfalls durch Tituli (I) bezeichneten Tugenden Veritas und Constantia, die die von Innocentia (J) begleitete Verkörperung der Patientia (K) in Männergestalt im Triumphzug führen. Gekrönt wird Patientia von der Figur der Victoria (L), dem Zug folgt ganz rechts im Bild der Chor der Musen (M), im Hintergrund eine sonnenbeschienene Landschaft.

Maße: H.: 253 cm; B.: 457 cm (mit Rahmen); Bu.: 2 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/3]

  1. A

    DER EHREN SCHILDT

  2. B

    1600

  3. C

    IVDEX.

  4. D

    SAPIENTIA.

  5. E

    AVARITIA. // SVSPITIO. // MENDATIVM. // INVIDIA. // IRA. // SVPERBIA // CALVMNIA.

  6. F

    PATIENTIA.

  7. G

    100

  8. H

    TRISTITIA.

  9. I

    VERITAS. // CONSTANTIA.

  10. J

    INNOCENTIA.

  11. K

    PATIENTIA.

  12. L

    VICTORIA.

  13. M

    CHORVS MVSARVM.

Übersetzung:

Der Richter. (C) Weisheit. (D) Habgier. Argwohn. Lüge. Neid. Zorn. Hochmut. Verleumdung. (E)

Geduld. (F) Traurigkeit. (H) Wahrheit. Beständigkeit. (I) Unschuld. (J) Geduld. (K) Sieg. (L) Chor der Musen. (M)

Kommentar

Das Gemälde wurde bisher Daniel Frese zugeschrieben. Zu den für das Gemälde benutzten Vorlagen der Druckgraphik und zu weiteren Details der Darstellung vgl. ausführlich Gross,1) der sich mit der Frage auseinandersetzt, inwieweit die Bezeichnung des Gemäldes als ‚Verleumdung des Apelles‘, die sich auf die im Gemälde dargestellt Figur der Calumnia gründet, gerechtfertigt ist. Auch wenn Grundzüge der auf die Ekphrasis von Lukian zurückgehenden Darstellung (vgl. den Kamin mit derselben Darstellung und einer auf Apelles bezogenen Inschrift Nr. 675) in das Gemälde ebenso eingeflossen sind wie andere Vorlagen, so erscheint die Annahme von Gross nicht überzeugend, dass der Maler – nach seiner Auffassung Frese – hier Anfeindungen gegen seine Person in das Bildthema umgesetzt und sich damit zum Mittelpunkt des großformatigen Gemäldes gemacht hätte. Dagegen spricht zum einen die Biographie Freses. Angesicht der Tatsache, dass der Maler nach anfänglichen Anfeindungen von Seiten des Maleramtes (vgl. Nr. 436 u. 466) im Jahr der Entstehung des Gemäldes bereits seit acht Jahren den Posten des Ältermanns im Maleramt bekleidete und schon seit 25 Jahren als ‚Hofmaler‘ des Lüneburger Rats tätig war, gab es hierfür wohl kaum mehr einen Grund. Genausowenig überzeugt die Annahme von Gross, dass die von einem schweren Unwetter bedrohte Stadt im Hintergrund über den bösen Mächten das von politischen Krisen erfasste Lüneburg symbolisiert. Gross übersieht bei diesen Deutungen, wer der Auftraggeber des Gemäldes war, der ganz gewiss das umzusetzende Thema vorgab. Der Lüneburger Rat hätte die Stadt wohl kaum als krisengeschüttelt darstellen lassen und ebensowenig erlaubt, dass der ausführende Maler sich auf einem großformatigen Gemälde derart in den Mittelpunkt des Geschehens rückt und als strahlender Sieger im Triumphzug präsentiert, dessen mit einer Krone versehener Ehrenschild einen zentralen Platz im Gemälde einnimmt. Vielmehr passt das Gemälde mit der letztlich dank einer Entscheidung des Gerechten Richters über die bösen Mächte triumphierenden Patientia vor dem Hintergrund der lutherischen Lehre von Gesetz und Gnade thematisch genau zu dem Bilderzyklus der Großen Ratsstube, auch was die Kombination von verschiedenen Bildthemen in einem Gemälde betrifft. Darüber hinaus hätte der Maler die von den bösen Mächten gequälte und schließlich triumphierende Männerfigur auch mit dem Titulus ‚Apelles‘ versehen können, wenn er sich in der Gestalt des Malers der Antike hätte darstellen wollen, und diese nicht zweimal ausdrücklich als PATIENTIA bezeichnet.

Es gibt aber noch einen zweiten gewichtigen Umstand, der gegen die Theorie von Gross spricht, denn mit großer Wahrscheinlichkeit ist Daniel Frese, der seine Bilder der Ratsstube mit einer Ausnahme alle signierte, gar nicht der Maler des unsignierten Bildes. Sucht man einen Nachweis für das inschriftlich auf das Jahr 1600 datierte Gemälde in den Quellen, so stößt man in der Kämmereirechnung dieses Jahres auf den Vermerk: Lucas ufm Born dem Maler vor ein groß stucke Malwerk von Olie farben uf dem Gemacke da die Burspracke abgelesen wirdt ... .2) Daneben erledigte Lucas up dem Born zur selben Zeit noch weitere kleinere Arbeiten im Auftrag des Rats und erhielt für alles zusammen 159 Taler und 5 Groschen. Bei dem in der Kämmereirechnung erwähnten Gemach handelte es sich um einen heute nicht mehr erhaltenen Raum im Zwischengeschoss des Rathauses, der 1589/90 erneuert worden war und von dem aus der Rat die städtischen Verordnungen vor den draußen vor dem Rathaus stehenden Bürgern verlas (vgl. Nr. 518).3) Es ist naheliegend, dass man für diesen neu erbauten und ausgestatteten Raum auch ein Gemälde anschaffte, auf dem mehrere der großen Themen der Rathausikonographie – darunter der ‚Gerechte Richter‘ – aufgegriffen wurden. Während Daniel Frese – zumindest nach Aussage der Kämmereiregister – in der fraglichen Zeit seit 1585 nur kleinere Aufträge für den Rat erledigte, bei denen es sich überwiegend um die Anfertigung von Zeichnungen handelte, ist der Maler Lucas up dem Born seit 1589 verschiedentlich für die Stadt Lüneburg tätig und wird in den Kämmereirechnungen bis zu seinem Tod im Jahr 1604 mit größeren Aufträgen genannt.4) Daniel Frese wurde erst nach dem Tod des Lucas up dem Born wieder für größere Aufträge der Stadt wie die Renovierung des Fürstensaals herangezogen.

Es spricht viel dafür, dass es sich bei dem großen Gemälde, für das Lucas up dem Born entlohnt wurde, um das heute in der Eingangshalle hängende Gemälde handelt. Vergleicht man die Figuren des Gemäldes mit denen auf den von Daniel Frese signierten Werken, so fällt auf, dass die hier Dargestellten anders als die eher kompakten Figuren auf den Frese-Bildern alle auffallend schlank und hochgewachsen sind und besonders raffiniert geraffte und aufspringende Gewänder tragen (vgl. dazu a. Nr. 758). Gegenüber den Figuren der Frese-Bilder wirken die Figuren dieses Gemäldes sehr viel eleganter und in der Körperhaltung ein wenig manieriert; das Gemälde erscheint insgesamt deutlich qualitätvoller als die Gemälde Freses.

Lucas up dem Born war der Sohn des Lüneburger Malers Peter up dem Born, dessen Werkstatt er nach dessen Tod um 1588/89 fortführte (vgl. Nr. 440). Er wohnte in dem von seinem Vater ererbten Haus Auf dem Meere 21, das seit 1590 in seinem Besitz nachweisbar ist.5) Am 19. Juli 1590 heiratete Lucas up dem Born in St. Nicolai Gertrud Allers, die offenbar kurz nach der Hochzeit starb, denn am 1. Juli 1592 heiratete er Gertrud Schulten,6) mit der er in den folgenden Jahren vier Söhne hatte, die in St. Michaelis getauft wurden.7) Lucas up dem Born, der sich möglicherweise in dem Gemälde Nr. 758 selbst porträtierte, starb verhältnismäßig jung im Frühjahr 1604. Das belegt ein Eintrag im Kämmereiregister, der sich auf seine beiden letzten Werke, zwei noch 1604 gemalte Wappentafeln (vgl. Nr. 761, 762 o. 763), bezieht, für die seine Witwe entlohnt wurde.8) Gertrud Schulten heiratete bereits am 8. Juli 1604 in zweiter Ehe Jürgen Bonatz.9)

Anmerkungen

  1. Friedrich Gross, Lutherische Gerechtigkeit für einen Apelles von Lüneburg? Zum stiefmütterlich behandelten Hauptwerk von Daniel Frese im Rathaus der Salzstadt. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, Jg. 39/2000, S. 29–77.
  2. StA Lüneburg, AB 56/7, fol 60v. Die Zuschreibung des Bildes an Lucas up dem Born aufgrund des Eintrags in der Kämmereirechnung erstmals 2014 auch bei Adam, Rathauskomplex, S. 169.
  3. Zum Bursprake-Erker vgl. Adam, Rathauskomplex, S. 139–141, u. Obert, Rathaus, S. 129f.
  4. StA Lüneburg, AB 56/6 u. 56/7. Im Donat (AB 2) ist seine Aufnahme in das Maleramt nicht verzeichnet. In der Literatur gibt es zu Lucas up dem Born bisher keine Angaben, die über die bloße Namensnennung hinausgehen (Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 209).
  5. Schossregister, StA Lüneburg, AB 73/44 (1587), fol. 17r u. 73/45 (1590), fol. 18r. Die Jahrgänge 1588 und 1589 fehlen.
  6. KBA Lüneburg, Kirchenbuch St. Nicolai 1, p. 105 u. 107.
  7. Albert, Jürgen, Heinrich und Lucas. KBA Lüneburg, Kirchenbuch St. Michaelis 1, fol. 24v, 29v, 42v, 63r.
  8. StA Lüneburg, AB 56/7, fol. 209v.
  9. KBA Lüneburg, Kirchenbuch St. Lamberti 1, p. 200.

Nachweise

  1. Albers, Rathaus, S. 15.
  2. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 262 (A, B).
  3. Gross, Gerechtigkeit, S. 30–51, Abb. S. 29.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 695 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0069505.