Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 673 Museum Lüneburg / Große Bäckerstr. 9 1598/99 u. später

Beschreibung

Bemalte Holzbalkendecke. Die erst in der Zeit um 1900 verkleidete Holzbalkendecke im ersten Obergeschoss des Hauses wurde 1987 bei einer im Haus durchgeführten Sanierungsmaßmahme wiederentdeckt. Die Deckenfelder sind mit farbig gestalteten Beschlag- und Rollwerkkartuschen geschmückt, darin die Lebensdaten von berühmten Medizinern und Naturwissenschaftlern (A–J). Ein weiteres Fragment einer biographischen Inschrift (K) ist ausgebaut, hier verläuft die Leserichtung allerdings parallel zur Langseite des Brettes, nicht wie auf den anderen Balken über mehrere Balken parallel zu deren Schmalseite, und die Umrahmung ist deutlich schlichter, so dass hierfür ein anderer Kontext zu vermuten ist. Darauf verweist auch das spätere Entstehungsdatum dieses Deckenfragments (vgl. Kommentar). Auf den Balken, die die Deckenfelder voneinander trennen, auf die Medizin bezogene Sentenzen (L–Q). Die Bretter sind teilweise ausgebaut (A–G) und nach ihrer Restaurierung im Museum Lüneburg ausgestellt, teilweise noch am ursprünglichen Standort durch die Deckenverkleidung verdeckt. Im Jahr 2011 führte Markus Tillwick eine Untersuchung des verdeckten Bereiches durch; mit Hilfe von Punktbohrungen wurden endoskopische Aufnahmen angefertigt, die die Lesung weiterer Inschriften erlauben.1) Trotzdem waren zum Zeitpunkt der Bearbeitung der Inschriften noch größere Teile der Balkendecke unzugänglich verkleidet, so dass das Inschriftenprogramm aller Wahrscheinlichkeit nach noch umfangreicher ist als hier wiedergegeben. Eine besondere Form der kopialen Überlieferung stellen kleine farbige Glasfenster in einem ehemaligen Lichtschacht dar. Darauf sind sechs auf die Medizin bezogene Sentenzen als Glasmalerei ausgeführt, die offenbar in der Zeit der Abhängung der Decke dort angebracht wurden, um die Inschriften sichtbar zu bewahren. Drei der hier angebrachten vier Inschriften stimmen mit den durch Freilegung oder Endoskopie lesbaren Inschriften der Balken überein (L–R), die vierte Inschrift wird hier nach der Version in dem Glasfenster wiedergegeben (S). Die biographischen Texte sind in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund ausgeführt, die Sentenzen in weißen Buchstaben auf rotem Grund.

Maße: Bu.: 4 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/3]

  1. A

    [IOH]ANNES LANG[IVS] ME/[DICV]S CELEBER [NATV]S LEO-/[BER]GAEa) IN SILESIA [AN(NO)] 1486 / [HE]IDELBERGAE VERO E [V]IVIS / CESSIT ANNO 1565 / AETATIS · 80 ·

  2. B

    CONRADVS GESNERVS / TIGVRI AN(NO) 1516 · NATV[S] / PESTE IBIDEM INTERIT / ANNO CHRISTI · 1565 · / AETATIS · 49 ·

  3. C

    IOHANNES [G]VINTERIVS / ANDERNA[C]VS NATVS / AN(NO) 1487 [R]EGIS GALLIAE / MEDICVS [O]BII[T] ARGEN/TINAE A[N(NO)] CHRISTI · / 1576 A[ET]ATIS · 89

  4. D

    V[ALE]RIVS COR[DVS] SIME/S[HVS]VS HESS[.......] /N[.. B]OTANOLO[G]VS NA/T[VS A(NNO)] · C(HRISTI) · 151[5] [EX]TINCT(VS) / [........... I(N) RO/[MA A]N(NO) 154[4] A(ETATIS) 29

  5. E

    IOHA[N]NES FERNE[LIVS ...] / AMB[.]NVS MED[ICVS ...] /STRI[.]CVLI FAC[......]/CEPS [..] ARCHIATE[R RE]/GIS G[AL]LIAE OBIIT [AN(NO)] / CHRIS[TI] 1558

  6. F

    [IOH]ANNES CRAT[O] A CRA/FIHEIMb) WRATISLAVIAE AN(NO) / 1519 · NATVS MEDICVS IN/SIGNIS ET TRIV(M) IMPERAT(ORVM) / [...] CONSILIARI(VS) ET / ARCHIATE/Rc) / [....] A(NN)O 1586 AETATIS 67 ·

  7. G

    [THEO]DOR(VS) ZWINGE[RVS] / [....]IENSIS MEDICV[S] / [....]S VVLGARIS O[BIIT] / [A]NNO CHRISTI · 15[88] / [10] MARTŸ VIXIT / ANNOS · 54 ·

  8. H

    ANDREAS VESALIVS / ANAT[.....] PRIN/CEP[S M]EDICVS / CAROLI 5 NATVS AN(NO) / CHRISTI 1514 OBIIT / AN(NO) 1564 AETATIS 50

  9. I

    LEONHARDVS FVCHSIVS / MEDICVS CELEBRIS NATVS / ANNO CHRISTI 1501 / OBIIT AN(NO) 1566 AETATIS · 65 · IDIBVS MAŸ2) 

  10. J

    IACOBVS MILICHIVS MEDI/[C]VS CELEBERRIMVS [N]A/TVS FRIBVRGI AN(NO) · 1501 · / MORTVVS APOPLEXIA WIT/TEBERGAE AN(NO) 1559 10 / NOVEMB(RIS) AETATIS 58

  11. K

    [ – – – ] MEDICVS NATVS: A(NN)O / 1571 . OBIIT AETATIS · 36

  12. L

    PLATO / CVSTOS VITAE HOMINVM / TEMPERANTIA3)

  13. M

    PLATO BONVS MEDICVS / NON PECVNIAM SED SALV/TEM QVAERIT AEGROTI4)

  14. N

    NON EST IN MEDICO SEMPER / RELEVETVR VT AEG/ERINTERDVM DOCTA PLVS VALET ARTE MALVMd)5)

  15. O

    OVIDPRINCIPIIS OBSTA / SERO MEDICINA PARATVRCVM MALA PER LONGAS CONVALVERE / MORASe)6)

  16. P

    CASSIODORVS NATVRALIS CVRA EST AEGRIS DARE LETITI/AM · FAC INVALIDVM GAVDERE / ET SANATVS EST7)

  17. Q

    IVRIS CONSVLT(VS) CAVSAM MOR/BI IGNORANS NON POTEST / CVRARE MORBVM8)

  18. R

    [ – – – MEDI]CINA ALT[ – – – ] / [ – – – ]IBVS[ – – – ]f)

  19. S

    MALA EST MEDICINA VBI NATVRA CORRVPTA9)

Übersetzung:

Johannes Lang, ein berühmter Arzt, geboren im Jahr 1486 in Leonberg in Schlesien, schied in Heidelberg von den Lebenden im Jahr 1565 im 80. Lebensjahr. (A) Conrad Gessner, geboren im Jahr 1516 in Zürich, starb ebendort an der Pest im Jahr Christi 1565 im 49. Lebensjahr. (B) Johannes Winter, geboren im Jahr 1487 in Andernach, (war) Arzt des französischen Königs (und) starb in Straßburg im Jahr Christi 1576 im 89. Lebensjahr. (C) Valerius Cordus aus Simtshausen in Hessen, ... Botanologe, geboren im Jahr Christi 1515, starb ... in Rom im Jahr 1544 im 29. Lebensjahr. (D) Johannes Fernel ... Arzt ..., Leibarzt des französischen Königs, starb im Jahr Christi 1558. (E) Johannes Crato von Krafftheim, geboren im Jahr 1519 in Breslau, (war) ein ausgezeichneter Arzt und Berater und Leibarzt dreier Kaiser (und starb) im Jahr 1586 im 67. Lebensjahr. (F) Theodor Zwinger, Arzt ..., starb im Jahr Christi 1588 am 10. März. Er lebte 54 Jahre. (G) Andreas Vesalius, Anatom und führender Arzt Karls V., geboren im Jahr Christi 1514, starb im Jahr 1564 im 50. Lebensjahr. (H) Leonhard Fuchs, ein berühmter Arzt, geboren im Jahr Christi 1501, starb im Jahr 1566 im 65. Lebensjahr an den Iden des Mai. (I) Jakob Milich, ein hochberühmter Arzt, geboren im Jahr 1501 in Freiburg, starb am Schlaganfall in Wittenberg im Jahr 1559 am 10. November im Alter von 58 (Jahren). (J) ... Arzt, geboren ..., starb im Jahr 1571 im 36. Lebensjahr/im Alter von 36 Jahren. (K) Platon: Die Beschützerin des Lebens der Menschen ist die Mäßigung. (L) Ein guter Arzt strebt nicht nach dem Geld, sondern nach der Heilung der Kranken. (M) Nicht immer liegt es in der Macht des Arztes, dass der Kranke geheilt wird, manchmal ist das Übel stärker als die gelehrte Kunst. (N) Ovid: Wehre den Anfängen. Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn das Übel durch lange Verzögerungen erstarkt ist. (O) Cassiodor: Eine natürliche Heilmethode ist es, den Kranken Freude zu bereiten. Sorge dafür, dass ein Kranker sich freut, und er ist geheilt. (P) Ein Rechtsgelehrter: Wer die Ursache einer Krankheit nicht kennt, kann die Krankheit nicht heilen. (Q) Die Medizin ist dort schlecht, wo die Natur geschädigt (wird). (S)

Versmaß: Elegische Distichen (N, O).

Kommentar

Um welchen 1571 geborenen und 1607 verstorbenen Arzt es sich bei der mit der Inschrift K bezeichneten Darstellung handelte, lässt sich nicht ermitteln. Sicher ist nur, dass dieses Fragment zu einem später ausgeführten Deckenteil gehört haben muss.

Die anderen Malereien wurden den Rechnungen der Ratsapotheke zufolge in den Jahren 1598/99 von der Werkstatt des Malers Daniel Frese ausgeführt.10) Die Werkstatt beschäftigte sich nicht nur mit der Balkendecke und der Außenfassade der neu errichteten Ratsapotheke (Nr. 667), sondern bemalte auch die Apothekenkisten (Nr. 669) mit Beschlagwerk und Inschriften, die den jeweiligen Inhalt benannten. Die Werke vieler der in den Inschriften A–J genannten Mediziner sind im alten Bestand der Ratsbücherei zu finden11) und waren damit auch dem Apotheker Ulrich Luthmer (vgl. Nr. 744 u. 808) zugänglich, der seit 1594 als Ratsapotheker angestellt war und möglicherweise auf die Gestaltung der Balkendecke Einfluss nahm.12) Bei den Inschriften L–S handelte es sich um allgemeine, weit verbreitete und zeitlose Sentenzen zum Thema Gesundheit und Medizin, die sich teilweise bei antiken Autoren nachweisen lassen, teilweise diesen in Spruchsammlungen zugeschrieben werden.

Textkritischer Apparat

  1. Das O aus Platzgründen kleiner und hochgestellt.
  2. Sic! Irrtümlich anstelle von CRAFTHEIM.
  3. Das letzte R aus Platzgründen klein unter der Zeile.
  4. SEMPER ... AEG sowie VALET ... MALVM nur nach dem Text bei Ovid ergänzt, bisher durch Endoskopie nicht zu überprüfen.
  5. Die drei letzten Buchstaben von PARATVR und das Wort CONVALVERE nach dem Text bei Ovid ergänzt.
  6. Die Inschrift ist möglicherweise komplett vorhanden, aber anhand der endoskopischen Aufnahmen sind nur wenige Buchstaben zu lesen.

Anmerkungen

  1. Dem Restaurator Markus Tillwick (Lüneburg) sei an dieser Stelle ganz besonders für seine Hilfe gedankt. Die Textedition beruht auf dem von ihm zur Verfügung gestellten umfangreichen Bildmaterial und seinen Untersuchungen zu der Holzbalkendecke. Mein herzlicher Dank gilt auch dem Besitzer der Ratsapotheke, Herrn Gert Wellsow († 2016), für seine freundliche Unterstützung.
  2. Nach NDB, Bd. 5, S. 681f., fiel der Todestag des Leonhard Fuchs auf den 10. Mai, also auf den sechsten Tag vor den Iden des Mai.
  3. Resende, Sententiarum Tomus 1, S. 538, mit Verweis auf Platon, Charmides (wohl 173d). Vgl. a. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 36058a1.
  4. Resende, Sententiarum Tomus 1, S. 360. Dort nicht mit Verweis auf Platon, sondern mit der Anmerkung Pius apud Plat. Dabei handelt es sich um Bartholomaeus Platina. (Für den Hinweis auf diesen Autor danke ich Mona Dorn.) In seiner Historia de vitis Pontificum Romanorum (Köln 1574, VD16, P3266) zählt Bartholomaeus Platina am Ende des Kapitels über Pius II. (S. 302) eine Reihe von Sentenzen dieses Papstes auf, darunter auch: Bonos medicos non pecuniam, sed bonam valetudinem aegroti quaerere.
  5. Ovid, Epistolae ex Ponto I,3, V. 17f. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 17643 mit zahlreichen Nachweisen zur Rezeption.
  6. Ovid, Remedia amoris, V. 90f. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 22418 mit zahlreichen Nachweisen zur Rezeption.
  7. Cassiodor, Variae 9,6. Nicht bei Walther, Proverbia sententiaeque.
  8. Wander, Sprichwörter-Lexikon, Bd. 2, Sp. 1586, Nr. 107. Philippi, Conversationslexikon, S. 77.
  9. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 14389 in der Version Mala est medicina, ubi aliquid nature perit. Vgl a. Publilii Syri Sententiae, M19, S. 56: Malum est remedium ubi aliquid naturae perit.
  10. Markus Tillwick, „Daniel Fresen dem Maler vor allerhande arbeitt ...“ Die bemalte Holzdecke von 1598 im ehemaligen ersten Obergeschoss der „Alten Raths-Apotheke“ in Lüneburg. In: Denkmalpflege in Lüneburg 2001, S. 51–56, hier S. 54f. Sowie Tillwick, Raths-Apotheke, S. 9–13. Darin Auswertung des Registrum Provisorum der Ratsapotheke, StA Lüneburg, AB 214.
  11. Unter dem Buchstaben Θ in dem von Büttner angelegten alten Bestandskatalog finden sich viele Bände medizinischer Fachliteratur, die u. a. von Johannes Fernelius, Conrad Gesner, Andreas Vesalius, Johannes Winter, Valerius Cordus und Leonhard Fuchs verfasst worden sind. StA Lüneburg, AA S10m10, Nr. 1, Bd. 2.
  12. StA Lüneburg, AB 214, fol. 166r.

Nachweise

  1. Tillwick, Raths-Apotheke, S. 39–50 (Fotos und Transkriptionen).
  2. Katalog Raumkunst, Nr. 103, S. 242, Abb. 113 (B, C).
  3. Böker, Baudenkmale Lüneburg, Abb. S. 408 (B, C).

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 673 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0067302.