Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 624† Sülztor 1593, 1594 u. später

Beschreibung

Inschriften an verschiedenen Bauteilen des äußeren und inneren Sülztors, das im Jahr 1800 abgebrochen wurde.1) Während Gebhardi, den in diesem Zusammenhang nur die Stadtwappen interessieren, lediglich die Renovierungsinschrift A mit späterem Zusatz für das äußere Sülztor und eine im Zusammenhang mit dem Stadtwappen stehende Jahreszahl B am inneren Sülztor überliefert, gibt Büttner eine ganze Reihe von teils datierten, teils undatierten Inschriften wieder – wohl von verschiedenen, aber nicht benannten Bauteilen des Tors –, die teilweise auf eine Renovierung des Tors im Jahr 1656 zurückgehen. Da nicht auszuschließen ist, dass ältere Inschriften bei der Renovierung im Jahr 1656 erneuert wurden, wird hier der Vollständigkeit halber das gesamte bei Büttner überlieferte Inschriftenprogramm wiedergegeben. Die Inschrift H stand im Zusammenhang mit einer Figur der Tugend Prudentia, I im Zusammenhang mit einem Wappen der Stadt Lüneburg und J im Zusammenhang mit einer Figur der Tugend Fortitudo (vgl. Kommentar). Genauere Angaben über den ikonographischen Schmuck an den Bauteilen des Tors fehlen.

Inschrift A nach Gebhardi, Inschriften B–J nach Büttner.

  1. A

    Aedificatum 1440 renovatum 1593 <et 1656>a)

  2. B

    Anno 1594

  3. C

    Renovatum Anno 1656 H(err) H(ans) G(retze) B(au)H(err)2)Auspice justitia tua pax Leo maxime pacemSecuram nobis perpetuamque facit

  4. D

    Urbes quae faciunt beatioresO cives Domino favente sunt haecChristi cognitio Deum timerePax et justitia aequitas honestasExercere jus publica paxReligio Prudentia Fortitudob)Una et pietas obediendiHaec urbes faciunt beatiores

  5. E

    Anno 16c) Ex paucis plurimi ex pluribus pauci Ex omnibus unus omnes per unum3)

  6. F

    Quod vigiles ducunt insomni lumine noctesFrustra est excubias ni Deus intus agitd) Hoc duce salva manet Respublica curia civesEt praebet fructus nostra salina suosPorta suum capit haec de cuius nomine nomenQuod re perpetuos duret ad usque diesChriste Leo structae Tu stes in limine portaeAc pellas nostris cuncta pericla focis

  7. G

    Da pacem Domine in diebus nostris quia non est alius qui pugnet pro nobis nisi tu Deus noster4) Renovatum 1656

  8. H

    Conscia praeteriti praese(n)s adverto futurumPraevideo humano Domina(n)s prudentia sensu

  9. I

    Parcere subiectise)5) scit nobilisf) ira leonisTu quoque fac simile quisquis regnabis in orbe

  10. J

    Constans adversis casu firmata secundoMagna paro excelsis animis et fortibus ausis

Übersetzung:

Erbaut 1440, erneuert 1593 und 1656. (A)

Erneuert im Jahr 1656. Unter der Leitung der Gerechtigkeit macht dein Frieden, mächtigster Löwe, den Frieden für uns sicher und ewig dauernd. (C)

Ihr Bürger, was die Städte mit der Gunst des Herrn glücklicher macht, sind die folgenden Dinge: Erkenntnis Christi, Gottesfurcht, Frieden und Gerechtigkeit, Billigkeit, Ehrenhaftigkeit, Anwendung des Rechts, öffentlicher Frieden, Frömmigkeit, Klugheit, Tapferkeit, und das in Verbindung mit frommem Gehorsam – dies alles macht die Städte glücklicher. (D)

Von wenigen sehr viele, von sehr vielen nur wenige, von allen nur einer, aber alle durch den einen (d. h. Christus). (E)

Dass die Wächter mit schlaflosem Auge die Nächte hinbringen, ist nutzlos, wenn nicht Gott im Innern Wache hält. Unter seiner Führung bleibt das Gemeinwesen, der Rat und die Bürgerschaft sicher, und (unter seiner Führung) erbringt unsere Saline ihren Gewinn, von der dieses Tor seinen Namen hat. Dass es in der Tat für alle Zeiten Bestand habe, dafür sollst Du, Löwe Christus, an der Schwelle des (neu) erbauten Tores stehen und alle Gefahren von unseren Wohnungen fernhalten. (F)

Verleih uns Frieden, Herr, in unseren Tagen, weil es niemand anderen gibt, der für uns kämpft, als du, unser Gott. Erneuert 1656. (G)

Ich, die Herrin Klugheit, mit menschlichem Sinn begabt, halte mir das Vergangene bewusst, nehme das Gegenwärtige wahr und sehe das Zukünftige voraus. (H)

Der edle Zorn des Löwen versteht es, die Unterlegenen zu verschonen. Tue es ihnen gleich, wer auch immer du bist, der in dieser Welt als Regent Macht hat. (I)

Beständig im Unglück und gefestigt im Fall des Glücks vollbringe ich (Fortitudo) Großes mit hochgemutem Sinn und tapferen Unternehmungen. (J)

Versmaß: Elegische Distichen (C, F), Hendekasyllaben (D), Hexameter (H–J).

Kommentar

Die Inschriften H, I und J fanden sich auch im Zusammenhang mit Darstellungen der Prudentia, eines Löwen und der Fortitudo im Palazzo della Ragione in Padua.6) Der in der Inschrift I angesprochene Löwe befindet sich im Wappen der Stadt Lüneburg. Die Inschrift spielt darauf an, dass dem Löwen nachgesagt wurde, den Menschen zu verschonen, der sich auf den Boden legt.7) Die beiden Verse der Inschrift I waren im 16. Jahrhundert weit verbreitet und finden sich beispielsweise bereits in der lateinischen Version der Schedelschen Weltchronik.8) Auf das Bild des Löwen, der vermutlich nicht nur im Lüneburger Wappen sondern auch als Löwenskulptur an dem Tor dargestellt war, beziehen sich auch die Inschriften C und F, in Inschrift F ist der Löwe als Sinnbild Christi genannt.

Textkritischer Apparat

  1. Bei Gebhardi, Collectanea, Bd. 4, p. 475, ausdrücklich als späterer Zusatz gekennzeichnet.
  2. Die Verse 5 und 6 metrisch fehlerhaft.
  3. Es ist nicht klar, ob Büttner die Jahreszahl unvollständig überliefert, oder ob 1616 gemeint ist.
  4. Der vorletzte Buchstabe bei Büttner ausgelassen.
  5. prostratis in der Version in Padua wie auch in anderen Versionen dieses Textes (s. Anm. 5).
  6. scit nobilis nach der bei Schlosser (s. Anm. 5) zitierten Version in Padua, sit vobis bei Büttner wohl falsch gelesen.

Anmerkungen

  1. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 204. Nach Gebhardi, Bd. 4, p. 475 hatte man bereits im Jahr 1764 mit dem Abbruch einzelner Teile des Tors begonnen.
  2. Auflösung der Initialen nach StA Lüneburg, AB 44 (Album Curiae), fol. 207r.
  3. Die Inschrift E beruht auf einer Stelle in den Gesta Romanorum 226,30 (hg. v. Hermann Oesterley, Berlin 1872, Nachdruck Hildesheim 1963, S. 631f.), wonach in der Nähe Roms bei Bauarbeiten vier Tafeln gefunden wurden, die folgende Inschriften trugen: Ex paucis pluri. Ex pluribus pauci. Ex omnibus nullus. Omnes per unum. Der Finder der Tafeln verstand den Sinn der Sätze nicht und befragte einen ‚heiligen Mann‘, dem ein Engel im Traum erschien und folgende Erläuterungen gab: Ex paucis hominibus pluri sunt generati. Ex pluribus hominibus pauci sunt salvati. Sed ex omnibus nullus ante Christi adventum eternam ingredi potuit beatitudinem. Et omnes per unum sc. Christum redempti et salvati sunt.
  4. Antiphon. Cantus Database, ID 002090.
  5. Vgl. Vergil, Aeneis 6,853.
  6. Vgl. Julius von Schlosser, Giusto’s Fresken in Padua und die Vorläufer der Stanza della segnatura. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 17, 1896, S. 14–100, hier S. 95, nach der Sammelhandschrift Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 418, fol. 131b, Memorabilia Patavina. Es wäre möglich, dass einer der Lüneburger Bildungsreisenden die Inschriften in Padua notiert hätte, aber auch dass man sie einem zeitgenössischem Druck, der Druckgraphik oder einer Handschrift entnommen hat. Vgl. Kommentar.
  7. Vgl. Isidor, Etymologiarium libri viginti, 12,2,6: Circa hominem leonum natura est ut nisi laesi nequeant irasci. Patet enim eorum misericordia exemplis assiduis. Prostratis enim parcunt ... .
  8. Hartmann Schedel, Chronica, Nürnberg 1493 (GW M40784), fol. CCLXVIIv. Hier unter einer Darstellung, die Papst Pius II. und Kaiser Friedrich III. gemeinsam auf einem Thron sitzend zeigt. Vgl. a. Dirk Jäckel, Der Herrscher als Löwe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Symbols im Früh- und Hochmittelalter. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 177f. mit verschiedenen Textnachweisen.

Nachweise

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 4, p. 475 (A, B).
  2. Büttner, Inscriptiones.
  3. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 204 (A, B nach Gebhardi).

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 624† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0062405.