Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 447 Rathaus 1568

Beschreibung

Portal mit einem Bild-/Textprogramm zum Jüngsten Gericht. Eichenholz. Das Portal umgibt die Tür zur Bürgermeisterkammer in der Großen Ratsstube und wird von einer Herme und einer Karyatide in durchbrochenen korbartigen Gestellen mit Früchten und jeweils einem Maskenkopf gerahmt, davor links eine Rollwerktafel mit der Inschrift A, rechts eine Rollwerktafel mit der Inschrift B, beide eingeschnitzt. Über der Tür eine reich mit Schnitzereien verzierte Ädikula, die von den auf dem Gesims stehenden Figuren des Paulus und Petrus eingerahmt ist, Paulus mit der Inschrift C auf einer großen hochrechteckigen Tafel, Petrus mit der Inschrift D. Im Mittelteil der Ädikula ein Relief des Jüngsten Gerichts, darin links unten auf einem Stein die Künstlersignatur E. Im Giebelfeld eine Rollwerktafel mit der Inschrift F. Auf dem Giebel liegen zwei nackte Männer mit Früchten im Schoß, als Bekrönung des Giebels drei Prophetenfiguren, jede mit einer hochrechteckigen Schrifttafel, darauf oben die Inschrift G sowie links H und rechts I. Die Inschriften C–I erhaben geschnitzt und in Gold auf schwarzem Grund gefasst. Die I tragen i-Punkte.

Maße: Bu.: 2–2,5 cm (A, C, D, G, H), 1,7–0,8 cm (B), 2 cm (E), 1,5 u. 3 cm (F).

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/4]

  1. A

    ANNO · 1568

  2. B

    ALBERTVS / SVZATIEN(VS) / · FECIT ·

  3. C

    DEVS STATVIT / DIEM · IN QVO / IVDICATVRVS / EST ORBEM TER/RARVM CVM IVS/TITIA · PER EVM / VIRVM · PER QVE(M) / DECREVERAT · / FIDE PRAESTITA / OMNIBVS · CVM EXCITARIT IL=/LVM EX MORTV/IS · ACTORVM · 17 ·1)

  4. D

    VENIET DIES / DOMINI SICVT / FVR IN NOCTE / QVO COELIa) PRO/CELLAE IN MO/REM TRANSI=/BVNT · ELEME(N)TA / VERO AESTVAN/TIA SOLVE(N)TVR / TERRAQVE · ET / QVAE IN EST / [S]VNTb) OPERA EXVRENTVR / 2 · PETRI · 2 ·2)

  5. E

    A(LBERT) V(ON) S(OEST)c)

  6. F

    DICTVM · / ENOCH · / ECCE VENIT DOMINVS IN SANCTIS MIL=/LIBVS SVIS · VT FACIAT IVDICIV(M) ADVERSVS OMNES ET · / REDARGVAT OMNES EX EIS QVI SVNT IMPII3)

  7. G

    VENIT FINIS / SVPER QVATVOR / PLAGAS TERRAE · NVNC FI=/NISd) SVPER TE · ET MIT/TAM IRAM MEA(M) / IN TE · ET IVDI=/CABO TE IVX=/TA VIAS · TVAS · / DABOQVE SVPER / TE OMNES ABO=/MINATIONESe) TV=/AS · EZECHIELIS · 74)

  8. H

    NON AD AS=/PECTVM OCV/LORVM SVORV(M) / IVDICABIT · NE=/QVE AD FAMA(M) · / QVAE AD AVRES / EIVS ADFERTVR · / ARGVET · SED / IVDICABIT CV(M) / IVSTITIA PAV=/PERES · ET CV(M) / AEQVITATE / ARGVET PRO / MANSVETIS TER/RAE · ESAIAE · 11 ·5)

  9. I

    MVLTI DOR=/MIENTIVM I(N) / TERRA RE=/SVRGENT · HI / AD VITAM / AETERNAM · / ILLI VERO / AD PROBRA / ET CON/TEMPTVMf) / AETER=/NVM · DANIELIS · /126)

Übersetzung:

Albert von Soest hat (dies) gemacht. (B)

Gott hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis mit Gerechtigkeit durch den Mann richten will, durch den er es beschlossen hat (zu tun), nachdem er allen den Glauben gewährt hat, indem er jenen von den Toten erweckt hat. (C)

Es wird kommen der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht, in welchem die Himmel wie ein Sturm untergehen werden, die Elemente aber werden vor Hitze glühend schmelzen, und die Erde und die Werke, die in ihr sind, werden verbrannt werden. (D)

Wort des Enoch: Siehe, es kommt der Herr mit seinen tausenden Heiligen, um Gericht zu halten gegen alle und alle unter ihnen zu strafen, die gottlos sind. (F)

Das Ende kommt über die vier Gegenden der Erde. Nun (kommt) das Ende über dich, und ich werde meinen Zorn über dich senden und werde dich richten nach deinem Lebenswandel und über dich alle deine Greuel geben. (G)

Nicht nach der Sicht seiner Augen wird er richten, noch wird er nach dem Gerücht, das zu seinen Ohren getragen wird, strafen, sondern er wird mit Gerechtigkeit die Armen richten und mit Billigkeit über die Elenden des Landes urteilen. (H)

Viele derer, die in der Erde schlafen, werden auferstehen, diese zum ewigen Leben, jene aber zu Schmach und ewiger Schande. (I)

Kommentar

Die Türumrahmung ist das früheste von Albert von Soest allein geschaffene Werk der Großen Ratsstube, an dem sich die Besonderheiten seiner Schriftgestaltung zeigen lassen. Wie schon auf dem zusammen mit Gert Suttmeier geschnitzten Gestühl (Nr. 435) finden sich in der eingeschnitzten Künstlerinschrift B die charakteristischen V mit senkrechter linker Haste. Die erhaben geschnitzten Inschriften zeigen dieses Merkmal nicht, stattdessen aber die für Albert von Soest typischen O mit Bogenverstärkungen und stark rechtsgeneigter Schattenachse, die den Buchstaben insgesamt rechtsgeneigt erscheinen lassen, im Gegensatz zu den gegengleich gestalteten Q mit linksgeneigter Schattenachse. Generell weisen die Buchstaben sehr breite Schattenstriche im Gegensatz zu dünnen Haarstrichen sowie Bogenverstärkungen auf. Der Mittelteil des geraden M ist bis zur Grundlinie herabgezogen. Wo der vorhandene Raum es zulässt, ist der untere Balken des E weit nach rechts und zum Abschluss nach oben ausgezogen, ebenso der Balken des L. Die Breite der Einzelbuchstaben variiert je nach vorhandenem Platz; so ist hier die Inschrift F in breit angelegten Buchstaben ausgeführt, während es sich bei den Inschriften der hochrechteckigen Tafeln um hohe schmale Buchstaben handelt. Die Vergoldung der Buchstaben führte der Maler Peter up dem Born aus (vgl. Nr. 440).

Zu den Vorlagen aus dem Bereich der Druckgraphik, die dem Entwurf des Portals zugrundeliegen könnten, und zur Auswahl des Bildthemas vgl. ausführlich Haupt.7) Besonders interessant ist, dass man für die lateinischen Inschriftentexte nicht auf die ‚katholische‘ Vulgata zurückgriff, sondern offenbar die Texte der Lutherbibel ins Lateinische übertrug, was an den stellenweise starken Abweichungen der Inschriften vom Vulgatatext und an ihrer Nähe zum deutschen Text der Lutherbibel deutlich wird (vgl. Anm. 1, 2 u. 6). Als Schöpfer des Bild- und Textprogramms der gesamten Ratsstube wird immer wieder der hochgebildete Lüneburger Bürgermeister Franz Witzendorff (vgl. Nr. 503) genannt.8) Auch wenn er schon durch sein Amt als Bürgermeister maßgeblich auf die Gestaltung der Großen Ratsstube Einfluss genommen haben dürfte – jedenfalls bis zu seinem Tod 1574 –, ist doch zu bedenken, dass außer dem Portal zum Thema ‚Jüngstes Gericht‘ nur das Gestühl (Nr. 435) und die Wandverkleidung der Fensterfront (Nr. 473) in die Zeit vor den Tod Witzendorffs fallen, alle anderen Bestandteile der Großen Ratsstube hingegen in die Zeit zwischen 1575 und 1582. Außerdem sollte man nicht außer Acht lassen, dass es neben ihm einen größeren Kreis humanistisch gebildeter Männer in der Stadt gab, von denen sicher einige in die große Umgestaltung des Rathauses in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einbezogen wurden (vgl. hierzu die Einleitung, Kap. 3.3.7.3.). Zudem gab es zu dieser Zeit einen reichen Fundus an druckgraphischen Vorlagen zu den in Rathäusern gebräuchlichen Themen, auf die nicht nur Franz Witzendorff zurückgreifen konnte. Was die Auswahl der thematisch passenden Bibelzitate betrifft und die Übersetzung der Luthertexte ins Lateinische, so ist es näherliegend, dass hiermit jemand wie Thomas Mawer (vgl. Nr. 513) oder Lucas Lossius (vgl. Nr. 541) – jeder von ihnen gleichzeitig evangelischer Theologe und Dichter – betraut wurde.

Textkritischer Apparat

  1. I in L eingestellt.
  2. AQUAE IN EST SUNT Behncke. Anstelle des S von SVNT heute ein bei einer Restaurierung erneuertes Holzstück, das an der linken Seite der Tafel bis zum unteren Abschluss angesetzt ist. Hinter EST noch ein eingerollter Bogen als Zeilenfüller, eigentlich wäre ISTA anstelle von EST zu erwarten.
  3. S mit V verschränkt.
  4. Fehlt bei Behncke.
  5. ABOMNITATIONES Haupt.
  6. CONTEMPLUM Behncke.

Anmerkungen

  1. Nach Act. 17,31 mit starker Abweichung vom Text der Vulgata (... quod statuit diem in qua iudicaturus est orbem in aequitate in viro in quo statuit fidem praebens omnibus suscitans eum a mortuis). Hier dürfte es sich um eine Übertragung des Luthertextes ins Lateinische handeln. Nach der Lutherbibel 1545: Darumb / das er einen tag gesetzt hat / auff welchen er richten wil den kreis des Erdboden / mit gerechtigkeit / Durch einen Man / in welchem ers beschlossen hat / vnd jederman furhelt den glauben / nachdem er jn hat von den Todten aufferweckt.
  2. Nach 2. Pt. 3,10 mit starker Abweichung vom Text der Vulgata (adveniet autem dies Domini ut fur in qua caeli magno impetu transient elementa vero calore solventur) und falscher Kapitelangabe. Auch hier dürfte es sich um eine Übertragung des Luthertextes ins Lateinische handeln. Nach der Lutherbibel 1545: Es wird aber des HErrn tag komen / als ein Dieb in der Nacht / Jn welchem die Himel zergehen werden / mit grossem krachen / Die Element aber werden fur hitze schmeltzen / Vnd die Erde vnd die werck die drinnen sind / werden verbrennen.
  3. Nach Iud. 14f. mit leichten Abweichungen von der Vulgata wie auch vom Text der Lutherbibel.
  4. Mit kleinen Abweichungen nach Ez. 7,2f.
  5. Nach Is. 11,3f.
  6. Nach Dn. 12,2 mit starker Abweichung vom Text der Vulgata (multi de his qui dormiunt in terrae pulvere evigilabunt alii in vitam aeternam et alii in obprobrium ut videant semper). Auch hier dürfte es sich um eine Übertragung des Luthertextes ins Lateinische handeln. Nach der Lutherbibel 1545: Vnd viele / so vnter der Erden schlaffen ligen / werden auffwachen / Etliche zum ewigen Leben / Etliche zu ewiger schmach vnd schande.
  7. Zu diesem Portal Haupt, Ratsstube, S. 65–74 u. S. 112f. zum Bildthema.
  8. Zuletzt Haupt, Ratsstube, S. 189–190.

Nachweise

  1. Albers, Rathaus, S. 30f.
  2. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 182 (nach Albers).
  3. Behncke, Albert von Soest, S. 16–19.
  4. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 266 (A, B).
  5. Reinecke, Rathaus, S. 87 (B).
  6. Tipton, Res publica, S. 360.
  7. Haupt, Ratsstube, S. 44 (A, B), S. 66 (A), S. 67 (B), S. 70 (C, D), S. 72 (G, H, I), S. 74 (F).
  8. Uppenkamp, Ikonographie, S. 335f. (C, D, F–I) mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 447 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0044701.