Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 436 Am Markt 7 um 1566

Beschreibung

Holzbalken, Teil einer bemalten Balkendecke, ehemals im ersten Obergeschoss des Hauses, Bestandteil eines ehemaligen Festsaals. Die Balkendecke, die zu dem von Franz Witzendorff um 1560 errichteten Vorgängerbau gehörte, wurde Ende des 17. Jahrhunderts beim Umbau des Hauses unter Herzog Georg Wilhelm entfernt, der Balken, der sich über die gesamte Hausbreite des Vorgängerbaus erstreckte, wiederverwendet und bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 1987 über einer Stuckdecke entdeckt. Die Bemalung zeigt in eckigen Bildfeldern die Köpfe oströmischer Kaiser im Profil im Wechsel mit gemalten Schrifttafeln und Beschlagwerkornament. Die Inschriften schwarz auf hellem Grund. Die Inschriften der Felder sind in der chronologischen Abfolge von rechts nach links wiedergegeben. Heute sind nur noch die Felder mit den Kaisern Constantinus Ducas, Emanuel Komnenos, Andronikos, Alexios Iunior und Balduin durch in einem Flur des zweiten Obergeschosses in den Boden eingelassene Plexiglasplatten sichtbar, die übrigen Teile des Balkens sind verdeckt. Daher konnten nur die Tituli der genannten Kaiser am Original überprüft werden, der Titulus des Nicephorus, des Caloiohannes und des Michael Palaeologus an der Abbildung bei Heintzmann.

Wiedergabe der nicht freiliegenden Inschriften nach Text und Abbildungen bei Heintzmann.

Maße: H.: 26 cm; B.: 1320 cm; Bu.: ca. 3 (1. Zeile) u. 2,5 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/2]

  1. IMPERATO/RES, ORIEN/TALE[S]CONSTANT/INVS, DVCAS / A(NN)O 50[..]ROMANVS / DIOGENES [....]MICHAELL / A(NN)O 50[..]NICEPHO/RVS 5043ALEXIVS / A(NN)O 5047CALOIOHA/NESa) 5079EMANVEL / COMENVS, 5104ALEXIVS, / 5143ANDRONI/CVS. A(NN)O 5145ISACIVS / ANGELVS 5147ALEXIVS, / IVNIOR 516[.]HENRICVS / A(NN)O [....][....]TOREb) / [......][ – – – ]ROBERT/VS 51[..]BALDVIN/VS, A(NN)O 5189MICHAEL / PALEOLOG(VS)/ 5222ANDRON/ICVS / 5253

Kommentar

Die von Franz Witzendorff in Auftrag gegebene Balkendecke zeigt mit den oströmischen Kaisern die älteste in Lüneburg nachzuweisende Herrscherreihe; das gesamte Programm dürfte noch weitere Herrscherreihen umfasst haben, für die der große Saal ausreichend Platz bot. Bei dem Bild-/Textprogramm handelte es sich wohl um die Darstellung der Weltgeschichte anhand der Regierungsantritte der Herrscher, die hier nach der Weltzeitrechnung angegeben sind. Möglicherweise wirkte die Balkendecke im Haus Witzendorff vorbildgebend für weitere Darstellungen dieser Art, wie sie vor allem auch im Lüneburger Rathaus zu finden sind (vgl. Nr. 665 u. 798).

Heintzmann nimmt als Vorlage für die Regierungszeiten auf der Balkendecke die Chronica Carionis in der Bearbeitung durch Philipp Melanchthon an, deren drei heute zum Bestand der Lüneburger Ratsbücherei gehörende Bände aus dem Besitz der Familie Witzendorff stammen, was Besitzeinträge bzw. zwei Besitzstempel F. W. // 15711) (Franz Witzendorff, vgl. Nr. 503) belegen.2) Allerdings gibt es keine direkten Übereinstimmungen zwischen der Chronica und den Herrscherdaten auf der Balkendecke, bei denen es sich um das Jahr des Regierungsantritts handeln dürfte. Die Chronica gibt nur gelegentlich Jahre der Weltzeitrechnung an und teilt sonst nur die jeweilige Herrschaftsdauer mit. Die beiden letzten oströmischen Herrscher Michael Paleologos und Andronicus sind in der Chronica Carionis nicht mehr verzeichnet, die die Reihe der oströmischen Herrscher mit Balduin von Flandern beendet.3) Auch die Angabe Heintzmanns, die Chronica Carionis setze die Geburt Christi in das Jahr 3962, lässt sich anhand der von ihm als Beleg angebenen Ausgabe aus dem Bibliotheksbestand Witzendorff nicht nachvollziehen, die vielmehr explizit das Jahr 3963 als Geburtsjahr Christi angibt.4)

Sicher zu belegen ist jedoch, dass im Hause Witzendorff ganz offenbar ein Interesse an dieser Art der Weltzeitrechnung bestand, da die drei Bände der Chronica nicht nur Besitzeinträge sondern auch mit roter Tinte ausgeführte Unterstreichungen und Kommentare enthalten. Heintzmanns komplizierte Berechnungen der dreizehn inschriftlich angegebenen Regierungsantritte nach christlicher Zeitrechnung und des daraus resultierenden ständig schwankenden Geburtsjahrs Christi – darunter auch einmal in dreizehn Fällen eher zufällig das Jahr 3963 – demonstrieren anschaulich, dass die angegebenen Daten in sich völlig unstimmig sind.5) Hierin ein besonderes, sonst nicht nachweisbares Herrscherdaten-System suchen zu wollen, erscheint allerdings unsinnig. Wichtig war nicht die Richtigkeit des einzelnen Datums, sondern der durch die – hier nur ausschnittweise erhaltenen – Herrscher symbolisierte Verlauf der Weltgeschichte auf das Ende im Weltuntergang hin, der nach der auch am Beginn der Chronica Carionis zitierten Prophezeiung des Elia6) nach 6000 Jahren eintreten sollte.

Es ist gut möglich, dass Franz Witzendorff als Auftraggeber und als Programmautor die Herrschaftsdaten selbst aus historischen Werken wie der Chronica Carionis errechnete oder errechnen ließ, ohne hier eine besondere ‚wissenschaftliche‘ Genauigkeit walten zu lassen, die erst aus der heutigen Perspektive erwartet wird. Möglicherweise erhielt er hierbei Unterstützung durch den seit 1563 als Pastor an St. Johannis tätigen Hieronymus Henninges,7) dessen Lebenswerk in der Anfertigung genealogischer Tabellen bestand, die 1584/87 sowie 1597/98 in mehrbändigen Werken gedruckt wurden und die gesamte Weltgeschichte aber auch – wie die von ihm wohl auch als Vorlage genutzte Chronica Carionis – die biblischen Familien umfassten.8) Die im vierten Teil seines erst posthum erschienenen Theatrum Genealogicum gedruckte, auf die oströmischen Kaiser bezogene Liste, die hier allerdings keine Zählung nach Weltjahren, sondern die christliche Zeitrechnung enthält, stimmt in der Abfolge der Herrscher, aber nicht in der Dauer der einzelnen Regierungszeiten überein.9)

Heintzmann datiert die Deckenmalerei auf die Zeit um 1570 und schreibt sie Daniel Frese zu. Er gründet dies auf die Bemerkung Reineckes, wonach „der Anlaß zu Freses Berufung nach Lüneburg ein Privatauftrag des Bürgermeisters Franz von Witzendorff gewesen zu sein scheint“.10) Die Formulierung Reineckes erscheint äußerst vorsichtig angesichts der klaren Äußerungen Daniel Freses zu seiner Berufung nach Lüneburg (zu seiner weiteren Tätigkeit dort vgl. Nr. 466). Im Mai 1585 rechtfertigte sich der Maler gegen Vorwürfe von seiten des Glaser- und Maleramtes zu seiner Tätigkeit in Lüneburg dahingehend, dass das Amt seine Tätigkeit in Lüneburg lange Zeit ohne Widerspruch hingenommen hätte. Außerdem sei er nicht aus eigenem Antrieb nach Lüneburg gekommen, Sunder eß hadt mich, wie Sie die mahlerß selber bekennen, der hoch Lobliche Herr Frantz Witzendorff Burgermeister, alß ein hoch verstendiger vnndt wolweiser Herr godt seliger, bezeidt seines Lebenß, selber anhero gefordert, alß angeferlichen vorgen 15 Jharen; vnndt dem selbigen hab ich Domals eine lange Zeidt gearbeitet, alß von Jacobi ahn biß herumber auff Pfingsten, welches sie den alleß woll gewust, vndt daß geringste wordt nye gesprochen, So ich domalß doch woll vier gesellen gehalten, dar ich itzundt nhur einen halte, vndt domalß solten sie billichen gesprochen haben, ob ihnen etwaß gemangelt, Ahne daß ich auch nhun eine solche lange zeidt, Alß In die 15 Jahre anhero alhier in Lunenburgk gewonet, vnndt ahne Rhum zu melden, vill schoner arbeidt gemacht, die sie auch selber gesehen, vnndt woll gewust, noch dennoch haben sie nicht gesprochen, vnndt sinndt mit mir woll zufriden gewesen, vnndt Nyemalß geclaget ... .11) Frese arbeitete demnach zusammen mit vier Gesellen vom 25. Juli 1570 bis Pfingsten 1571 (3. Juni 1571) für Franz Witzendorff.

Allerdings ist es fraglich ob zu seinen nicht weiter beschriebenen Tätigkeiten die Bemalung der Balkendecke gehörte, oder ob diese zur Zeit der Ankunft Freses in Lüneburg 1570 nicht bereits längere Zeit fertig war. Das vermutlich um 1560 neu errichtete, aber nicht eindeutig zu datierende Doppelhaus des Franz Witzendorff am Markt wird bereits von Lucas Lossius in seiner blumigen Beschreibung der Lüneburger Häuser erwähnt, die 1566 gedruckt wurde: His tua praefulget cunctis domus alta columnis, / Witzendorff consul fulges qui clarus in vrbe. (‚All diese (Häuser) überstrahlt dein hohes Haus mit (seinen) Säulen, Witzendorff, der du als Bürgermeister in der Stadt glänzst.‘)12) Die von Lossius erwähnten Säulen zeigt ein späterer Stich Daniel Freses, auf dem die Front des Doppelhauses mit zwei Treppengiebeln dargestellt ist, die beide jeweils links und rechts außen von Säulen begleitet sind.13) Da die Balkendecke des Festsaals wohl direkt nach der Erbauung des Hauses gestaltet worden sein dürfte, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Balkendecke um 1566, möglicherweise schon kurz nach 1560 ausgeführt worden ist. Gegen Daniel Frese und seine Werkstatt als ausführende Maler spricht aber nicht nur die vermutete Entstehungszeit um 1566,14) sondern ganz besonders die im Vergleich zu den Werken Freses äußerst schlichte Malweise sowohl der Köpfe als auch der Beschlagwerkornamentik auf dem Holzbalken. Die sicher für Frese zu belegenden Werke zeigen eine deutlich anspruchsvollere Malerei, ganz besonders auch in der perspektivischen Malweise des Beschlagwerks.

Textkritischer Apparat

  1. Das zweite A aus Platzgründen hochgestellt.
  2. E hochgestellt. Nach der Liste bei Henninges müsste es sich um Petrus Cortenaeus gehandelt haben. Die in der Edition von Heintzmann folgende Leerstelle ist an sich überflüssig, da die Liste bei Henninges sich mit Robertus fortsetzt. Henninges, Theatrum, Tom. IIII,1, S. 1539.

Anmerkungen

  1. Die Einbandstempel, die sich im Bestand der Ratsbücherei Lüneburg finden lassen, sind grundsätzlich nicht als Inschriften aufgenommen, da sie seriell erzeugt wurden. Vgl. hierzu auch Nr. 417.
  2. Chronica Carionis gantz new Latine geschrieben von dem Ehrwirdigen Herrn Philippo Melanthone Verdeudscht durch M. Eusebium Menium ... . Bd. 1–3, Wittenberg 1560, 1566 u. 1565. Exemplare aus der Bibliothek der Familie Witzendorff, Ratsbücherei Lüneburg M: GWa 772, 1–3. Zu den Herrscherdaten und der Vorlage insgesamt Heintzmann, Balkendecke, S. 102–105. Die von ihm getroffene Feststellung, dass es in Lüneburg kein zweites Beispiel für die Weltzeitrechnung auf einer Balkendecke gibt, ist zwar richtig. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auf das Gemälde des Monarchienmannes (Nr. 665) hinzuweisen, auf dem sich ebenfalls die Weltzeitrechnung findet. Da das untere Drittel des Gemäldes abgeschnitten ist, fehlen dort die oströmischen Kaiser, so dass sich nicht überprüfen lässt, ob vielleicht in beiden Fällen dieselben Daten verwendet wurden.
  3. Chronica Carionis (vgl. Anm. 2), Bd. 3, fol. 306r.
  4. Chronica Carionis (vgl. Anm. 2), Bd. 2, fol. 5r. Heintzmann, Balkendecke, S. 104.
  5. Heintzmann, Balkendecke, S. 102f.
  6. Chronica Carionis (vgl. Anm. 2), Bd. 1, fol. 9v.
  7. Zu Henninges vgl. ADB, Bd. 11, S. 778. Henninges starb kurz vor dem Erscheinen seines Hauptwerkes (vgl. Anm. 8) im Jahr 1598 am 28. Februar 1597.
  8. Hieronymus Henninges, Genealogicarum Tabellarum, Continens Illustrissimas Familias Patriarcharum Qui Ante Et Post Diluvium Vixerunt ... Collectus opera & studio M. Hieronymi Henninges Ecclesiastae Lunæburgensis. 2 Bde., Uelzen 1584 u. 1587. (VD 16, H 1943 u. H 1945.) Sowie Hieronymus Henninges, Theatrum Genealogicum Ostentans Omnes Omnium Aetatum Familias ... Genealogicae tabellae Nunc verò in Qvatvor Tomos Collectvm Et Distinctum Ingenio & labore M. Hieronymi Henninges Lunæburgensis. Tom. I–IIII in 5 Bänden, Magdeburg 1598. (VD 16, H 1944.) Sämtliche Werke sind in der Lüneburger Ratsbücherei vorhanden: M: Hwsa 042, 2, 043, 2, 044,2, 045,2 (Theatrum); 046,2 u. 047,2 (Genealogicarum Tabellarum). Der erste Band des Theatrum Genealogicum ist mit einem aufwendig gemalten Vorsatzblatt versehen, das die Wappen von Georg und Dorothea Töbing zeigt, die das gerade erschienene Werk der unter den Wappen angebrachten Widmung zufolge im November 1598 der Ratsbücherei schenkten.
  9. Henninges, Theatrum, Tom. IIII,1, S. 1539.
  10. Reinecke, Rathaus, S. 124. Heintzmann, Holzbalken, S. 104.
  11. StA Lüneburg, StA AA G4m Nr. 1, Bd. 1, fol. 82r/v. Nach Haupt, Ratsstube, S. 47, arbeitete Frese noch 1572 von Hamburg aus für St. Johannis (vgl. Nr. 466). Dies lässt sich mit den Angaben Freses nicht vereinbaren.
  12. Lossius, Lunaeburga, S. 97.
  13. Zu sehen auf der Abb. bei Heintzmann, Holzbalken, S. 100: Ausschnitt aus einem Stich von Daniel Frese. Die bei Heintzmann (S. 104) zitierte Übersetzung Dumreses, ‚Ragend auf Säulen überstrahlt dein Haus diese alle ...‘, ist falsch.
  14. Zum Lebenslauf des um 1540 in Dithmarschen geborenen Daniel Frese vgl. Thieme/Becker, Künstlerlexikon, Bd. 12, S. 227. Danach war er zunächst in seiner Heimat und in Hamburg als Maler tätig.

Nachweise

  1. Heintzmann, Holzbalken, S. 101, S. 106–111 mit Abb.
  2. Haupt, Ratsstube, S. 204.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 436 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0043606.