Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 418(†) Rathaus 1564 (u. 1609?)

Beschreibung

Eine erhaltene Steintafel sowie verlorene Holztafeln mit Inschriften an dem als ‚Neues Rathaus‘ bezeichneten Gebäudeteil auf der Nordseite des Rathauskomplexes. Nach Büttner waren die Inschriften A–O Juxta Curiae Valvas, also nahe bei der Tür oder den Türen angebracht. Diese Lokalisierung bezieht sich auf die Tür zur Eingangslaube, die sogenannte ‚Grüne Tür‘ und die rechts danebenliegende Tür zur ehemaligen Zisebude. In den langen formsteingerahmten Friesen oben an der Eingangslaube und am Neuen Rathaus zwischen dem Untergeschoss und dem ersten Obergeschoss sowie zwischen den beiden Obergeschossen, die heute mit weiß gestrichenen Brettern gefüllt sind, waren früher geschnitzte Schrifttafeln angebracht, auf denen die heute verlorenen, bei Büttner überlieferten Inschriften A–O standen. Vorhanden ist noch im Fries zwischen den Obergeschossen über dem vierten Fenster von Westen ein von Formsteinen gerahmtes rechteckiges Feld, in dem sich eine stark verwitterte steinerne Relieftafel befindet, darauf außen in Ganzfigur zwei Engel, die eine Rollwerktafel mit der Inschrift P in erhaben gehauenen vergoldeten Buchstaben halten, darüber ein Engelskopf. Die heutige Goldfassung der Buchstaben scheint der ursprünglichen Buchstabenform nur noch in groben Umrissen zu entsprechen (vgl. Kommentar).

Wenn man davon ausgeht, dass die übrigen fünfzehn Inschriften ein- oder mehrzeilig in separaten Inschriftenfeldern ausgeführt waren, so ergibt sich eine Verteilung von drei Feldern auf dem Fries oben an der Eingangslaube, fünf Tafeln in den durch die früher mit Sternen ausgefüllten Formsteinmedaillons1) begrenzten Feldern zwischen Untergeschoss und erstem Obergeschoss sowie sieben Feldern in dem durchlaufenden, nur durch die Umrahmung der Datumstafel unterbrochenen Fries zwischen den beiden Obergeschossen, aufgeteilt in vier Felder links und drei Felder rechts der Datumstafel. Ob jede Inschrift auf einer gesonderten Tafel ausgeführt war, oder ob auf einer langen Holztafel mehrere Inschriftenfelder Platz hatten und wie diese voneinander getrennt waren, ist nicht bekannt.

Inschriften A–O nach Büttner.

Maße: Bu.: ca. 6 cm (P).

Schriftart(en): Kapitalis (P).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/1]

  1. A†

    Basis et fundamentum Reip(ublicae) Religio

  2. B†

    Justitia immota floret Resp(ublica)

  3. C†

    Concordia civium firmamentum Reip(ublicae)2)

  4. D†

    Frugalitas civium commune praesidium

  5. E†

    Florentea) Rep(ublica) omnia suppetunt

  6. F†

    Frequentissime initium calamitatis securitas3)

  7. G†

    Felix Resp(ublica) amata bonis civibus

  8. H†

    Discordia civium venenum civitatis4)

  9. I†

    Multa condonanda publicae tranquillitati

  10. J†

    Malum bene conditum ne moveas5)

  11. K†

    Periculosa veri consilii sed gloriosa libertas

  12. L†

    Pietatis pars est majorum sapientia delectari6)

  13. M†

    Occasionem nosse summum in publicis negociis

  14. N†

    Non minus nocet semper tacere quam nunquam

  15. O†

    Facilius movere quietum quam quietare motum7)

  16. P

    ANNO DOMINI / MDLXVIIb)

Übersetzung:

Die Grundlage und das Fundament des Gemeinwesens ist die Religion. (A)

Durch unerschütterliche Gerechtigkeit blüht das Gemeinwesen. (B)

Die Eintracht der Bürger ist die Stütze des Gemeinwesens. (C)

Die Genügsamkeit der Bürger ist der gemeinsame Schutz. (D)

In einem blühenden Gemeinwesen ist alles ausreichend vorhanden. (E)

Am häufigsten ist die Sorglosigkeit der Beginn des Unheils. (F)

Glücklich ist das Gemeinwesen, das durch die guten Bürger geliebt wird. (G)

Zwietracht der Bürger ist Gift für das Gemeinwesen. (H)

Für die öffentliche Ruhe ist vieles aufzuopfern. (I)

Ein gut verborgenes Übel sollst du nicht anrühren. (J)

Die Freiheit der wahren Absicht ist gefahrbringend, aber ruhmreich. (K)

Teil der kindlichen Liebe ist es, sich an der Weisheit der Vorfahren zu erfreuen. (L)

Die Gelegenheit erkannt zu haben, ist das Größte in allgemeinen Geschäften. (M)

Es schadet nicht weniger, immer zu schweigen als niemals. (N)

Es ist einfacher, den Ruhigen zu bewegen, als den Aufgeregten zu beruhigen. (O)

Kommentar

Die heutige Fassung der Inschrift P entspricht mit ziemlicher Sicherheit nicht der Originalfassung, sondern geht auf eine falsche Überlieferung des Baudatums bei Krüger/Reinecke zurück, die sich aus der starken Verwitterung des Steins erklärt. Das an die Eingangslaube angrenzende Neue Rathaus wurde im Jahr 1564 errichtet, in dem auch Clawes Coler nach Ausweis der Kämmereirechnung für einen Löwen unnd einen datum utt houwen stenn to houwende, szo foerne ahn datt nie ratthus gesettet entlohnt wurde.8) Die etwas eigenartige Formulierung lässt nicht ganz sicher erkennen, ob es sich bei dem Löwen und der Steintafel um zwei separate Gegenstände handelt. Davon ist aber auszugehen ebenso wie davon, dass sich der zweite Teil des Eintrags auf die heute noch erhaltene Steintafel bezieht, denn 1564 führte der Maler Cord Jagow auch bereits die Vergoldung der Sterne und Löwen in den Wappenschilden und Medaillons am Neuen Rathaus aus.9) Dass man ein Baudatum erst drei Jahre später an derselben Fassade angebracht hätte und eine andere Tafel mit Baudatum verloren wäre, ergibt wenig Sinn.

Mit der Anbringung der Sentenzen an dem seit 1564 errichteten Neuen Rathaus beginnt die Phase, in der der Rat seinen Bürgern Verhaltensmaßregeln und Lebensgrundsätze mit auf den täglichen Weg gab, indem er diese für jeden sichtbar außen an den Gebäudeteilen des Rathauses anbringen ließ (vgl. a. Nr. 419 Sekretarienhaus und Neue Schreiberei, Nr. 420 Giebelseite Kämmereiflügel, Nr. 421 Traufenseite Kämmereiflügel, Nr. 422 Ostfassade, Nr. 796 Richthaus). Allerdings ist anhand der Kämmereirechnungen nicht sicher nachweisbar, ob dies bereits um 1564 erfolgte, oder erst ein halbes Jahrhundert später, als man auch für die Ostfassade und das Richthaus ein großes Bild-/Textprogramm entwarf, dessen Inhalte zu den Inschriften auf der Nord- und Westseite passen. Sicher ist, dass nach dem Kämmereiregister 1609 Daniell Freßen dem Maler auf der Norder sidt de Schrivereÿ langsher van hartinges huse (Sekretarienhaus) bett zu dem Ende mit dem Groten gevel (Kämmereiflügel) nedden vnd aben zu stafferennde, auch de dubbelden lesten van der Gronen dar (von der Grünen Tür in der Eingangslaube) an bis hartinges huse (bis zum Sekretarienhaus) zusammende 544 (Taler) gezahlt wurden. Noch demselben vor de ander seitt langst vnser leiben frawen kirchen her mit des H. Protonotarius seinen gevell zaltt 351 (Taler) Den gesellen daß se flissich gewesen bi der arbeitt auf Daniell Fresen bitte 4 (Taler).10) Dieser Eintrag betrifft eindeutig sämtliche mit Inschriften und sicherlich auch mit ornamentalem Schmuck versehene Leisten an der Nord- und Westseite des Rathauskomplexes, die Frese farbig fasste. Auch die doppelten Leisten oben und unten am Neuen Rathaus werden hier erwähnt. Die vergleichsweise hohen Beträge, die Daniel Frese für die beiden Seiten des Gebäudekomplexes erhielt, zeigen, dass es sich hierbei um eine aufwendige Tätigkeit handelte. Nicht ermitteln lässt sich, ob es sich hierbei um geschnitzte Bretterverkleidungen mit plastischen Buchstaben handelte, oder um flache, lediglich bemalte Bretter. Dafür, dass es sich um hölzerne Füllungen der Friese handelte und nicht um Malereien auf Putz, sprechen die bei Adam erwähnten und abgebildeten Dübellöcher an der Neuen Schreiberei.11) Weder um 1564 noch um 1609 lassen sich für die Holzvertäfelungen Anhaltspunkte in den Kämmereirechnungen finden, allerdings jedoch verschiedene sehr allgemein gehaltene Einträge, die man auf die Verkleidungen beziehen könnte.

Nach Adam gab es an der Eingangslaube schon vor 1564 Füllbretter in den die Geschosse trennenden Friesen, die mit geschnitztem und vergoldetem Weinlaub und Trauben verziert waren.12) Das Lüneburger Rathaus zeigt, dass die Annahme, Backsteinbauten seien nach außen hin grundsätzlich weniger ‚inschriftenfreundlich‘ als Fachwerk- oder Steinbauten, eher von heutigen Gegebenheiten ausgeht. Stellt man sich den Komplex des Lüneburger Rathauses nach Vollendung der neuen Ostfassade etwa um 1610 vor, so waren die drei Schauseiten nach Osten, Norden und Westen bedeckt mit großen Inschriftenprogrammen, die ein Textkompendium zu den Themen ‚Gutes Regiment‘, ‚Frömmigkeit‘‚ ‚Frieden‘, ‚Gerechtigkeit/Gericht‘ und ‚bürgerliche Tugenden‘ bildeten. Die genannten Themen werden auch in den Inschriften A–O behandelt, die alle zeitgenössischen Spruchsammlungen entnommen sein dürften, auch wenn sich dies bisher nur für vier Inschriften nachweisen lässt. Allein der – bislang in der Forschung offenbar unbekannten, jedenfalls aber nicht berücksichtigten – Überlieferung Büttners ist es zu verdanken, dass man einen Eindruck vom Umfang der Inschriftenprogramme erhält.13) Dass der Lüneburger Rat ausschließlich Inschriften in lateinischer Sprache an den Fassaden anbringen ließ, während sich im Inneren des Rathauses auch viele Inschriften in deutscher Sprache finden bzw. fanden, zeigt, wie sehr man auf eine repräsentative Außenwirkung und die Dokumentation eines hohen Bildungsstands Wert legte. Die Feststellung Adams, wonach die Front der Eingangslaube und des Neuen Rathauses ihre Repräsentationswirkung erst durch vereinfachende Überformungen in jüngerer Zeit eingebüßt habe,14) kann mit Blick auf das hier angebrachte aufwendige Inschriftenprogramm nur nachdrücklich unterstrichen werden.

Textkritischer Apparat

  1. Forente bei Büttner wohl Schreibfehler.
  2. So die heutige Goldfassung, ursprünglich wohl MDLXIIII. Vgl. Kommentar.

Anmerkungen

  1. Vgl. Adam, Rathauskomplex, S. 149.
  2. Vgl. Walther, Proverbia sententiaeque, Bd. 1, Nr. 3041b: Concordia civium murus urbium. 
  3. Vgl. Walther, Proverbia sententiaeque, Bd. 7, Nr. 37052h1.
  4. Bei Walther, Proverbia sententiaeque, Bd. 7, Nr. 36334a: Discordia civium hostium est occasio.
  5. Erasmus, Adagia I.I.62. Vgl. a. Walther, Proverbia sententiaeque, Bd. 3, Nr. 14360a.
  6. Nachweisbar bei: Francois Hotmann, Francogallia. Genf 1574, S. 77 (VD 16, H 5206).
  7. Diese Sentenz ist im Internet in verschiedenen naturwissenschaftlichen Publikationen des 18. Jahrhunderts nachzuweisen. U. a. Georg Ernst Stahl, Fundamenta chymiae dogmaticae ... . Nürnberg 1746, Teil 2, S. 2. Dort bezieht sich die Sentenz auf chemische, physikalische oder medizinische Vorgänge, nicht aber auf das Gemeinwesen. Die anderen Sentenzen so bisher nicht nachweisbar.
  8. StA Lüneburg, AB 56/5, fol. 113v. Zit. a. bei Adam, Rathauskomplex, S. 148, der den Eintrag vom heutigen Zustand der Inschrift ausgehend nicht auf diese bezieht. Zur Errichtung des Neuen Rathauses Adam, Rathauskomplex, S. 144–154.
  9. StA Lüneburg, AB 56/5, fol. 111r. Vgl. a. Adam, Rathauskomplex, S. 149.
  10. StA Lüneburg, AB 56/7, fol. 389v.
  11. Adam, Rathauskomplex, S. 212 und Abb. 151, S. 214.
  12. Adam, Rathauskomplex, S. 137 u. 142.
  13. Auch in dem 2014 erschienenen zweibändigen Werk über das Lüneburger Rathaus (Ganzert, Rathaus) ist die Inschriftenüberlieferung Büttners nicht erwähnt.
  14. Adam, Rathauskomplex, S. 189.

Nachweise

  1. Büttner, Inscriptiones (A–O).
  2. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 279 (nur P).
  3. Reinecke, Rathaus, S. 44 (nur P).
  4. Adam, Rathauskomplex, S. 149, Abb. 44 (nur P).

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 418(†) (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0041808.