Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 403 Berlin, Kunstgewerbemuseum 1562

Beschreibung

Pokal mit Darstellung der Wurzel Jesse.1) Silber, vergoldet. Der Pokal gehört zum Ratssilber und wurde 1874 an den preußischen Staat verkauft. Die Grundform des Pokals bildet ein Dreipass, der die Form des Fußes und der Kuppa vorgibt, ansonsten orientiert sich der Pokal in der Gestaltung stark an dem in Vierpassform gestalteten Interimspokal (Nr. 381). Auf dem abgetreppten, mit Rankenwerk verzierten Fuß liegt die Figur des Jesse, aus der der Stamm hervorwächst, der die Kuppa trägt. Am Fuß ein aufgelöteter Schild mit der Inschrift A in vertieften, mit Niello ausgefüllten Buchstaben. Auf der Wandung der Kuppa von Rankenwerk umgeben neun Medaillons, davon drei mit einer Blattrosette darin, in den sechs anderen Medaillons Halbfiguren der Vorfahren Christi. Auf dem umlaufenden glatten Band am Deckelrand ist die zweizeilige Inschrift B eingraviert, die Zeilen durch eine Linie voneinander getrennt. Auf dem Deckel weitere sechs von Rankenwerk umgebene Medaillons mit Halbfiguren der Vorfahren Christi. Um den glatten Rand des Deckels verläuft dem Dreipass folgend die zwischen Linien eingravierte Inschrift C, im Deckel in einem von Taustab umgebenen Medaillon in Niello drei Wappenschilde sowie auf einem Schriftband darunter in Email ausgeführt die Jahreszahl D. Der Deckel wird bekrönt von einer aus Weinblättern hervorwachsenden Halbfigur der Maria mit Kind, das Christuskind trägt die Weltkugel mit Kreuz darauf. Unter dem Fuß das Lüneburger Beschauzeichen und eine Meistermarke.2)

Maße: H.: 54 cm; Dm.: 22 cm; Bu.: 0,3 cm (A), 0,4 cm (B, D), 0,5 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis, mit Versalien an den Versanfängen (B).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/7]

  1. A

    D(OMINVS) : NICOLA(VS) : / STOTEROG/GE : CONS=/VL : CIVITAT(IS) : / LVNEBVRG(ENSIS) : / INCLITO : SEN/ATVI : LE/GAVIT · / 1560

  2. B

    IVCHEIE : IN : GOD : DINEM · HEREN ·DAT · HEET · DI · MIT · BILICHHEIT · NEMANDT · TO · VORKERENa) ·MIT · DANCKSEDDINGEb) · DRINCK · VNDE · IT ·GODT · SIN · WORT · VNDE · DER · ARMEN · NV(M)MER · VORGIT ·WES · FROICHc) · MIT · DINEN · GESTEN · /ITT · VNDE · DRINCK · DES · BESTEN ·SVLKES · KAN · GOT · WOL · LIDEN ·OVER · DEN · AVERVLOT · SCHOLTV · MIDEN ·VND · WESDI · GODT · MER · HEFT · VORBADE(N) ·DAR · MEDE · SCHOLTVd) · DIN · HARTE · NICHT · BELADEN ·

  3. C

    GENEALOGIA · DOMINI · ET · SERVATORIS · NOSTRI · IESV · CHRISTI · EX · SEMINE · DAVID · MATTHEI · 1 · LVCE · 3 · CAPITIL · EXARATA · HIC · VTCVNQVEe) · OB · OCVLOS · POSITA · EST · AN(N)O · Af) · NATIVITATE · EIVSDE(M)g) · 1562

  4. D

    1562

Übersetzung:

Herr Nikolaus Stöterogge, Bürgermeister der Stadt Lüneburg, hat (dies) dem berühmten Rat 1560 vermacht. (A)

Jauchze in Gott deinem Herrn. Das ins Gegenteil zu wenden, dazu soll dich billiger Weise niemand auffordern. Mit Danksagung trink und iss, Gottes Wort und die Armen niemals vergiss, sei fröhlich mit den Gästen, iss und trink vom Besten. Solches kann Gott wohl leiden, aber den Überfluss sollst du meiden. Und was dir Gott sonst verboten hat, damit sollst du dein Herz nicht beladen. (B)

Das Geschlecht unseres Herrn und Heilands Jesu Christi aus dem Stamme Davids, bei Matthäus im 1. und bei Lukas im 3. Kapitel erzählt, ist hier so gut wie möglich vor Augen gestellt im Jahr nach der Geburt desselben 1562. (C)

Versmaß: Deutscher Reimvers (B).

Wappen:
Stöterogge3)Elver4)Glöde5)

Kommentar

An den drei Inschriften des Pokals fällt auf, dass jede andere Merkmale aufweist. Während die Inschrift A in einer Kapitalis ohne charakteristische Besonderheiten ausgeführt ist, zeigt die Inschrift B A mit auffallend breitem Deckbalken, H mit ausgebuchtetem Balken, I-Versalien (IVCHEIE, ITT) mit Nodus und M mit schrägen Hasten und kleinem Mittelteil; ganz besonders aber auch die oben offenen D, die sich sonst auf den Stücken der Gripeswoldt-Werkstatt finden (vgl. Nr. 313). Die Merkmale der Inschrift C – die D hier geschlossen, A mit Deckbalken nach links, H mit ausgebuchtetem Balken, N mit Nodus am Schrägschaft – weichen deutlich davon ab und können eher mit der Inschrift des Kleinen Gießlöwen verglichen werden (Nr. 343).

Seit Schröder wird der Lüneburger Goldschmied Franz Gruwel als Verfertiger des Pokals angesehen, allerdings ohne dass man hierfür einen archivalischen Beleg hätte. Schröder schreibt ihm den Pokal – der sein einziges bekanntes Werk wäre – offenbar im Ausschlussverfahren zu. Franz Gruwel lernte bei Jochim Gripeswoldt (vgl. Nr. 313), wurde 1545 Meister und starb um 1575.6) Der Umstand, dass der Pokal sich in der gesamten Gestaltung an dem Interimspokal orientiert und hier auch das oben offene D Gripeswoldts in Inschrift B zu finden ist, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Goldschmied bei Jochim Gripeswoldt gelernt hat. Dieser war 1561 zwar noch am Leben, aber so hinfällig, dass er seine Werkstatt nicht mehr selbst betreiben konnte.7) Von den zahlreichen Lehrlingen der Werkstatt waren nach Schröder außer Gruwel nur Sivert Barchmann – wohl ein Sohn des gleichnamigen Gießers, nicht wie Schröder annimmt der Gießer selbst, vgl. Nr. 260 – und Hinrick Folman – vgl. den Kurfürstenpokal Nr. 458 mit anderer Marke – als Meister in Lüneburg tätig.8)

Der Pokal wurde von dem 1561 verstorbenen Bürgermeister Nikolaus Stöterogge (vgl. sein Epitaph Nr. 378), der in erster Ehe mit Ilsabe Elver und in zweiter Ehe mit Barbara Glöde verheiratet war, testamentarisch für das Ratssilber in Auftrag gegeben. Im Testament von 1559 heißt es: dem erbahren Rade gewe ick in erhe Schenckschieve ein Kleinot verhundert (mark) lubb. woll werth, sol sein de stamm Jesse dergestalt, forme v. mate, wo min cleinot gemacket v. formiret iß.9) Das bedeutet, dass sich im Besitz des Nikolaus Stöterogge ein älterer Wurzel-Jesse-Pokal befand, nach dessen Vorbild das Stück für das Ratssilber angefertigt wurde. Dieser ältere Wurzel-Jesse-Pokal ist auch noch einmal Gegenstand der von Nikolaus Stöterogge 1559 zu seinem Testament verfassten Erläuterungen, in denen es um die Teilung der Kleinodien zwischen seinen Kindern geht. Was den Pokal betrifft, so verfügte der Bürgermeister: De vorgulde Stamme Jesse schall nicht mit getagenn werden in de gemenen deylungh, sunder by deme Sone syn, vnd nha dotligenn affgange der olderen by eren Sonen steth deme oldesten; d. h. dieser Pokal sollte über Generationen jeweils auf den ältesten Sohn übergehen.10) Über seinen Verbleib ist nichts bekannt. Die in der Inschrift A genannte Jahreszahl 1560 nimmt Bezug auf das Testament des Nikolaus Stöterogge; möglicherweise gab es aus diesem Jahr eine Neufassung des noch erhaltenen Testaments von 1559.

Textkritischer Apparat

  1. voreren Reinecke.
  2. So mit den charakteristischen oben offenen D ausgeführt, die man aber auch als retrograde G betrachten könnte, was die inhaltlich richtige Lesung DANCKSEGGINGE ergäbe. So Mithoff.
  3. So statt FROLICH.
  4. L in O eingestellt.
  5. N retrograd.
  6. Fehlt bei Appuhn.
  7. Aus Platzgründen sehr gedrängt: der Schaft des I fehlt, stattdessen i-Punkt zwischen oberem Balkenende des E und oberem Hastenende des V, das E in D eingestellt.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 1874,381.
  2. Meistermarke: aus Herz hervorwachsende Feder?. Scheffler, Goldschmiede, Bd. 2, Marke Nr. 1725, S. 906.
  3. Wappen Stöterogge (gestümmelter eingerollter Zweig mit Kleeblättern). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  4. Wappen Elver (Sparren, darüber zwei Adlerköpfe, darunter ein Adlerkopf). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  5. Wappen Glöde (Widderhorn). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  6. Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 13 u. Meister, [S. 20].
  7. StA Lüneburg, AA G4n, Nr. 1 (o. p.), Schreiben seines Sohnes Harmen Gripeswoldt an den Rat, 1561 September 18.
  8. Schröder, Ratssilber, Meister, [S. 16].
  9. StA Lüneburg, AA P3Cs, Nr. 6, [fol. 1v/2r].
  10. StA Lüneburg, AA P3Cs, Nr. 6a, fol. 2v.

Nachweise

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 195f.
  2. Albers, Rathaus, S. 44f.
  3. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 191 (A–C).
  4. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 294.
  5. Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 13.
  6. Appuhn, Ratssilber, Nr. 25, S. 25f.
  7. Kat. Stadt im Wandel, Bd. 2, Nr. 869n mit Abb.
  8. Bursche, Ratssilber, Nr. 28, S. 153–157 mit Abb.
  9. Netzer, Ratssilber, Nr. 28, S. 108–111 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 403 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0040301.