Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 385 Museum Lüneburg 1555

Beschreibung

Bronzetafeln.1) Die Tafeln stammen von den Häusern Reitende-Diener-Str. 9 und 17 und wurden dort im Rahmen von Restaurierungsarbeiten 1971/72 abgenommen und durch farbig gefasste Kopien ersetzt. Die Tafel mit der Inschrift A, die rechts neben dem Portal des Hauses Nr. 9 angebracht war, und die Tafel mit der Inschrift B, die am Haus Nr. 17 angebracht war, sind als Gegenstücke gestaltet. Beide zeigen in den unteren Ecken je zwei plastisch gestaltete Vollwappen. Die Inschriften sind erhaben auf punziertem Grund ausgeführt. Auf der Tafel A rechts unten neben der Helmzier außen möglicherweise eine Gießermarke (vgl. Kommentar; Abb. 359).

Maße: H.: 72 cm; B.: 74,5 cm (A). H.: 72,5 cm; B.: 74 cm (B). Bu.: 4–3,5 cm.

Schriftart(en): Kapitalis mit Versalien.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/2]

  1. A

    MALE · PEREANT · OMNES · QVI · TIRAN(N)IDE / GAVDENT · ET · PAVCORVM · IMPERIO · IN / CIVITATE · LIBERTATIS · ENIM · NOMEN / OMNIBVS · PRAEFERENDVM · EST / ET · SI · QVIS · EXIGVVM · HABEAT · / IN · ILLA · MVLTA · TAMEN · HA:/BERE · SIBI · VIDETVR / · EVRIPIDES2) · / · 1 · 5 · 55 ·

  2. B

    VIRORVM · PRVDENTV(M) · EST; SI · NON · / LACESSANTVR · INIVRIA · QVIESCERE: BO/NORV(M) · AVTE(M) · SI · INIVRIA · AFFICIANTVR · / PACEM · BELLO · MVTARE; AC · SI · BENE:/CESSERIT · ITERVM · PRO · BELLO · PACEM / INIRE · ET · NEQ(VE) · BELLI · SVCCESSV · EFFE/RRI NEQ(VE) · PACIS · TRANQVI:/LLITATE · CAPTOS / INIVRIA(M) · PATI / EOS · DECET · / · THVCIDIDES · 3)

Übersetzung:

Elend zugrundegehen sollen alle, die sich über Tyrannei und die Herrschaft weniger im Staat freuen. Denn der Rechtsbegriff der Freiheit ist allem vorzuziehen. Und auch wenn jemand in diesem (Staat) wenig besitzt, so erscheint es ihm doch, als besitze er vieles. (A)

Es ist die Sache kluger Männer, Ruhe zu bewahren, wenn sie nicht durch Unrecht herausgefordert werden, der Tüchtigen aber, wenn man ihnen Unrecht antut, den Frieden gegen den Krieg zu tauschen und, wenn es günstig verläuft, wiederum statt des Krieges den Frieden zu beginnen. Und es ziemt sich für sie weder, durch Kriegserfolg übermütig zu werden, noch in der Ruhe des Friedens gefangen, Unrecht zu erdulden. (B)

Wappen:
Garlop4)Semmelbecker5)
Witzendorff6)Garlop4)

Kommentar

Im Gegensatz zu der Fraktur-Inschrift auf der von Valentin Barchmann gegossenen Bronzetafel Nr. 386 sind die Inschriften hier in einer Kapitalis ausgeführt, die als besondere Merkmale leicht spitzovale, rechtsgeneigte O, R mit weit nach rechts unter den folgenden Buchstaben ausgezogener Cauda, Q mit unten in der Mitte angesetzter und nach links umgebogener Cauda und S mit kleinem oberen und größerem unteren Bogen sowie keilförmigen Enden aufweist, besonders charakteristisch die mit den unteren Bogenenden übereinandergelegten Doppel-S; die keilförmigen Endungen auch an anderen Buchstaben; die I mit i-Punkten in Form von Quadrangeln. Sollte es sich bei dem rechts an die Helmzier des Wappens Semmelbecker angesetzten Z mit e-förmigem Schnörkel am unteren Balkenende tatsächlich um eine Gießermarke handeln, käme der mit VB signierende Valentin Barchmann als Gießer dieser Tafel nicht in Frage. Gegen eine Deutung als Gießermarke spricht der Umstand, dass es nicht sehr plausibel ist, drei gleichzeitig hergestellte Bronzetafeln für dieselben Gebäude bei zwei unterschiedlichen Gießern in Auftrag zu geben.7) Über die Zusammenarbeit von Gießer- und Töpfereiwerkstatt gibt der archäologische Fund eines Tonmodels auf dem Grundstück einer Lüneburger Töpferei Auf der Altstadt 29 Aufschluss. Das Fragment zeigt die Helmzier des Wappens Garlop, die mit der Helmzier auf der Bronzetafel exakt übereinstimmt. Ring hat an diesem wie auch in anderen Beispielen das Zusammenwirken von Töpfern, Gießern und Bildschnitzern bei der Herstellung der Vorlagen nachgewiesen.8)

Die Wappen beziehen sich auf Heinrich III. Garlop und seine Ehefrau Dorothea Semmelbecker sowie auf Franz Witzendorff (vgl. Nr. 503) und seine Ehefrau Ursula Garlop. Der Sohn und der Schwiegersohn Heinrichs II. Garlop setzten die von diesem begonnene Errichtung der Garlopen-Häuser fort (vgl. dazu Nr. 383). Heinrich III. Garlop starb bereits kurz nach der Vollendung der Gebäude am 18. September 1558 als letzter männlicher Nachkomme seiner Familie.9)

Alpers weist nach, dass die beiden in den Inschriften verwendeten Zitate in einer Sentenzensammlung des Conrad Gesner überliefert sind, die in zwei Exemplaren in der Lüneburger Ratsbücherei vorhanden ist.10) Thematisch entsprechen beide Inschriften den im Lüneburger Rathaus in zahlreichen Varianten angebrachten Sentenzen zu den Themen Freiheit und Frieden (vgl. Einleitung, Kap. 3.3.7.1.).

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. E32.
  2. Joannis Stobaei Sententiae ex thesauris Graecorum delectae ... a Conrado Gesnero Doctore Medico Tigurino in Latinum sermonem traductae etc., Zürich 1543, S. 341. VD16 J769. (Nach Euripides, Auge, Fragment 275.)
  3. Ebd., S. 351. (Nach Thukydides 1,120,3.)
  4. Wappen Garlop (Hundekopf mit einer Schelle am Halsband). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  5. Wappen Semmelbecker (Balken mit drei Schnallen belegt). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  6. Wappen Witzendorff (zwei gekreuzte Rechen auf einem Hügel). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  7. Die Argumentation von Alpers, Garlopenhäuser, S. 82, der die Kapitalisinschriften mit der Frakturinschrift der dritten Bronzetafel vergleicht und zu dem Schluss kommt, dass es sich aufgrund der Schriftunterschiede um zwei verschiedene Gießer handeln muss, vermag allerdings wenig zu überzeugen, da beide Schriften qualitätvoll ausgeführt und nicht miteinander zu vergleichen sind.
  8. Vgl. Ring, Ton, Bronze, Papier, passim, hier S. 168 mit Abb.
  9. Büttner, Genealogiae, Stammtafel Garlop. Für Heinrich III. Garlop sind nur zwei unterschiedliche literarische Versgrabschriften überliefert, die wohl beide von Lucas Lossius verfasst sind: Lossius, Epitaphia, [p. 111/112]; Rikemann, Epitaphiorum Tomus III, p. 331 (dort Lossius zugeschrieben). Vgl. Anhang 2. Ein Grabdenkmal ist nicht erhalten, und es liegt auch keine kopiale Überlieferung einer Grabinschrift vor.
  10. Alpers, Garlopenhäuser, S. 68 und 76f. mit ausführlichen Textnachweisen. Vgl. Anm. 2 u. 3. Aus dem Umstand, dass sich für das 1559 in dritter Auflage erschienene Exemplar der Ratsbücherei die Familie Witzendorff als Besitzer nachweisen lässt, schließt Alpers auf eine spätere Anfertigung der Bronzetafeln und die Zitierung der Inschriften nach diesem Exemplar. Es gibt jedoch keinerlei Grund, das Herstellungsdatum 1555 auf der Tafel in Zweifel zu ziehen, zumal Franz Witzendorff auch das andere – bereits 1549 in zweiter Auflage erschienene – Exemplar der Ratsbücherei ohne weiteres zugänglich gewesen sein dürfte.

Nachweise

  1. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 310.
  2. Alpers, Garlopenhäuser, Abb. Tafel 4 und 5.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 385 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0038507.