Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 381 Berlin, Kunstgewerbemuseum 1554?

Beschreibung

Pokal, ‚Interimspokal‘.1) Silber, vergoldet. Der Pokal gehört zum Ratssilber und wurde 1874 an den preußischen Staat verkauft. Der Vierpassfuß steht auf einer getreppten Sockelplatte, auf der die eingravierte Inschrift A umläuft. Darüber ist der mit plastischem Rankenwerk überzogene Fuß eingezogen und ausgebuchtet. Der Schaft besteht aus der Figur des segnenden Christus, der auf einem dreiköpfigen Ungeheuer mit den Köpfen eines Papstes, des Teufels – als gefallener Engel mit Flügeln – und eines Türken steht. Auf der weit ausgebuchteten Kuppa vier Medaillons, darin Reliefs mit Szenen aus der Vita Christi, denen darüber auf dem vierpassigen glatten Rand zweizeilig eingravierte Inschriften zugeordnet sind: Taufe im Jordan – Inschrift B, Verklärung – Inschrift C, Predigt des Apostels Paulus – Inschrift D, Versuchung Christi durch den Teufel – Inschrift E. Zwischen den Medaillons Beschlagwerkornamentik mit Maskenköpfen und Girlanden. Mit den Medaillons der Kuppa korrespondieren vier Medaillons auf dem Deckel, darin Reliefs, die je zwei kniende Figuren zeigen: Papst und Kardinal, Kaiser und König, zwei Ritter, Priester und Mönch. Die Deckelbekrönung in Form der auf dem siebenköpfigen Ungeheuer reitenden babylonischen Hure – der Kopf der Figur verloren. Die eine Seite der Bekrönung ist verdeckt durch zwei 1617 angebrachte Vollwappen (vgl. Kommentar), im Inneren des Deckels ein Medaillon mit einem Allianzwappen darin, oben links und rechts der Helmzier die eingravierten Ziffern F. Unter dem Fuß auf dem Rand das Lüneburger Beschauzeichen umgeben von zwei Meistermarken des Jochim Gripeswoldt, in der Mitte noch einmal das Beschauzeichen und die Meistermarke.2)

Maße: H.: 60 cm; Dm.: 22 cm; Bu.: 0,4 cm (A), 0,5 cm (B–E), 0,3 cm (3. Zeile D), 0,2 cm (F).

Schriftart(en): Kapitalis, mit Versalien (A).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/6]

  1. A

    JNTERIM · ORTVM · AVGVSTAE · VINDELICORVM · SVB · CAROLO · QVINTO · JMPERATORE · MAXIMO · ANNO · SALVTIS · M · D · XLVIII · EX·TINCTVM · VERO · AVSPICIIS · MAVRITII · ELETORISa) · ET · CONF OEDERATORV(M) · AN(N)O · 1552 ·

  2. B

    HIC · EST · FILIVS · MEVS · DILECTVS · IN · QVO / · MIHI · BENE · COMPLACITVM · EST · MATE · 33)

  3. C

    HIC · EST · FILIVS · MEVS · DILECT(VS) · IN · QVO · MI/HI · BENE · COMPLACVI · IPSVM · AVDITE · MAT 174)

  4. D

    ETIA(M)SI · NOS · AVT · ANGEL(VS) · E · COELO · PREDICAVERIT / VOBIS · EVANGELIVM · PRETER · ID · QVOD · P(RE)DICAVIM(VS) / GALA · 1 ·5)

  5. E

    ABI · SATANA · SCRIPTVM · EST · ENIM · DOM(INVM) · DEVM / · TVVM · ADORABIS · ET · ILLVM · SOLV(M) · COLES · MAT 46)

  6. F

    5b) // 4

Übersetzung:

Das Interim hat begonnen in Augsburg unter dem sehr mächtigen Kaiser Karl V. im Jahr des Heils 1548, ist aber zunichte gemacht worden unter der Führung des Kurfürsten Moritz und der Verbündeten im Jahr 1552. (A)

Dies ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe. (B)

Dies ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, ihn sollt ihr hören. (C)

Wenn auch wir oder ein Engel vom Himmel euch das Evangelium anders predigen sollte, als wir gepredigt haben ... . (D)

Geh fort, Satan, denn es steht geschrieben: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihn allein verehren.‘ (E)

Wappen:
Witzendorff7)Töbing8)
Witzendorff/Garlop9)

Kommentar

In den Inschriften dieses Pokals findet sich wie auf den anderen mit derselben Marke versehenen Stücken das charakteristische oben leicht offene D mit oben abgeschrägter Haste, das dem hier ausgeführten G mit senkrechter Cauda in retrograder Version entspricht, sowie in den Inschriften B–E das retrograde N im Wechsel mit N. Auffallend ist auch das als Versalbuchstabe gestaltetete J in JNTERIM und JMPERATORE (A), das im Schriftcharakter nicht zu den anderen Buchstaben der Kapitalis passt und sich ebenso auf dem Münzpokal findet. Hierzu und zu der Zuschreibung des Pokals an den Goldschmied Jochim Gripeswoldt vgl. Nr. 313. Für Jochim Gripeswoldt als Goldschmied dieses Pokals spricht auch, dass der in der Gestaltung sehr ähnliche Wurzel Jesse-Pokal und dessen Meistermarke Franz Gruwel zugeschrieben wird, der bei ihm in die Lehre ging (vgl. Nr. 403).

Zur Ikonographie des Pokals, der die Aufhebung des Interims 1552 als einen Sieg des Protestantismus feiert, und zu den druckgraphischen Vorlagen vgl. ausführlich Bursche.10) Während durch den segnenden Christus, der das Ungeheuer des Katholizismus und des Heidentums überwindet, und durch die Darstellung der babylonischen Hure als Verkörperung der katholischen Kirche eine dezidierte Propaganda im Sinne Luthers als Bildthemen umgesetzt wird, die sich häufig in der zeitgenössischen Druckgraphik finden, stellen die Inschriften B–E eine sehr viel sachlichere Untermauerung der lutherischen Lehre durch ausgewählte Bibelzitate dar, die die Konzentration auf Christus und sein Wort einfordern.

Das unter den Pokalen des Lüneburger Ratssilbers herausragende Stück wurde vermutlich im Jahr 1554 auf den privaten Auftrag des Bürgermeisters Franz Witzendorff hin (zur Person vgl. Nr. 503) und wahrscheinlich nach dessen Entwurf angefertigt. Auf das Jahr 1554 verweisen wohl die beiden Ziffern F, die links und rechts über dem Allianzwappen im Deckelinneren stehen und nicht – wie bisher immer gelesen – auf das Todesjahr des Franz Witzendorff (15)74 verweisen, sondern auf das Jahr der Herstellung (15)54. Bei der Ziffer links oben neben der Helmzier dürfte es sich um eine in dieser Zeit durchaus übliche linksgewendete 5 handeln. Der Nachtrag des Todesjahrs von Franz Witzendorff an dieser Stelle, dazu noch links und rechts über beide Wappen verteilt, erscheint auch wenig sinnvoll.

Nach dem Tod des Franz Witzendorff im Jahr 1574 ging der Pokal in den Besitz seines Sohnes Heinrich (vgl. Nr. 854) über, der ihn laut eigener testamentarischer Verfügung von 1617 aufs Rahthaus vorehren ließ.11) Aus diesem Anlass wurden – ohne jede Rücksichtnahme auf die hierdurch gestörte Ikonographie des Pokals – die beiden Wappen des Heinrich Witzendorff und seiner Ehefrau Elisabeth Töbing auf der Deckelbekrönung angebracht. Es ist durchaus möglich, dass die Figur hierbei ihren Kopf verlor, der sonst die Helmzieren überragt hätte. Der wenig sensible Umgang mit dem von seinem Auftraggeber sehr ausgeklügelten Bildprogramm des Pokals, lässt darauf schließen, dass die Testamentsvollstrecker des Heinrich Witzendorff dieses Stück mehr als 60 Jahre nach der Beendigung des Interims nur noch als reines Repräsentationsstück der Familie Witzendorff auffassten.

Textkritischer Apparat

  1. Irrtümlich statt ELECTORIS.
  2. Wahrscheinlich linksgewendete 5 bestehend aus Balken und leicht gebogenem Schaft. Als Lesung käme auch 74 in Betracht, so bisher in allen Überlieferungen als das Sterbedatum des Franz Witzendorff aufgefasst. Vgl. Kommentar.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 1874,380.
  2. Meistermarken: Wappenschild, darin ein Greif mit Flügeln sowie einem wie bei einem Meerwesen gespaltenen Schwanz. Vgl. dazu Nr. 313, Anm. 3.
  3. Nach Mt. 3,17.
  4. Nach Mt. 17,5.
  5. Nach Gal. 1,8.
  6. Nach Mt. 4,10.
  7. Wappen Witzendorff (zwei gekreuzte Rechen). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  8. Wappen Töbing (Maulbeerbaum auf Hügel). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  9. Allianzwappen Witzendorff (zwei gekreuzte Rechen)/Garlop (Hundekopf mit einer Schelle am Halsband). Vgl. Büttner, Genealogiae.
  10. Bursche, Ratssilber, Nr. 27, S. 148–151.
  11. Der entsprechende Passus des Testaments zit. bei Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 12. Auch bei Bursche, Ratssilber, Nr. 27, S. 153. Das Testament ist erhalten: StA Lüneburg, UA b: 1617 August 28. Vgl. dazu Nr. 854.

Nachweise

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 195.
  2. Albers, Rathaus, S. 42f.
  3. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 191 (A, F, nach Albers).
  4. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 293.
  5. Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 12.
  6. Appuhn, Ratssilber, Nr. 24, S. 24f. (A, G).
  7. Kat. Stadt im Wandel, Bd. 2, Nr. 869m, S. 1001f. mit Abb.
  8. Bursche, Ratssilber, Nr. 27, S. 147–153 mit Abb.
  9. Netzer, Ratssilber, Nr. 27, S. 104–107 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 381 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0038105.