Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 313 Berlin, Kunstgewerbemuseum 1536

Beschreibung

Pokal, ‚Münzpokal‘.1) Silber, teilweise vergoldet. Der Pokal gehört zum Ratssilber und wurde 1874 an den preußischen Staat verkauft. In den gedrungen wirkenden Pokal sind zahlreiche Münzen eingelassen, Kuppa und Deckel sind mit plastischem und graviertem Blattornament verziert. Der Deckel wird von einem Januskopf bekrönt, zur einen Seite hin ein bartloser Jüngling, zur anderen Seite hin ein Mann mit Vollbart, die Brust beider Büsten umgeben von insgesamt neun silbernen Brakteaten, darunter verläuft auf einem zur Bekrönung gehörenden Ring die eingravierte und schwarz ausgelegte Inschrift A. Unterhalb der Bekrönung sind auf dem Deckel neun Goldmünzen in Medaillons eingelassen,2) darunter ein Ring mit der eingravierten und schwarz ausgelegten Inschrift B. Die Worttrenner der Inschriften A und B teilweise als Sternchen, sonst als unregelmäßig gesetzte Punkte. Auf der unteren Deckelwölbung über einem Tauband 16 in Medaillons eingelassene Silbermünzen. Alle Münzen sind so in den Deckel eingelassen, dass im Deckelinneren auch ihre Rückseiten sichtbar sind. Sie umgeben dort ein von einem Perlrand eingefasstes Medaillon mit einem Wappenschild darin; im weiten, ebenfalls von einem Perlrand eingefassten Kreis um das Medaillon verläuft zwischen Linien die eingravierte Inschrift C, die innen im Kreis zu beiden Seiten des Medaillons endet. Ende und Anfang der umlaufenden Inschrift bezeichnet ein Sternchen unterhalb der Zeile. Um den oberen Rand der Schale verläuft ein mit graviertem Blattwerk verzierter Ring, darin die gravierte Darstellung zweier Münzen mit Herrscherbüsten sowie deren mit den Inschriften D versehene Rückseiten und ein Wappenschild. Unter dem Fuß das Lüneburger Beschauzeichen und die Meistermarke des Goldschmieds Jochim Gripeswoldt.3)

Maße: H.: 47 cm; Dm.: 23,5 cm; Bu.: 0,4 cm (A, B, D), 0,3 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/8]

  1. A

    + JANVS BIFRONS · PRVDE(N)TIS SPECIMEN ·PRETERITV(M) · P(RAE)SENS · VE(N)TVRV(M) · RESPICE · PRVDENSa)

  2. B

    DE WISE MAN SICHT HINDE(N) VN(DE) VOR ·WES VORGA(N)GE(N) · ITZICH VND NOCH VOR · DER · DOR ·AFBROCK · DER · MV(N)TE DEIT VNS LERE(N) ·WO · SICK · DER WERLDE · SCHEFTE · VORKERE(N)a)

  3. C

    JOHANES KOLLER P(RI)MV(M) SEC(RE)TARI(VS) DE HINC P(RO)THON(OTA)RI(VS)b) DEMV(M) P(RAE)POSIT(VS) LV(N)EBVRGE(N)S(IS) DONO DEDIT A(N)NO // D(OMI)NI // 1536a)

  4. D

    DIVA // POLN

Übersetzung:

Der doppelgesichtige Janus, Symbol des Weisen: Berücksichtige als Weiser das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige. (A) Der weise Mann sieht nach hinten und nach vorne, auf das Vergangene, das Jetzige und das, was noch vor der Tür (steht). Der Verfall des Münzwerts lehrt uns, wie sich die Geschäfte der Welt verändern. (B) Johannes Koller, zunächst Sekretär, darauf Protonotar, zuletzt Propst in Lüneburg hat (dies) als Geschenk im Jahr des Herrn 1536 gegeben. (C)

Versmaß: Hexameter, einsilbig leoninisch gereimt (A, 2. Zeile), deutscher Reimvers (B).

Wappen:
Koller4)?5)

Kommentar

Die Kapitalis ist gekennzeichnet durch ausschließlich verwendetes retrogrades N, oben offene D in DIVA (A) und VND (B), M mit schrägen Hasten und kurzem Mittelteil und dem zweimal als Versal mit Zierelementen gestalteten J (A, C). Letzteres findet sich auch auf dem mit derselben Meistermarke versehenen Interimspokal Nr. 381 und ist auf beiden Stücken auffällig, weil es nicht zum sonstigen Schriftbild der Kapitalis passt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich hinter der besonderen Gestaltung des J als Versalbuchstabe und dem oben offenen D, das dem hier ausgeführten G mit senkrechter Cauda in retrograder Form entspricht, ein Hinweis auf die Initialen des Goldschmieds verbirgt.

In der älteren Literatur wird der Pokal – wie weitere fünf Stücke des Ratssilbers (Nr. 328, 336, 343(?), 381, 387) – dem in den Archivalien gut dokumentierten Lüneburger Goldschmied Jochim Gripeswoldt zugeschrieben, der im Jahr 1518 als Bürger und 1519 als Meister in die Lüneburger Goldschmiede-Innung aufgenommen wurde.6) Er war im September 1561 noch am Leben, aber nach Angaben seines Sohnes Harmen, der die väterliche Werkstatt übernehmen wollte, daran aber von seiner Schwester gehindert wurde, bereits sehr alt und hinfällig.7) Seit Körner, der in der Goldschmiedemarke mit dem geflügelten greifenähnlichen Wesen (vgl. Anm. 3 u. Abb. 57) einen Drachen zu erkennen glaubte, gilt Jochim Worm, Sohn des Goldschmieds Hermen Worm und Bruder des Ambrosius, als Verfertiger des Pokals.8) Allerdings ist es äußerst unwahrscheinlich, dass ein nach Ausweis des Donats9) erst 1536 als Meister in die Innung aufgenommener Goldschmied, über dessen Werke und Tätigkeit sonst nichts bekannt ist, mit dem bereits im Sommer 1535 von Johannes Koller beauftragten Meister identisch sein soll (s. u.). Auch erscheint die Argumentation Körners wenig überzeugend, dass Jochim Gripeswoldt als einziger Goldschmied mit den von ihm als IG interpretierten – tatsächlich aber wohl eher als CI zu lesenden (vgl. Nr. 335) – Initialen in der Marke des Planetenbechers in Einklang zu bringen ist, weshalb ihm Körner sämtliche Stücke des Ratssilbers abspricht. Hingegen könnte das greifenähnliche Wesen der Marke als Anspielung auf den Namen Gripeswoldt zu interpretieren sein.

Der Pokal wird von einem Januskopf bekrönt, dessen beide Gesichter wohl nicht zufällig eine große Ähnlichkeit zu dem langen, hageren Gesicht mit der markanten Nase in dem Porträt des Johannes Koller aufweisen. Die prunkvolle Goldschmiedearbeit wurde noch zu Lebzeiten des letzten altgläubigen Propstes von St. Johannis (zur Person vgl. das Porträt Nr. 319), von diesem bei einem Goldschmied in Auftrag gegeben, aber offenbar erst nach Kollers Tod am 31. März 1536 vollendet, denn in dem vom 6. April 1536 stammenden Inventar seines Nachlasses sind noch neghen vngerssche gulden dat kleynode to des Rades behoeff to makende bestalt mede to vorgulden verzeichnet, also neun Gulden, für die der bereits bestellte Pokal vergoldet werden sollte.10) Die wohl schon 1535 abgefassten deutschen Erläuterungen und Präzisierungen Kollers zu seinem lateinischen Testament enthalten einen Passus, wonach 300 Mark aus seinem Vermögen dafür bestimmt waren, einen an Pantaleonis 1535 (28. Juli) beauftragten, namentlich nicht genannten Goldschmiedemeister zu entlohnen, der ein Kleinod für das Ratssilber herstellen sollte, falls Koller die Bezahlung nicht zu Lebzeiten noch selbst erledigen konnte, wie dann offenbar auch geschehen.11) Da in Kollers Nachlass sehr viele unterschiedliche Münzen verzeichnet sind, dürfte die Idee zu dem Münzpokal von ihm ausgegangen sein. Wahrscheinlich ist auch, dass er die dafür bestimmten Münzen selbst ausgewählt und dem Goldschmied übergeben hatte. Vermutlich hat Koller auch die Inschriften für den Pokal selbst verfasst, denn die Reflektionen über die Wechselfälle der Geschichte, die auch am Verfall des Münzwerts deutlich werden, passen zur Lebenserfahrung des katholischen Propstes, der mitansehen musste, wie die evangelische Kirchenordnung in der Stadt Lüneburg gegen seinen Willen eingeführt wurde. Bemerkenswert ist allerdings, dass der seiner wesentlichen Funktionen enthobene Geistliche, der sich schließlich auch vom – zunächst noch am alten Glauben festhaltenden – Rat der Stadt im Stich gelassen sah, der Stadt trotzdem einen derart aufwendigen Pokal schenkte. Die besondere Bedeutung dieses Pokals innerhalb des Ratssilbers wird daran deutlich, dass er nicht zu den mit leichter Hand weggegebenen Stücken gehörte, die erneut angefertigt wurden; die hohe Aussagekraft des Pokals für seinen Stifter bzw. dessen Nachkommen dokumentiert das nach dem Tod Kollers angefertigte Gemälde, das ihn mit dem Pokal im Hintergrund zeigt (Nr. 319).

Textkritischer Apparat

  1. Alle N retrograd.
  2. Über dem N ein Häkchen als Kürzel, unten in R ein kleines o eingestellt, us-Kürzel am Schluss.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 1874,384. Detaillierte Beschreibung bei Bursche, Ratssilber, Nr. 19, S. 130–134. Vgl. a. die Darstellung des Pokals auf dem Gemälde Nr. 319, dort mit abweichendem zweiten Teil der Inschrift B, der in der kopialen Überlieferung immer wieder als Inschrift des Pokals zitiert wird als: Bei der Muntz sol man leren / Wie sich die weldt thut uerkeren. So oder ähnlich bei: Chytraeus, Deliciae, S. 455. Rikemann, Beschrivinge, Ex. Hannover, p. 342. Rikemann, Beschrivinge, Ex. Göttingen, p. 198. Rikemann, Beschrivinge, Ex. Lüneburg, fol. 213v. Dithmers, Chronik, p. 247. Bertram, Evangelisches Lüneburg, S. 59. Sagittarius, Memorabilia, S. 41. Reinbeck, Chronik, p. 622. Michelsen, Cronica, p. 170. Bellmann, Chronica, p. 210.
  2. Die Goldmünzen detailliert beschrieben bei Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 10 u. bei Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 197.
  3. Meistermarke (Wappenschild, darin ein Greif mit Flügeln sowie einem wie bei einem Meerwesen gespaltenen Schwanz). Vgl. Abb. 57. Die identische Zeichnung der – häufig etwas verdrückten – Marke bei Rosenberg, Merkzeichen Nr. 3266a (ohne Zuschreibung), Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 10 (Gripeswoldt) und Scheffler, Goldschmiede, Nr. 75, S. 901f., Meisterzeichen Nr. 1720 (Gripeswoldt), nicht ganz zutreffend.
  4. Wappen Koller (aus Ast nach oben hervorwachsender Zweig mit drei Eicheln und zwei Blättern).
  5. Wappen ? (viergeteilt, wechselnd tingiert).
  6. Nachweise nach Schröder, Ratssilber, Meister, [S. 16].
  7. StA Lüneburg, AA G4n Nr. 1 (o. p.), Schreiben vom 18. September 1561.
  8. Gerhard Körner, Planetenbecher, Faltblatt 1 (1972), Museumsverein Lüneburg, u. darauf beruhend Kat. Stadt im Wandel, Bd. 2, Nr. 869k, S. 997 (Appuhn); Bursche, Ratssilber, Nr. 19, S. 130 mit Anm. 1, S. 134; Netzer, Ratssilber, S. 86.
  9. StA Lüneburg, AB 2 (Donat), p. 95: Jochim worm der goltsmede.
  10. Gedr. in: Th. Meyer, Inventar des Nachlasses des weiland Propstes zu St. Johann in Lüneburg M. Joh. Koller 1536. In: Lüneburger Blätter 1882–1890, S. 73–86, hier S. 75.
  11. StA Lüneburg, UA b: [nach 1535 März 28], die Signatur mit falscher Datierung, da die Erläuterung zu der Stiftung des Kleinods das Datum des 28. Juli 1528 enthält (fol. 4v): ... Alse ick vormarket dat desser miner guder mennige allenthalven neine stadt mocht werdenn gefunden, so heb ick in stadt dusser gifte so ick intende ahm dele vortekent dem Ersamen Rade ein sunderlich Clenode inn ohre Schenkschiven vorordent dat itzt vor dem meisther is geschreven Anno 1535 die Pantaleonis, derhalven scholenn desse drehundertt mark by minem Testamente tho utrichtinge dessulven bliven, idt ennwurde denn hir vann dorg my ehne sunderlige schickinge gemakett der men ehnen lofwerdigen schin funde.

Nachweise

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 196.
  2. Uffenbach, Reisen, S. 500 (A, B).
  3. Albers, Rathaus, S. 45.
  4. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 191f. (A–C, nach Albers).
  5. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 295.
  6. Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 10.
  7. Appuhn, Ratssilber, Nr. 19, S. 20f.
  8. Kat. Stadt im Wandel, Bd. 2, Nr. 869k, S. 997.
  9. Bursche, Ratssilber, Nr. 19, S. 130–134 mit Abb.
  10. Netzer, Ratssilber, S. 86f. mit Abb.
  11. Uppenkamp, Ikonographie, S. 276 (A, B).

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 313 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0031302.