Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 100: Stadt Lüneburg (2017)
Nr. 177 Rathaus 4. V. 15. Jh.
Beschreibung
Weltgerichtsbild auf der Wandvertäfelung der Gerichtslaube (Ratsdörnse). Holz, bemalt. Das Gemälde befindet sich im Bogenfeld der hölzernen Wandvertäfelung über den beiden Arkadenbögen der nördlichen Gerichtslaube. Es zeigt vor blauem Hintergrund auf grünem Rasen in der Mitte Christus als Weltenrichter mit Lilie und Schwert auf einem Regenbogen, links und rechts von ihm knien Maria, die ihre Brust entblößt und mit einem Taschentuch ihre Tränen trocknet, und Johannes Baptista mit zum Gebet zusammengelegten Händen, links außen in Halbfigur Jakobus d. Ä. in Pilgerkleidung (vgl. Kommentar) mit dem Schriftband A, dessen Ende heute leer ist, rechts außen die Halbfigur des Moses mit Hörnern und dem Schriftband B, dessen Ende heute ebenfalls leer. Die Initialen der beiden Inschriften rot, die anderen Buchstaben schwarz auf weißem Grund, die Buchstaben durch Restaurierungen stark überformt. Unter der Darstellung verläuft über die gesamte Breite des Bogenfelds die erhaben in vertiefter Zeile geschnitzte Inschrift C, die Buchstaben vergoldet auf blauschwarzem Grund, das Ende der Inschrift nur gemalt.
Die Inschriften A und B ergänzt nach Büttner.
Maße: H.: 180 cm; B.: 750 cm; Bu.: 9 cm (A, B), 12 u. 9 cm (C).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.
- A
Judicium · · sine · misericordia · fiet · illi · qui · misericordiam · non · fecita) ·1) [Jacobi II°]
- B
Pauperis · non · misereberis · in · iudicio ·2) [Exodi XXIII]
- C
· diligite · iusticiam · qui · iudicatis · terram · Sap(ientia) · p(rim)o3) · Audi partem alteram4) · Apostolus p(aulus)b) ad thimotheu(m) qui(n)to · c) Justo iudicio pauperi (et) diviti iudiciumd)
Übersetzung:
Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit geübt hat. (A) Du sollst den Armen nicht bemitleiden vor Gericht. (B) Liebt die Gerechtigkeit, die ihr die Erde richtet. Die Weisheit, im ersten Kapitel. Höre die andere Seite. Apostel Paulus an Timotheus im fünften Kapitel. Durch ein gerechtes Urteil ... dem Armen ... und dem Reichen das Urteil. (C)
Textkritischer Apparat
- fecerit Büttner, möglicherweise die ursprüngliche Version.
- Auch die Lesung p(rimo) möglich, so bei Gebhardi und Albers, priore Büttner. Über dem p ein Häkchen, danach hochgestellt ein e, möglicherweise falsch restauriert anstelle einer us-Kürzung.
- Ab hier ist die Inschrift nur aufgemalt.
- iud bei Büttner, fehlt bei Gebhardi, bei Albers ein Auslassungsstrich, in... Mithoff. Möglicherweise erst in jüngerer Zeit nachgetragen, kleiner ausgeführt als die übrige Inschrift.
Anmerkungen
- Nach Iac. 2,13.
- Ex. 23,3.
- Sap. 1,1.
- Augustinus, De duabus animabus 14,22. Vgl. a. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 1708a.
- Reinecke, Rathaus, S. 56.
- Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 12, S. 131.
Nachweise
- Büttner, Inscriptiones.
- Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 190.
- Albers, Rathaus, S. 10.
- Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 184.
- Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 227f.
- Reinecke, Rathaus, S. 55f.
- Hans Georg Gmelin, Das Weltgerichtsbild in der Gerichtslaube des Lüneburger Rathauses. In: Lüneburger Blätter, Heft 19/20 1968/69, S. 96–99 u. Taf. 22–24.
- Gmelin, Tafelmalerei, Nr. 12, S. 131 (Lesung teilweise abweichend).
- Uppenkamp, Ikonographie, S. 255 (nach Wehking) mit Abb. 6.
Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 177 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0017704.
Kommentar
Inhaltlich knüpfen die Inschriften des Weltgerichtsbildes an die Inschriften der Glasfenster Nr. 69 u. Nr. 70 an, die sich mit dem Thema Gericht und Rechtsprechung befassen. Der Bezug zwischen himmlischer und weltlicher Gerichtsbarkeit, die barmherzig sein soll, wird hier durch die Inschrift A mit dem Zitat aus dem Jakobus-Brief hergestellt, als dessen – allgemein sehr unterschiedlich identifizierten – Autor die Urheber des Gemäldes den Apostel Jakobus d. Ä. ansahen. Hier liegt der ikonographisch wohl eher seltene Fall vor, dass man eine sonst nicht zum Figurenrepertoire der Szene passende biblische Person darstellte, weil das ihr zugeschriebene Bibelzitat als wichtig für das Inschriftenprogramm angesehen wurde. Dasselbe gilt hier auch für die Darstellung des Moses und die ihm zugeordnete Inschrift B, die eine Art Gegengewicht zu Inschrift A bildet und gegen die Barmherzigkeit eine Rechtsprechung ohne unangebrachtes Mitleid stellt.
Der zweite Teil der Inschrift C erscheint unstimmig: das sprichwörtliche Audi partem alteram lässt sich weder wörtlich noch sinngemäß in den Timotheusbriefen nachweisen, und der letzte Teil der Inschrift ergibt so keinen Sinn. Da schon Büttner und Gebhardi die Inschrift überliefern, ist sie vermutlich bereits vor dem 18. Jahrhundert sinnentstellend erneuert worden. Da vor Justo ein neues Balkenstück beginnt, könnte dieses komplett ausgewechselt worden sein. Darauf könnte auch die vergleichsweise einfache Schriftausführung der gotischen Minuskel auf diesem Balkenteil hinweisen: das Kasten-a in pauperi wirkt plump im Vergleich zu den mit elegantem Zierhäkchen versehenen zweistöckigen a der vorderen Balkenstücke, die Zierhäkchen der Buchstaben e und r fehlen hier ebenso wie die Worttrenner.
Reinecke erkennt in den beiden A-Versalien der Inschrift C die Lüneburger Stadtmarke; dies ist möglich, könnte aber auch auf einem reinen Zufall beruhen.5) In den Kämmereirechnungen der Stadt lässt sich kein Eintrag finden, der sich auf die Ausführung des Gemäldes beziehen könnte und eine präzise Datierung erlauben würde. Gmelin datiert das Gemälde aus stilistischen Gründen auf die Zeit um 1482.6)