Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 95 St. Nicolai 1444–1447

Beschreibung

Gemälde auf den Doppelflügeln des ehemaligen Heiligenthaler Passionsaltars. Temperamalerei auf Eichenholz. Der Altar stammte ursprünglich aus der Andreaskirche des im Zuge der Reformation aufgelösten Prämonstratenserklosters Heiligenthal und fand bis zum Jahr 1861 als Hochaltar in St. Nicolai Verwendung.1) Danach wurde der Altar auseinandergenommen und seine Bestandteile über die Kirche verteilt. Die 28 Reliefs aus dem Altarschrein und den Innenflügeln, von denen nur ein Teil erhalten und an verschiedenen Stellen in der Kirche angebracht ist, zeigten zu beiden Seiten des großen Kreuzigungsreliefs in der Mitte Szenen aus dem Marienleben und der Vita Christi. Die Gemälde der Altarflügel sind über den Chorumgang verteilt. Inschriften befinden sich – mit Ausnahme der Inschrift I – in den Gemälden lediglich in den Nimben der dargestellten Heiligen und sind entweder nur fragmentarisch erhalten oder durch Restaurierung wiederhergestellt. Dargestellt sind Szenen aus der Vita der Heiligen Andreas und Laurentius, die sich früher bei geschlossenen Innenflügeln über alle vier Altarflügel erstreckten, in der oberen Reihe die auf den Apostel Andreas bezogenen Szenen, in der unteren Reihe die auf den Heiligen Laurentius bezogenen Szenen. Die Szenen begannen auf der Innenseite des linken Außenflügels, der heute in der mittleren Chorkapelle angebracht ist: oben links die Berufung des Andreas, die Inschriften in den Nimben nicht mehr lesbar; oben rechts die Erweckung von drei Schiffbrüchigen, im Nimbus des Andreas die Inschrift A; unten links der Empfang des Kirchenschatzes durch Laurentius, im Nimbus die Inschrift B; unten rechts die Austeilung des Kirchenschatzes an die Armen, im Nimbus des Laurentius die Inschrift C; auf der Außenseite des linken Außenflügels Abraham und Melchisedech, im Hintergrund die Stadt Lüneburg und die gerade vollendete Kapelle St. Gertrudis. Vier weitere Szenen aus der Vita des Andreas sind im Chorumgang an der nördlichen Schranke angebracht: Taufe der Maxilla, im Nimbus des Andreas Reste des Titulus D; Disput mit dem Statthalter Aegeas von Patra; im Nimbus des Andreas ein bei einer Restaurierung ausgeführter Titulus in gotischer Majuskel;2) Martyrium am Gabelkreuz, im Nimbus des Andreas die stark überarbeitete Inschrift E; Tod des wahnsinnig gewordenen Aegeas, im Hintergrund die Stadt Lüneburg mit der in Bau befindlichen Kapelle St. Gertrud vor den Stadttoren. Vier weitere Szenen aus der Vita des heiligen Laurentius sind im Chorumgang an der südlichen Schranke angebracht: Taufe des Lucillus durch Laurentius; Blindenheilung; Laurentius zeigt Kaiser Decius die Armen als den wirklichen Schatz der Kirche; Martyrium durch Schläge; in den beiden ersten Szenen bei einer Restaurierung erneuerte Nimben in gotischer Majuskel,3) in der dritten Szene der in der originalen Ausführung erhaltene Nimbus mit der Inschrift F. Die Vita der beiden Heiligen endet in Szenen auf dem ehemaligen rechten Außenflügel, der heute in der mittleren Kapelle des Chorumgangs hängt: oben die Bestattung des Andreas; Andreas erscheint nach seinem Tod einem Bischof; unten Tod des heiligen Laurentius auf dem Rost; Bestattung. In den beiden linken Bildern ein erneuerter Streifen am linken Rand, zu dem auch die Nimben gehören, im Bild rechts oben im Nimbus des Andreas die Inschrift G, im Bild rechts unten im Nimbus des Laurentius die Inschrift H. Auf der ehemaligen Außenseite dieses Altarflügels eine Darstellung des Abendmahls. An der linken Wand in weißer Schrift die dreizeilige Inschrift I, die den Charakter eines Eintrags in einem Rechnungsbuch hat. Darunter ist ein braunes Brett mit darauf aufgeheftetem Pergament gemalt, das einen andeutungsweise in roten und schwarzen Buchstaben ausgeführten weitgehend unlesbaren Text (J) trägt (vgl. Kommentar).

Maße: H.: 104,5 cm; B.: 75,5 cm (Innenflügel); H.: 213 cm; B.: 167 cm (Außenflügel); Bu.: 2,2–3 cm (A–D, F–H), 2,5 cm (E), 0,4 cm (I), 0,2–0,3 cm (J).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (A–H), Kursive (I, J).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/4]

  1. A

    Sanctus · A[......] ora p(ro) no(bis)4)

  2. B

    Sanctvs · laurentivs

  3. C

    [......]s lavre(n)tivs [or]a4)

  4. D

    Sanc[tus] and[reas]

  5. E

    Sanctus andreas o(ra pro nobis)4)

  6. F

    Sanctus · Lau[rentius] · or[a pro nobisa)]4)

  7. G

    Sanctvs · andreas · ora (pro nobis)4)

  8. H

    (Sanctu)sb) · Laurentius ·

  9. I

    It(em) te(...) michi nihu(.) mk / a hom w[.]ltem su (com)perit/ ix m ffc)

  10. J

    [ – – – ] / Bnoerma

Übersetzung:

... bitte für uns. (A, C, E, F, G).

Kommentar

Sämtliche Gemälde des Heiligenthaler Altars schreibt Reinecke aus stilistischen Gründen und aufgrund der großen Übereinstimmungen mit den Gemälden des Lamberti-Altars (vgl. Nr. 94) dem Hamburger Maler Hans Bornemann zu.5) Es könnte sein, dass Bornemann mit der gleichzeitig auffallend präzise und doch unlesbar gemalten Inschrift J einen Vertrag mit dem ausführenden Künstler wenigstens andeuten wollte und im letzten Wort mit seinem Namen gespielt hat. Auch die Bedeutung der Inschrift I ist nicht zu klären, da der Text nicht eindeutig zu interpretieren ist. Aus der teilweise völlig unzutreffenden und ausdrücklich als unsicher gekennzeichneten Lesung Lochmanns konstruiert Meyne6) einen Bildhauer namens Hermann Snitker (vgl. Nr. 62), dem er außer den Reliefs des Heiligenthaler Altars aus stilkritischen Gründen auch noch ein Relief im Liebighaus in Frankfurt zuweisen möchte und den er mit dem Lüneburger Gießer Hermann Snitker identifiziert. Dass Hermann Snitker bereits 1432 starb, die Gemälde des Altars jedoch zweifelsfrei auf die Jahre 1444 bis 1447 zu datieren sind (s. u.), bereitet Meyne keinerlei Probleme. Vielmehr datiert er die Skulpturen deutlich früher als die Gemälde auf die Zeit um 1425 und geht davon aus, dass der Altar zunächst ohne Gemälde und Staffierung aufgestellt worden und in diesem Zustand 20 Jahre verblieben sei.7) Tatsächlich sind die Skulpturen des Heiligenthaler Altars aus stilkritischen Gründen in die Zeit der Entstehung der Gemälde kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts zu setzen. Mit den erzählenden Szenen steht der Altar wie der Lamberti-Altar in einer Tradition, die sich – seit dem frühen 15. Jahrhundert von den Niederlanden ausgehend – auch in Norddeutschland verbreitet und die um eine zentrale Darstellung herum angeordnete Reihen von Heiligenfiguren allmählich ablöst.8) Die genaue Datierung der Gemälde ergibt sich einerseits aus einem Leibrentenbrief des Klosters Heiligenthal vom 31. August 1444, wonach ein eingezahltes Kapital u. a. zur Vergoldung der Tafeln des Hochaltars verwendet werden sollte, andererseits durch die Darstellung der 1444 bis 1447 vor den Toren der Stadt Lüneburg gebauten Gertrudenkapelle, die sich auf der ersten Stadtansicht in der Darstellung von Aegeas’ Tod noch im Bau befindet, auf dem linken äußeren Außenflügel jedoch bereits vollendet ist.9)

Textkritischer Apparat

  1. pro nobis kann aus Platzgründen nur gekürzt ausgeführt gewesen oder ist ganz ausgefallen.
  2. Der imaginäre Beginn der Nimbeninschrift von einem Arm verdeckt.
  3. Abgesehen von den ersten drei Worten unsichere Lesung. Item tenetur michi MLI lb mk / herm (oder hans) Wiltemestr (oder Swiltemestr/Smiltemester) composuit / finis Lochmann, dessen Lesung teilweise gar nicht mit dem Befund vereinbar ist. Eine Entlohnung in Höhe von 1051 Mark wäre auch außerordentlich hoch, wenn man dagegensetzt, dass Hans Bornemann für die Gemälde des Kreuz-Altars in der Nikolaikapelle in Bardowick 18 Mark erhielt (vgl. Reinecke, Borneman, S. 263) und für seine nicht näher beschriebenen Arbeiten für die Lambertikirche, die möglicherweise über die Anfertigung der Altargemälde weit hinausgingen, eine lebenslange Rente in Höhe von 25 Mark (StA Lüneburg, Br 77/10 1463 März 19, vgl. Reinecke, Borneman, S. 228).

Anmerkungen

  1. Zur ursprünglichen Gestalt des Altars vgl. Lochmann, Vom Hochaltar des Klosters Heiligental. In: Lüneburger Museumsblätter Bd. 2 (Heft 8), 1912, S. 401–403. Sowie Helmut Reinecke, Die Rekonstruktion des Heiligentaler Altars. In: Lüneburger Museumsblätter Heft 13, 1937, S. 101–107.
  2. SANCT(US) ANDREAS. Die Ausführung in Majuskeln entspricht nicht dem Original, da die erhaltenen Tituli beider Bornemann-Altäre nur gotische Minuskel in den Nimben zeigen. Zu den Restaurierungen vgl. die Quellenexzerpte bei Rümelin, St. Nicolai, S. 886 (PDF CD).
  3. SANCT(US) LAURENTIUS. Die Ausführung in Majuskeln entspricht nicht dem Original.
  4. Vgl. Cantus Database, ID 008164.
  5. Reinecke, Bornemann, passim, besonders auch die Quellenzitate, S. 228f.
  6. Meyne, Plastik, S. 54.
  7. Kemperdick, Bornemann, S. 60, glaubt ebenfalls nicht an an diese zeitliche Differenz zwischen der Anfertigung der Skulpturen und der Gemälde.
  8. Für die stilkritische Beurteilung der Reliefs danke ich Herrn Dr. Jens-Uwe Brinkmann (Hamburg).
  9. StA Lüneburg, AB 591a, p. 128. Reinecke, Borneman, S. 210. Gmelin, Tafelmalerei, S. 84–97. Beide mit weiteren Literaturangaben. Nach Kemperdick (Bornemann, S. 82f.) handelt es sich bei den beiden Darstellungen um bemerkenswert frühe topographisch genaue Stadtansichten in der europäischen Malerei.

Nachweise

  1. Lochmann, Vom Hochaltar des Klosters Heiligental. In: Lüneburger Museumsblätter Bd. 2, Heft 8, 1912, S. 402 mit Abb. (nur I).
  2. Reinecke, Führer, Nr. 3b, S. 10 (N).
  3. Gmelin, Tafelmalerei, S. 96 (teilweise unzutreffende Lesungen der Nimbeninschriften), Abb. 2.1–13, S. 87–97.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 95 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0009509.