Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 86 Berlin, Kunstgewerbemuseum 1443

Beschreibung

Reliquiar, ‚Bürgereidkristall‘ oder Schwurblock.1) Silber, teilweise vergoldet, Email, Halbedelsteine und Bergkristall. Das Reliquiar gehört nicht zum ursprünglichen Bestand des Lüneburger Ratssilbers, wurde aber zusammen mit diesem im Jahr 1874 an den preußischen Staat verkauft. Der kleine Schrein in Form einer gotischen Kapelle trägt auf dem Dach das von zwei knienden Engeln gerahmte Gefäß, einen seitlich mit vergoldetem Silber eingefassten Kristall, in dem sich bis zur Reformation eine Reliquie befand. Unterhalb des Reliquienbehältnisses beidseitig jeweils ein Schriftband mit den beiden Teilen der Inschrift A, der erste Teil in glatten goldenen Majuskeln vor vertiefter, mit schwarzem Email eingefärbter Zeile, der zweite Teil in eingravierten Minuskeln in insgesamt mit blauem durchsichtigen Email überfasster Zeile, der Beginn dieses Schriftbands zerstört. Auf der einen Längsseite in der Mitte der thronende Christus als Weltenrichter in einer Mandorla umgeben von den Evangelistensymbolen – oben Engel und Adler, unten Löwe und Stier – mit den eingravierten Tituli B auf den Schriftbändern, der linke Teil des Schriftbands des Johannes-Adlers ist abgebrochen; seitlich unter Baldachinen kniend Maria und Johannes als Fürbitter sowie außen jeweils ein Engel mit Posaune. Auf der anderen Längsseite in der Mitte eine Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes, am Kreuz der Titulus C auf einem eingerollten Schriftband in glatten Buchstaben vor aufgerautem Hintergrund in vertiefter Zeile, zu beiden Seiten der Kreuzigungsgruppe jeweils zwei Apostel in Nischen unter Wimpergen. Auf den beiden Schmalseiten vor den als Bogennischen gestalteten Türchen Figuren des heiligen Georg und einer weiblichen Märtyrerin, vermutlich der heiligen Ursula. In der Sockelzone ein umlaufender Fries mit großen gefassten Halbedelsteinen über einer geriffelten Zarge und der vorspringenden Sockelplatte.

Maße: H.: 24,5 cm; B.: 28,5 cm; T.: 16 cm; Bu.: 0,7 cm (A), 0,3 cm (B), 0,8 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Majuskel und gotische Minuskel (A), gotische Minuskel mit Versalien (B), gotische Majuskel (C).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/3]

  1. A

    ITE2) : : VENITE // [ben]edicti · p(at)r(i)s · mei · 3)

  2. B

    S(anctus) matte(us)a) // [S(anctus) iohann]es // S(anctus) marcu(s)b) // S(anctus) lucasc)

  3. C

    I(ESUS) N(AZARENUS) R(EX) I(UDAEORUM)4)

Übersetzung:

Geht. Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters. (A)

Kommentar

Bei der in den Inschriften A und C verwendeten gotischen Majuskel handelt es sich um eine sehr manierierte Spätform dieser Schriftart mit starken Bogenschwellungen und keilförmiger Gestaltung von Schräghasten und Balken sowie ausgeprägten Zierhäkchen mit tropfenförmigen Schwellungen. Besonders auffallend sind die unzialen E, aus deren Bogen sich von oben und unten zwei schmale Bögen entwickeln, die – unter Aussparung eines kleinen Keils am Bogen – den nicht bis zum Abschluss-Strich durchgezogenen, rechts gespaltenen und nach oben und unten umgebogenen Mittelbalken bilden. Die beiden Wörter ITE VENITE sind durch jeweils zwei übereinandergesetzte Kreuzchen voneinander getrennt, die den Abschluss-Strich des E und die linke Schräghaste des V begleiten.

Das Reliquiar5) wurde im Jahr 1443 von dem Lüneburger Goldschmied Hans Lafferde angefertigt, der dafür mit 82 ½ Mark entlohnt wurde, für Material wurden noch einmal 173 Mark und 16 ½ Schilling ausgegeben.6) Hans Lafferde erwarb im Jahr 1436 die Lüneburger Bürgerschaft und starb 1445/46.7) Das Reliquiar diente den Bürgern zur Ablegung des Eids8) und wurde später auch in hölzerner Form nachgebaut (vgl. Nr. 662). Nach der Einführung der Reformation wurde im Jahr 1544 anstelle der nun als wirkungslos geltenden Reliquie ein kleines Büchlein des Neuen Testaments erworben und in dem Kästchen deponiert.9) Bei der Vereidigung von Lüneburger Neubürgern wurde das Silberkästchen noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet.10) Allerdings muss es schon bald danach zu einem einschneidenden Sinneswandel im Lüneburger Rat gekommen sein, so dass man das – nun offenbar funktionslos gewordene – Kästchen verkaufte.11)

Textkritischer Apparat

  1. Zwischen m und a wird das Wort durch die in das Schriftband hineinragende Engelsfigur unterbrochen.
  2. Anstelle des s zwei übereinandergesetzte Quadrangeln.
  3. Über dem a ein großer Kürzungsstrich, der hier bedeutungslos ist.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. 1874,371.
  2. Nach Mt. 25,41 (discedite a me maledicti in ignem aeternum). Vgl. a. Nr. 136.
  3. Nach Mt. 25,34.
  4. Io. 19,19.
  5. Ausführlich zu diesem Stück und seiner Benutzung Bursche, Ratssilber, Nr. 1, S. 95–99, u. Netzer, Ratssilber, Nr. 1, S. 48–51, auch mit weiterer Literatur, sowie Appuhn, Ratssilber, Nr. 1, S. 9f.
  6. Der Eintrag im Kämmereiregister (StA Lüneburg, AB 56/1, fol. 1r) erstmalig zit. bei Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 1, vgl. a. Bursche, Ratssilber, S. 97.
  7. Vgl. Schröder, Ratssilber, Meister, [S. 6]; danach Scheffler, Goldschmiede, Bd. 2, S. 892. Die Bürgeraufnahme StA Lüneburg, AB 2, p. 30.
  8. Dazu ausführlich Bursche, Ratssilber, S. 99.
  9. StA Lüneburg, AB 56/4, fol. 377v: Item viii s(chilling) geven vor 1 klein bock dar inne dat nige testament in den sulveren Block dar de borger vp sweren. Zit. bei Bursche, Ratssilber, S. 97.
  10. Albers, Rathaus, S. 40.
  11. Vgl. Bursche, Ratssilber, S. 22.

Nachweise

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 193 (A).
  2. Albers, Rathaus, S. 40f. (A).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 190 (A unvollständig).
  4. Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 291 (A unvollständig).
  5. Schröder, Ratssilber, Werke (o. S.), Nr. 1.
  6. Appuhn, Ratssilber, Nr. 1, S. 9 (A).
  7. Bursche, Ratssilber, Nr. 1, S. 95–99 mit Abb., hier S. 96 (A).
  8. Netzer, Ratssilber, Nr. 1, S. 48–51 mit Abb., hier S. 48 (A).

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 86 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0008607.