Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 70 Rathaus 1434?, 1620

Beschreibung

Glasmalerei in den drei stichbogig abgeschlossenen Fenstern der Ostwand in der Gerichtslaube (Ratsdörnse). In jedem der drei dreibahnigen Fenster oben in jeder Bahn ein Medaillon mit der Darstellung eines Weisen in Halbfigur umgeben von einer um das Medaillon verlaufenden Inschrift (A–I), unten in jeder Bahn ein Wappenschild, darin abwechselnd das Wappen der Stadt und des Fürstentums Lüneburg. Die Umschriften wirken stark durch Restaurierungen überformt (vgl. Kommentar), zudem wurden die Bruchstücke teilweise willkürlich zusammengesetzt und damit der Textbefund gestört. Daher wird hier an den Stellen, an denen die Textabfolge nicht gesichert ist, der Wechsel zwischen den Scheibenstücken markiert. Offenbar waren die Inschriften schon zur Zeit Gebhardis in ähnlichem Zustand, der die Inschriften als moralisch übel gefast und schwer zu lesen bezeichnet und daher nicht wiedergibt.1) In jedem Fenster in der untersten mittleren Raute die Renovierungsinschrift J.

Maße: H.: 200 cm; B.: 190 cm (jedes Fenster); Bu.: 4,2–5 cm (A–I), 1,8 cm (J).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (A–I), Kapitalis (J).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/3]

  1. A

    · Isaias · Consilium · (et)a) · sapiencia · diuiciae · sunt · salutis ·2)

  2. B

    [..]noso[.]//oue(n)it · vir//os · ma ·//deata · mulie//ate · p//age · Joh//b · mo//es ·b)

  3. C

    non · nob(is) · solu(m) · nati · sumus · sed // [.....]//ie · ecia(m) //et · a//[..........] //o3)

  4. D

    optimu(m) · e(st) · maioru(m) · vestigia · seqvi · si · recte · p(rae)cedant · Seneca ·4)

  5. E

    Consilia · vestra · in · deo · permaneant · (et)a) · cet(era) · Tobias ·c)5)

  6. F

    · mole//[....]//s est // inter //cos//i// iud//[..]//qua(m)//[......]// · bias ·//[.....]//ica(r)e · 6)

  7. G

    Deponat · p(er)sona(m) · amici · q(ui) · induit · p(er)sona(m) · iudicis · Tullius ·7)

  8. H

    Nereusd) · Jnauditis · partibus · noli · aliquit · d[esti]n[a]ree)8)

  9. I

    Sine · c(on)silio · [nih]il · facies · (et) · p(ost) · f(a)c(tu)m · n[on] · penitebis · Jesus Sirach9)

  10. J

    RENOVATVM 1620

Übersetzung:

Die Überlegung und die Weisheit sind Reichtümer des Heils. (A) Nicht für uns allein sind wir geboren, sondern auch ... . (C) Das Beste ist, den Fußstapfen der Vorfahren zu folgen, wenn sie in rechter Weise vorangehen. (D) Eure Beschlüsse sollen in Gott beharren. (E) Es ist beschwerlicher, unter Freunden zu richten als unter Feinden. (F) Die Rolle des Freundes soll derjenige ablegen, der die Rolle des Richters übernimmt. (G) Du sollst nichts entscheiden, ohne die Parteien gehört zu haben. (H) Tue nichts ohne Rat, und du wirst es nach der Tat nicht bereuen. (I) Renoviert 1620. (J)

Kommentar

Zur Datierung der Glasmalereien in der Gerichtslaube vgl. Nr. 69. Schon im Jahr 1515 wurden die Fenster neu in Blei gefasst. Dafür und für etlike venster upt radthus to makende erhielt Claus Papen 14 Mark und 6 Groschen.10) Es erhebt sich – zumindest im Hinblick auf die Inschriften – die Frage, inwieweit sich hier überhaupt noch Reste der Bemalung des 15. Jahrhunderts erhalten haben, da es verschiedene Indizien für eine starke Überformung möglicherweise schon bei der inschriftlich dokumentierten Renovierung von 1620 oder bei der Überarbeitung im 19. Jahrhundert gibt. Besonders auffällig sind die dicken punktförmigen Worttrenner, die nicht zum Repertoire einer mittelalterlichen gotischen Minuskel gehören. Hier hätte man vielmehr Quadrangeln mit Zierhäkchen erwartet. Verdächtig erscheint auch die Inschrift I, die Becksmann/Korn komplett dem 15. Jahrhundert zuschreiben.11) Die Autorangabe Jesus Sirach – zu erwarten wäre hier Eccl. bzw. Ecclesiasticus – in Verbindung mit dem lateinischen Text des apokryphen Bibelbuchs erscheint für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts zumindest sehr ungewöhnlich und deutet vielmehr auf eine Ausführung im 17. Jahrhundert. Verse dieses Bibelbuchs werden in der Zeit vor der Reformation ohnehin nur sehr selten für Inschriften rezipiert, während sich die moralisch-didaktischen Texte in der Zeit nach der Reformation auch in den Inschriften großer Beliebtheit erfreuen. Der teilweise recht verblasste Erhaltungszustand der Buchstaben der Inschrift I – auch der Autorangabe – macht eine Neugestaltung im 19. Jahrhundert eher unwahrscheinlich. Mit ihrem sehr allgemein gehaltenen Inhalt passt die Inschrift I zudem – ebenso wie die Inschriften A–D – nicht recht zu den thematisch auf die Gerichtslaube bezogenen Inschriften E–H, die sich inhaltlich an die Inschriften J–M im Südfenster (Nr. 69) anschließen. Es wäre daher möglich, dass die Inschriften A–D und I 1620 an die Stelle von anderen nicht mehr rekonstruierbaren Texten gesetzt wurden und damit ein ehemals geschlossenes Textprogramm verändert wurde.

Textkritischer Apparat

  1. Tironisches et.
  2. Die Lesung weitgehend unsicher. Becksmann/Korn rekonstruieren den Text unter Versetzung der Glasstücke mit teilweise abweichender Lesung als ...ilinoso(s) · [ha]bueri(n)t · viros · o(mn)ia · sub · moderata · qui[ri]litate · p(er)ag(er)e · Joh(ann)es ·, konstatieren aber, dass auch dies keinen Sinn ergibt.
  3. Die Inschrift wirkt insgesamt stark überarbeitet. Dass der Befund nicht so klar ist, wie die deutlich lesbaren Buchstaben suggerieren, zeigt der Umstand, dass auf das an einem Scheibenteil endende per am Beginn der nächsten Scheibe noch eindeutig das umgebrochene Ende einer weiteren, hier vom Text her überflüssigen Haste folgt. Auch das am Ende stehende (et) cet(era) erscheint ungewöhnlich. Becksmann/Korn vermuten eine Überarbeitung der Inschrift schon im Jahr 1620, sie könnte aber auch im 19. Jahrhundert erfolgt sein.
  4. Zu Nereus vgl. Anm. 8.
  5. Der Befund gestört, ursprünglich vermutlich am Beginn eine de-Ligatur, die Oberlängen der beiden folgenden Hasten lassen sich nicht mit einer Lesung st vereinbaren; statt des a heute zwei Hasten, die Inschrift insgesamt stark überarbeitet, Becksmann/Korn lesen hier diffinire, was keinen Sinn ergibt.

Anmerkungen

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 193.
  2. Nach Is. 33,6.
  3. Vgl. Cicero, De Officiis 1,22: sed quoniam, ut praeclare scriptum est a Platone, non nobis solum nati sumus ortusque nostri partem patria vindicat, partem amici ... .
  4. Die hier Seneca zugeordnete Sentenz wird Publilius Syrus zugeschrieben. Vgl. Publilii Syri Sententiae, S. 93, Proverbia 33.
  5. Nach Tb. 4,20.
  6. Hier vermutlich aus Platzgründen ehemals die kürzere Sentenz molestius est inter amicos quam inimicos iudicare. Die Bias von Priene zugeschriebene Version lautet: Molestius est inter duos amicos quam inter duos inimicos iudicare. Vgl. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 15002a.
  7. Nach Cicero, De Officiis 3,43: Ponit enim personam amici, cum induit iudicis.
  8. Vgl. Seneca, Medea, 199f.: Qui statuit aliquid parte inaudita altera, / aequum licet statuerit, haud aequus fuit. In der jetzigen Ausführung der Inschrift wird der Spruch dem Meeresgott Nereus zugeordnet, was keinen Sinn ergibt. Möglicherweise stand hier ursprünglich Anneus für Lucius Annaeus Seneca.
  9. Nach Sir. 32,24.
  10. AB 56/3, p. 185.
  11. Becksmann/Korn, Glasmalereien, S. 104.

Nachweise

  1. Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 193 (J).
  2. Reinecke, Rathaus, S. 58 (J).
  3. Becksmann/Korn, Glasmalereien, S. 99–104 (A–P), Abb. Tafel XIV u. Tafel 34–36.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 70 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0007002.