Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 100: Stadt Lüneburg (2017)
Nr. 69 Rathaus 1434?
Beschreibung
Glasmalerei. Die 1853 grundlegend restaurierten drei Fenster in der Südwand der Gerichtslaube (Ratsdörnse) zeigen in neun Bahnen Darstellungen der Neun Guten Helden, jeweils zwei in den schmaleren seitlichen Fenstern, fünf in dem breiten Mittelfenster. Sie sind jeweils in eine Architekturumgebung gestellt, tragen einen Wappenschild und sind oben durch einen Titulus gekennzeichnet, zu ihren Füßen jeweils eine Inschrift (A–I). Oberhalb der langen Fensterbahnen Drei- bzw. Vierpässe mit Laubwerk, Wappenschilden (Stadt und Fürstentum Lüneburg) sowie Halbfiguren mit Schriftbändern darin, erhalten sind vier Darstellungen von Weisen mit Schriftbändern (J–M). Jüngere Inschriften verweisen auf Restaurierungen in den Jahren 1853 und 1954.1) Offensichtlich wurden hierbei auch Teile der Inschriften ergänzt, wie der Fall der Inschrift C2 zeigt, auch ohne Anhaltspunkte und Bemühen um die Herstellung eines sinnvollen Textes. Da sich der alte Befund so nicht von den Restaurierungen unterscheiden lässt,2) legt der Vergleich mit der kopialen Überlieferung – besonders mit Büttner – nahe, dass die heute korrupten Stellen in den Texten eine willkürliche Zutat des 19. Jahrhunderts sind. Die von Büttner zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch überlieferten Inschriften A2, C2, E2, H2 und I2 fehlen vollständig bei Gebhardi und Albers, die den Zustand vor der Restaurierung von 1853 wiedergeben. Mithoff, der schon den Zustand von 1853 vorfand, hat die ihm unvollständig oder sinnlos erscheinenden Inschriften A2, C2 und E2 ebenfalls nicht wiedergegeben. Die falsche Anordnung der Inschrift H2 geht auf die Restaurierung von 1954 zurück; es ist nicht auszuschließen, dass auch andere Bruchstücke falsch verbaut worden sind. Da Büttner die vollständigste Überlieferung der zu seiner Zeit offenbar noch deutlich besser erhaltenen Inschriften bietet, ist die Version Büttners (Sigle Bü) zum Vergleich jeweils unter den heutigen Inschriftentext gesetzt. Diese dient auch als Grundlage der Übersetzungen.
Maße:
H.: 345 cm; B.: 125 cm (seitliche Fenster); H.: 460 cm; B.: 340 cm (mittleres Fenster); Bu.: 3–5 cm (A1–I1), 5 cm (A2–
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.
- A1
iudas machabeus
- A2
i(n)trepid(us) [.......]uia) · p[.............] / hostib(us) et [...] q(...) · telli[...]b) terga · dedi ·
- A2Bü
Intrepidus [ – – – ]do rebell[ – – – ]Hostibus et nunquam [.]ellica terga dedi
- B1
koningh · dauid ·
- B2
Jn fu(n)da vici · f[..........] virtute · bc)/ debilis · haud · vires [............]
- B2Bü
In funda vici fe[ – – – ] virtute b[ – – – ]Debilis haud vires [ – – – ]
- C1
Josue
- C2
[......]eta(n)te · no(n) · occidit hettme mubos[......] · reges · papuns · bellato deo ·d)
- C2Bü
[ – – – ] tante occidit [ – – – ] multos[ – – – ] reges auxiliante Deo
- D1
godfrid(us) ua(n) bali/un
- D2
trans · mare celoru(m) regis de[...]coe) · sepul/cru(m) /Vt · robur · sumat · iugitur · ego · fidesf)
- D2Bü
Trans mare celorum regis devinco sepulcrumUt robur sumat jugiter alma fides
- E1
konnigh · karle
- E2
errore(m) · p[.....]sg) · [ – – – ] /almania [...]ito o[.....] dom[......]
- E2Bü
Terrorem purgans jura[ – – – ] totamAlmaniam [ – – – ]ito [ – – – ] domino
- F1
koningh artus
- F2
Curia · regalis · mea · sulgeth) · laudib(us) · illa ·/ nu(n)ci) · decus · est · femineusq(ue) · decor ·
- F2Bü
Curia regalis mea fulget laudibus illaPolicie decus est femineusque decor
- G1
keiser · Julius
- G2
Vrbis · co(n)struxi · lune · spectabile · castru(m) /Et · mea · pompeiu(m) · sincopat · ense manus
- G2Bü
Urbis construxi Lune spectabile castrumEt mea Pompeium sincopat ense manus
- H1
konnigh alexander
- H2
fata · iuua(n)t · victric // Desursu(m) · me // ia · rege(m) /[ – – – ]tolum ·j)
- H2Bü
Desursum me fata vocant victricia re[...]Maris subieci viribus omne solum
- I1
hector · van · troien ·
- I2
[ – – – ]k)
- I2Bü
Fortis eram [ – – – ] bellacis AchillisLancea transfixit corpus inerme meum
- J
Ad · pen[iten]du(m)l) p(ro)pe(r)at q(ui) cito iudicat3)
- K
beati · q(ui) · custodiu(n)t · iudiciu(m) · (et)m) · faciu(n)tn) · iusti(ci)a(m) o(mn)i · t(em)p(o)re4)
- L
ante · iudiciu(m) · para · iusticia(m) · et a(n)teq(uam) · loq(ua)r(is)o) · disce5)
- M
Opti(mus) · iudex · q(ui) · cito · i(n)telligit · (et)m) tarde · iudicat ·
Übersetzung:
Unerschrocken ... und ich habe den Feinden im Krieg niemals den Rücken zugekehrt. (A2)
Mit der Schleuder habe ich gesiegt ... nicht schwach habe ich ... . (B2)
... mit Gottes Hilfe. (C2)
Jenseits des Meeres behaupte ich siegreich das Grab des Himmelskönigs, damit der segenspendende Glaube dauernd Kraft gewinnt. (D2)
Mein Königshof erstrahlt von Ruhm, er ist die Zierde geordneten menschlichen Lebens und steht für weibliche Schönheit. (F2)
Die ansehnliche Burg der Stadt Lüne(burg) habe ich gebaut, und meine Hand schlägt Pompeius mit dem Schwert. (G2)
Mich als König unterstützen von oben sieghafte Schicksalsmächte. So habe ich mit den Kräften eines Mannes die ganze Erde unterworfen. (
Ich war stark ... die Lanze des kriegerischen Achill hat meinen unbewaffneten Körper durchbohrt. (I2)
Derjenige eilt zur Reue, der vorschnell urteilt. (J)
Selig, die das Gericht achten und allzeit Gerechtigkeit üben. (K)
Vor dem Gericht achte auf Gerechtigkeit und, bevor du sprichst, lerne! (L)
Der beste Richter ist der, der schnell versteht und langsam urteilt. (M)
Versmaß: Elegische Distichen (A2–I2).
Textkritischer Apparat
- Die Lesung von Mithoff, Reinecke und Becksmann/Korn als uici bzw. vici lässt sich mit dem Befund nicht vereinbaren.
- Sic! Zu erwarten wäre bellica. Die Lesung (im)bellic(a) bei Reinecke und Becksmann/Korn kommt im jetzigen – möglicherweise falsch restaurierten – Zustand als Lesung nicht in Frage, zum einen, weil die Vorsilbe im nicht einfach gekürzt sein kann, zum anderen, weil es sich bei dem von einem Bleisteg links verdeckten ersten Buchstaben des Wortes zweifelsfrei um ein t handelt, dessen mit Zierstrich versehener Balken eindeutig erkennbar ist. Außerdem passt imbellica nicht ins Versmaß. Mithoff setzt hier eine Fehlstelle ein, Gebhardi liest tellica.
- Hinter dem b eingerolltes Schriftband.
- Nach Gebhardi, Albers und Mithoff fehlte die Unterschrift.
- Die Lesung arceo(?) von Becksmann/Korn ist unzutreffend, da sich eindeutig eine de-Ligatur erkennen lässt. densico Gebhardi und Albers, Lücke bei Mithoff.
- Mithoff gibt den Pentameter vollständig wieder, allerdings überliefert er ergo anstelle von ego, bei Albers fehlt iugitur, bei Gebhardi fehlt iugitur ego. Reinecke schlägt religio atque als Alternative zu iugitur ego vor.
- Zwischen dem p und dem s nur eine Reihe von acht Schäften, davon einer mit Unterlänge, die sich nicht sinnvoll als Buchstaben interpretieren lassen, wohl willkürlich ergänzt.
- Irrtümlich anstelle von fulget. Nicht nur dieser Fehler sondern auch die plump in Punktform ausgeführten Worttrenner und der gesamte Schriftduktus der Inschrift spricht dafür, dass sie komplett – vermutlich nach Albers – erneuert wurde. Bei Becksmann/Korn ist dies nicht vermerkt.
- Ohne Kürzungsstrich, iure Gebhardi. Der Pentameter ist so unvollständig; s. Version Büttner.
- Mithoff gibt 1877 die Inschrift in dieser Abfolge wieder: De sursu(m) . me . fata . iuua(n)t . victricia . rege(m) / [ – – – ]tolum. Dies lässt sich sehr gut mit dem von Prof. Fidel Rädle (Göttingen) rekonstruierten Text in Einklang bringen: Desursum me fata iuvant victria regem / Magnis subieci viribus omne solum.
- Hier heute der Vermerk Renovatum · Anno · / · MDCCCLIII ·.
- me dum Gebhardi und Albers, bei Gebhardi als unsicher gekennzeichnet, pere[un]du(m) Reinecke und Becksmann/Korn.
- Tironisches et.
- sciu(n)t Reinecke.
- (aeque) loquere Reinecke.
Anmerkungen
- M · G · BRÜNNER ·. // Restauriert · v · H · Horn · 1853 ·. // Renovatum · Anno · / MDCCCLIII ·. //Restauriert / 1954 / H. Mühlenbein / Hannover.
- Vgl. Becksmann/Korn, Glasmalereien, S. 87f. Bei der Wiedergabe der Inschriften kennzeichnen Becksmann/Korn zwar den ihrer Meinung nach bei der Restaurierung ergänzten Text, der Vergleich der kopialen Überlieferung legt aber den Verdacht nahe, dass hier noch sehr viel mehr ergänzt bzw. ausgebessert wurde.
- Publilii Syri Sententiae, A32, S. 28. Vgl. a. Nr. 723.
- Ps. 105,3.
- Sir. 18,19.
- Becksmann/Korn, Glasmalerei, S. 89. Zu dem Bildthema allgemein: Robert L. Wyss, Die neun Helden, eine ikonographische Studie. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 17, 1957, S. 73–106.
- Edgar Ring, Die Suche nach dem ersten Lüneburger Rathaus. In: Denkmalpflege in Lüneburg 2003, S. 7–13, hier S. 10. Obert, Rathaus, S. 57.
- StA Lüneburg, AB 175, fol. 76v. Eigenartig an diesem Eintrag ist die Stelle, an der er sich findet: im sogenannten Czisebok, also dem Buch, in dem Einnahmen aus der Biersteuer und die von diesen Einnahmen getätigten Ausgaben verzeichnet sind, zwischen diversen Ausgaben für Reisen, Fuhren etc.
- Madeline H. Caviness, The law (en)acted: performative Space in the Town Hall of Lüneburg. In: Glas. Malerei. Forschung. Internationale Studien zu Ehren von Rüdiger Becksmann, hg. v. H. Scholz, I. Rauch u. D. Hess, Berlin 2004, S. 181–190, hier S. 184 u. Anm. 22, S. 185.
- StA Lüneburg AB 183, p. 24.
- Adam, Rathauskomplex, S. 131f. Zu der Verwendung der Begriffe dornse und love im 15. Jahrhundert Krüger/Reinecke, Kunstdenkmale, S. 200 u. 205f.
Nachweise
- Büttner, Inscriptiones (A–I).
- Hammenstede, Chronik, Ex. Ratsbücherei, fol. 9r (G2).
- Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, p. 192 (unvollständig).
- Albers, Rathaus, S. 6–11 (unvollständig).
- Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 185 (A–I).
- Reinecke, Rathaus, S. 52f. (A–N).
- Robert L. Wyss, Die neun Helden, eine ikonographische Studie. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 17, 1957, S. 73–106, hier S. 87 (A1–I1, J–M).
- Becksmann/Korn, Glasmalereien, S. 106–117, Abb. Tafel XIa, XII, XIII, Farbtafel VIII, IX, Tafel 27–33 (A–M).
- Uppenkamp, Ikonographie, Anm. 16–20, 22, 23 u. 27, S. 250f. (nach Becksmann/Korn).
Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 69 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0006909.
Kommentar
Die Darstellung der Neun Guten Helden in den Fenstern der Gerichtslaube ist das einzige erhaltene Beispiel dieses Zyklus’ in der mittelalterlichen Glasmalerei.6) Das Bildthema findet sich im Lüneburger Rathaus noch einmal in den Figuren eines Portals der Großen Ratsstube, wo den Guten Helden die Guten Heldinnen gegenübergestellt sind (Nr. 534). In den Inschriften A2 bis I2 charakterisieren die Helden selbst kurz ihre jeweiligen Verdienste. Der alttestamentliche Held Judas Maccabäus hebt seinen Mut als Freiheitskämpfer hervor (A2), David seinen Sieg über Goliath (B2). In der Josua zugeordneten, nur bruchstückhaft überlieferten Inschrift C2 dürfte es um seine Verdienste bei der Landnahme und der Verteilung des Landes an die zwölf Stämme Israels gegangen sein. Gottfried von Bouillon betont seine Verdienste um das Heilige Grab. Die Karl dem Großen zugeordnete Inschrift E2 ist zu stark zerstört, um den Inhalt zu rekonstruieren. König Artus preist seinen prächtigen Hof (F2), Julius Caesar rühmt sich in Inschrift G2, sowohl die Stadt Lüneburg begründet, als auch Pompeius vernichtend geschlagen zu haben – gemeint ist hier wohl die Schlacht von Pharsalos. Die Inschrift des Hektor (I2) berichtet von dessen Tod im Kampf gegen Achill. Die Inschriften J–M sind zusammen mit den Inschriften in den Ostfenstern (Nr. 70) die frühesten überlieferten Sentenzen des Lüneburger Rathauses (vgl. Einleitung, Kap. 3.3.7.) und beziehen sich – passend zur Anbringung in der Gerichtslaube – auf das Thema der guten Rechtsprechung.
Die von Becksmann/Korn aus stilistischen Gründen vorgenommene Datierung der Glasmalereien auf die Zeit um 1410 vermag nicht recht zu überzeugen, wenn man in Betracht zieht, dass die Decke der Gerichtslaube dendrochronologisch auf das Jahr 1430 datiert werden kann7) und für das Jahr 1434 eine Zahlung von 10 Mark archivalisch belegt ist, mit der der glasewerter vor die vinster uppe unser heren zale entlohnt wurde.8) Der bei Caviness9) zitierte Eintrag de vinster dorntzuhus to makende aus dem Baubuch von 1411 ist mit Vorbehalt als de vinster dazulves to makende10) zu lesen und steht in einer Reihe hier summarisch aufgezählter kleinerer Baumaßnahmen, die sich nicht auf eine Dorntze, sondern u. a. auf einen Brunnen vor dem Weinkeller, die schwinekamer und das kalkhus beziehen, für die insgesamt 13 Mark und 4 Groschen ausgegeben wurden. Allerdings verzeichnet das Baubuch auf derselben Seite ebenfalls für das Jahr 1411: Item xiiii (mark) v (groschen) iii (pfennige) vor de rathuses dornse to aftereken vnde de loven to malende, also Ausgaben für die Erbauung einer Dornse (= beheizbarer Saal) und die Bemalung einer Laube, wohl der Eingangslaube.11) Von Fenstern ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede.