Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 100: Stadt Lüneburg (2017)
Nr. 2† St. Michaelis 2. H. 12. Jh., 15. Jh.
Beschreibung
Standkreuz. Silber, vergoldet. Das kunstvoll gearbeitete Kreuz, über dessen Verbleib nichts bekannt ist, stand unten in der Goldenen Tafel im zweiten Fach von links.1) An den Kreuzenden rechteckige Felder mit Darstellungen der Evangelistensymbole, die mit Umschriften umgeben waren (A–D). Im Schnittpunkt der Kreuzarme hinter der Christusfigur ein Kreis mit der Umschrift E. In dem Kreis auf der Rückseite das Agnus Dei mit der Umschrift F. Auf der Rückseite der Kreuzenden die Darstellung von vier Tugenden, die durch Tituli oben auf den Rahmenleisten bezeichnet waren (G–J), die Inschriften H und I setzten sich auf der rechten Rahmenleiste fort. Der spätgotische Fuß war in der Grundform quadratisch mit weit eingezogenen, einen Dreipass bildenden Ecken. Darauf standen zwei Engelsfiguren, die den Schaft hielten, zwischen ihnen beidseitig je ein fialenbesetztes Türmchen mit einer zum Schaft verlaufenden Strebe mit Maßwerkverzierungen. Unten im Schaft das kleine Reliquienbehältnis, oben ein mit Rotuli besetzter, oben und unten abgeflachter Nodus mit Maßwerkverzierung, auf die Rotuli verteilt wohl die Buchstaben der Inschrift K, zur Zeit Gebhardis nur noch ein Buchstabe erhalten. Gebhardi/Marenholtz geben auch die Bezeichnung der Reliquie wieder, die der Zeichnung zufolge auf einem Pergamentstreifen stand.2)
Inschriften nach den Zeichnungen bei Gebhardi.
Schriftart(en): Romanische Majuskel (A–J), gotische Majuskel (K).
- A
MORE VOLANS / AQ(V)I(L)E VERBO / PETIT ASTRA / + IOH(ANN)ES3)
- B
HOC MATHEVS AGE/NS H(O)M(IN)EM / GE(NE)RALITER / IMPLET4)
- C
MARCVS VT AL/TA FREMIT VOX P(ER) / DESERTA L/EON(IS) +5)
- D
+ IVRA SAC/ERDOTII LVCAS / TENET ORE I/VVENCI6)
- E
I(ESV)Sa) NAZAREN(VS) . REX IVDEO(RVM) +7)
- F
AGN(VS) I(N) AGNO MISTERIO MAGNOb) CONCLVDIT(VR)
- G
IVSTICIA
- H
TEMPERA/NCIA
- I
PRVDERCI/Ac)
- J
FORTITVDO
- K
[IHESV]S
Übersetzung:
In der Art eines Adlers fliegend strebt Johannes durch das Wort zu den Sternen. (A) Dieses Thema (d.h. die menschliche Natur Christi) führt Matthäus aus in der Rolle des Menschen. (B) Markus ertönt wie die laute Stimme des Löwen durch die Wüste. (C) Lukas, mit dem Gesicht des Stiers, enthält (d. h. behandelt) die Gesetze des Priestertums. (D) Das Lamm ist in dem Lamm durch ein großes Mysterium eingeschlossen. (F) Die Gerechtigkeit. (G) Die Mäßigung. (H) Die Klugheit. (I) Die Tapferkeit. (J)
Versmaß: Vier Hexameter (A–D).
Textkritischer Apparat
- IHC mit Kürzungszeichen über dem H.
- MAGNO MISTERIO Marenholtz. In der Version von Gebhardi erscheint der Text in gereimter, rhythmischer Form.
- Statt PRVDENCIA, bei der Genauigkeit der Zeichnung ist davon auszugehen, dass sich der Fehler in der Inschrift befand.
Anmerkungen
- Zeichnung der gesamten Goldenen Tafel: Gebhardi, Collectanea, Bd. 6, p. 461. Die Beschreibung nach den Zeichnungen in: Gebhardi, Collectanea, Bd. 6, p. 540.
- Gebhardi, Collectanea, Bd. 5, p. 209: De Sancto Johanne Ewangelista.
- Sedulius, Carmen Paschale 1,358. Vgl. Sedulii opera omnia, hg. v. Johannes Huemer. Wien 1885 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum Bd. 10), S. 41f.
- Ebd., 1,355, hier der erste der auf die Evangelisten bezogenen Verse. Die zitierten Verse entstammen dem Ende des ersten Buchs. Unmittelbar zuvor war die Rede davon, dass Christus menschliche Gestalt angenommen hat. Hierauf bezieht sich HOC.
- Ebd., 1,356.
- Ebd., 1,357.
- Io. 19,19.
- Stuttmann, Reliquienschatz, S. 95–98.
- Bernhard von Clairvaux, In resurrectione Sermo 1. In: Sämtliche Werke lat./dt., hg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 8, Innsbruck 1997, S. 216–259, hier S. 222f.
- Vgl. dazu Wipfler, Corpus Christi, S. 175f.
Nachweise
- Gebhardi, Collectanea, Bd. 5, p. 209 (ergänztes Verzeichnis Marenholtz 1766, gedr. bei Stuttmann, Reliquienschatz, Anhang II, S. 113) u. Bd. 6, p. 510 (Zeichnungen).
- Marenholtz, Verzeichnis Güldene Tafel, p. 8f.
- Stuttmann, Reliquienschatz, S. 96.
Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 2† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0000209.
Kommentar
Die rätselhaft anmutende Inschrift F bezieht sich vermutlich darauf, dass sich die Darstellung des Agnus Dei auf einem Türchen auf der Rückseite des Kreuzes befand, hinter dem eine Christus-Reliquie verborgen war.
Stuttmann datiert das Kreuz aufgrund stilistischer Bobachtungen an den Zeichnungen Gebhardis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, den Fuß in die Zeit nach der Neuaufstellung der Goldenen Tafel um 1418.8) Die Datierung des Kreuzes lässt sich auch anhand der von Gebhardi wohl mit einiger Sorgfalt wiedergegebenen Buchstabenformen der romanischen Majuskel bestätigen. Hier treten rundes C und E in vollkommen offener Form auf, daneben findet sich pseudounziales A mit weit nach links ausgezogenem Deckbalken neben trapezförmigem A mit breitem Deckbalken, links geschlossenes unziales M, rundes T und eingerolltes G mit weit nach rechts geführtem oberen Bogenende.
Die auf die Evangelistensymbole bezogenen Inschriften B–E, die dem Hauptwerk des Sedulius, dem Carmen Paschale, entnommen sind, dokumentieren die Gelehrsamkeit des Auftraggebers dieses Kreuzes ebenso wie die auf der Rückseite des Kreuzes angebrachten Figuren der vier auf die Antike zurückgehenden Kardinaltugenden – nicht die in der Predigt Bernhards von Clairvaux genannten Tugenden Patientia, Humilitas, Oboedientia und Caritas, die nach Bernhards Vorstellung als Tugenden Christi an der Kreuzigung beteiligt waren.9) Die Zuordnung der Kardinaltugenden zu den Evangelistensymbolen und deren Gruppierung um das Kruzifix in der Mitte findet sich häufig in der mittelalterlichen Ikonographie, besonders auch auf Altarkreuzen des 12. Jahrhunderts.10)