Inschriftenkatalog: Stadt Darmstadt und Landkreise Darmstadt-Dieburg sowie Groß-Gerau

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau (1999)

Nr. 111 Leeheim, Evangelische Kirche E. 15. – A. 16. Jh.

Beschreibung

Bibelzitate als Bildbeischriften auf den Flügelaußenseiten des Altarretabels im Chor der Kirche.1) Das Retabel zeigt in geschlossenem Zustand die Verkündigung an Maria. Links kniet in gelbem Gewand der Engel, vor dem sich ein geschwungenes Schriftband mit der Inschrift (A) befindet. Rechts sitzt Maria in rotem Kleid und weißem Mantel auf einer Bank. In den Händen hält sie ein Buch, von dem sie gerade aufschaut. Über ihr ist das Schriftband mit der Inschrift (B) angebracht. In beiden Fällen sind die Buchstaben schwarz auf die weißen Schriftbänder gemalt. Als Worttrenner dienen Quadrangeln mit paragraphzeichenförmig ausgezogenen Zierstrichen. Die Inschrift (B) weist im zweiten Teil erhebliche Beschädigungen auf, und auch die Figuren sind vor allem in den Kopfpartien stark zerstört. Das Retabel wurde 1968 restauriert, wobei auf die Ergänzung stark beschädigter Malflächen verzichtet wurde,2) besser erhaltene Teile der Malerei, wie etwa Inschrift (A), aber offenbar nachgezogen wurden. Geöffnet zeigt das Retabel auf den Flügeln links die Geburt Christi und rechts die Anbetung der Könige. Im Schrein stehen drei Figuren, in der Mitte Maria mit dem Kind, links der heilige Alban, rechts ein Bischof mit Schwert, bei dem es sich möglicherweise um Nikolaus handelt. Die Maßangaben beziehen sich nur auf die Flügel.

Maße: H. 148, B. 66, Bu. 2,7 (A), 2,1 (B) cm.

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A). Gotische Minuskel mit Versal (B).

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/7]

  1. A

    · AVE · GRACIA · PLENA · DOMINVS · TECVM ·3)

  2. B

    Ecce · · ancilla · d(omi)ni · [fiat · mihi] secundum [· v]erb[um · tu]um4)

Übersetzung:

(A) Gegrüßt seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. – (B) Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort.

Kommentar

Die frühhumanistische Kapitalis zeigt spitzes A mit breitem Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken, unziales D, zweibogiges E, M mit schräggestellten Hasten und sehr kurzem Mittelteil, N mit dünnem Schrägbalken, der in der Mitte einen Nodus trägt, sowie rundes T mit sichelförmigem Bogen. Auch das versale E in (B) ist ein zweibogiges E der frühhumanistischen Kapitalis.

Nach Wolfgang Brücker sind die Gemälde des Retabels im „Zeitstil der neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts“ gemalt. Er weist das Werk einer sonst nicht bekannten mittelrheinischen Werkstatt zu, obwohl nach seiner Ansicht regionale Eigenheiten bei den Malereien und den Figuren nicht zu erkennen sind. Einen Zusammenhang mit dem Wolfskehlener Altar,5) wie Alfred Stange ihn sieht,6) lehnt Brücker ab. Der Leeheimer Altar sei kurz vor jenem in Wolfskehlen entstanden.7) Nach Ulrike Frommberger-Weber ist der Maler des Leeheimer Altars jedoch von jenem des Wolfskehlener Altars beeinflußt worden. Ähnlich wie bei diesem seien auch beim Leeheimer Altar Einflüsse Schongauers erkennbar, die allerdings „wohl bereits durch Schulwerke vermittelt“ wurden.8) Die Entstehung des Wolfskehlener Altars zwischen etwa 1480 und 1500 ist unabhängig von der Stilfrage aufgrund der Stifterwappen gesichert. Auffällig ist, daß der Leeheimer Altar zwar gegenüber dem Wolfskehlener Altar die gröberen Malereien und Figuren aufweist, aber mit der frühhumanistischen Kapitalis die fortschrittlichere Schrift in einer gut ausgeprägten Form besitzt.9) Nimmt man den stilistischen und den epigraphischen Befund zusammen, so dürfte der Leeheimer Altar nach dem Wolfskehlener Altar vermutlich zu Anfang des 16. Jahrhunderts geschaffen worden sein.

Anmerkungen

  1. Die Kenntnis der Inschriften verdanke ich dem freundlichen Hinweis von Herrn Dr. Moritz Woelk, Darmstadt; eine kurze Beschreibung des Altars findet sich bei Stange, Kritisches Verzeichnis 105 Nr. 469.
  2. Vgl. die Angaben des Restaurators W. Brücker in Nimm und lies 12.
  3. Lk 1,28.
  4. Lk 1,38.
  5. Zu diesem Altar vgl. Nr. 117.
  6. Stange, Deutsche Malerei VII 97.
  7. Nimm und lies 13 f.
  8. Frommberger-Weber, Tafelmalerei 72.
  9. Zur frühhumanistischen Kapitalis vgl. Einleitung Kap. 5. 2.

Nachweise

  1. Nimm und lies 12.

Zitierhinweis:
DI 49, Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 111 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di049mz06k0011102.