Inschriftenkatalog: Stadt Darmstadt und Landkreise Darmstadt-Dieburg sowie Groß-Gerau

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau (1999)

Nr. 110 Groß-Umstadt, Evangelische Kirche E. 15. – A. 16. Jh.

Beschreibung

Mahninschrift an einem zweisitzigen Chorgestühl an der Südwand des Chores. Das geschnitzte Gestühl trägt in seinem Aufsatz ein Band mit eingeschnittener Inschrift. Die zweite Hälfte des Bandes ist bei einer Restaurierung ersetzt worden, wobei der Schluß des Textes verloren ging. Als Worttrenner wurden Quadrangeln verwendet.

Maße: H. 37, B. 83, Bu. 3 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versal.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/3]

  1. Bernhard(us) · parum · prodest · sola · voce · cantare · m[. . .]a)

Übersetzung:

Bernhard: Es nützt zu wenig, nur mit der Stimme (die Messe) zu singen...

Kommentar

Die Inschrift ist in einer voll entwickelten gotischen Minuskel im Vierlinienschema geschrieben. Das versale B ist aus der gotischen Majuskel abgeleitet.

Sighard Volp schlägt vor, die Inschrift auf die Ausführung des Wechselgesangs zu beziehen und übersetzt: „Es ist wenig nützlich, mit einer einzelnen Stimme zu singen“.1) Die Übersetzung „mit einer einzelnen Stimme“ für sola voce ist jedoch problematisch, da dies „una“ oder „singula voce“ heißen müßte. Zudem wird in den Schriften Bernhards bzw. in den ihm zugeschriebenen Schriften auf die Form des Wechselgesangs kein Bezug genommen. Es geht dort um den korrekten Text der Antiphonarien, um die Anordnung der Texte, um Tonhöhe und Tonlänge sowie die Art des Gesangs.2) Auch die Statuten der Zisterzienser beschäftigen sich nur mit diesen Fragen.3)

Die Inschrift läßt sich aber ohne Schwierigkeiten auf Aussagen Bernhards von Clairvaux beziehen, wie er sie z. B. in seiner Predigt über das Hohelied Salomons niedergelegt hat. Dort heißt es u. a., der Lobpreis sei nicht das Lärmen des Mundes, sondern das Frohlocken des Herzens, nicht der Ton der Lippen, sondern die Bewegung der Freude und nicht der Zusammenklang der Stimmen, sondern der Wünsche.4) Auch in einem Brief Bernhards wird der Sänger ermahnt, den Gesang nicht leichtfertig vom Nutzen des Sinnes zu trennen und dadurch den Verlust der spirituellen Gnade zu bewirken.5) Das Zitat dieser Stelle wurde im 15. Jahrhundert zur Ermahnung der Kirchenbesucher inschriftlich in der Vorhalle der Stiftskirche St. Simon und Judas in Goslar festgehalten.6) Die am Groß-Umstädter Chorgestühl befindliche Inschrift sollte dagegen die Priester dazu ermahnen, die Messe mit der richtigen inneren Andacht zu lesen. Vergleichbare Mahnungen an Priester, ihre Gebete korrekt und andächtig zu verrichten, sind aus der Zeit zwischen 1480 und 1520 auch aus der Schorndorfer Stadtkirche,7) aus dem Kloster Johannisberg im Rheingau,8) aus der Pfarrkirche St. Valentinus in Kiedrich9) und aus der Evangelischen Stadtkirche in Geislingen an der Steige überliefert.10) Die Inschriften sind ein Spiegel der Unzufriedenheit mit dem Verhalten der Geistlichkeit und der Versuche, die Mißstände abzustellen. Um 1500 hatte das Heilsverlangen der Gläubigen beinahe extreme Formen angenommen, und da nur das richtige Aussprechen der Gebete und der richtige Vollzug des Kultes als wirksam für das Seelenheil angesehen wurden, schlug sich die Furcht vor Heilsminderung durch fehlerhaften Kultvollzug entsprechend nieder.11) Mit dem zeitlichen Ansatz zwischen 1480 und 1520 stehen auch die Formen der Minuskelschrift am Groß-Umstädter Chorgestühl in Einklang.

Textkritischer Apparat

  1. Sichtbar sind drei gleichförmige Hasten, so daß auch in, ni, ui oder iu möglich ist, doch liegt es nahe, hier missam zu ergänzen.

Anmerkungen

  1. Volp, Groß-Umstadt 5 f.
  2. Bernhard von Clairvaux, Praefatio seu tractatus de cantu seu correctione antifonarii (Migne PL 182, 1121 – 1132); ders., Tractatus cantandi graduale (Migne PL 182, 1151 – 1154); ders., Tonale (Migne PL 182, 1153 – 166); zur Frage der Zuschreibung vgl. H. Hüschen, Bernhard von Clairvaux, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 1 (1949) 1789 – 1792, hier 1791.
  3. Vgl. Statuorum annuorum precedentium prima collectio a. 1134, cap. LXXIII (Canivez, Statuta 30).
  4. Bernhard v. Clairvaux, Sermones super cantica canticorum 1,6 (Leclercq/Talbot/Rochais 7 f.).
  5. Bernhard v. Clairvaux, Epistula 398 (Leclercq/Rochais 378).
  6. DI 45 (Goslar) Nr. 48.
  7. DI 37 (Rems-Murr-Kreis) Nr. 83.
  8. DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nr. 315.
  9. DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) Nr. 318.
  10. DI 41 (Lkr. Göppingen) Nr. 208.
  11. Zur Kritik am Klerus um 1500 vgl. Möller, Frömmigkeit 25 – 29; zur Bedeutung des korrekten Kultvollzugs vgl. Angenendt, Libelli bene correcti 124 – 135 und DI 37 (Rems-Murr-Kreis) Nr. 83.

Nachweise

  1. Scholz, Inschriften 67 f., Nr. 14.

Zitierhinweis:
DI 49, Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 110 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di049mz06k0011003.