Inschriftenkatalog: Stadt Darmstadt und Landkreise Darmstadt-Dieburg sowie Groß-Gerau

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau (1999)

Nr. 86 Neunkirchen, Evangelische Kirche 1486, 1509

Beschreibung

Gedenk- und Stiftungsinschrift des Pfarrers Johannes Ruder genannt Stumpf von Lindenfels. Die hochrechteckige Platte aus rotem Sandstein ist heute im ehemaligen Chor auf der Ostseite der Kirche in die Wand eingemauert und war wohl schon von Anfang an im Chor aufgestellt. Im Feld ist eine 19zeilige Inschrift in vorlinierten Zeilen angebracht. Die obersten vier Zeilen sind in der Mitte durch ein hochrechteckiges, leicht eingetieftes Feld unterbrochen, in dem sich ein flachreliefierter Kelch mit Hostie befindet. Als Worttrenner dienen Quadrangeln.

Maße: H. 188, B. 80, Bu. 6 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/2]

  1. An(n)oa) d(omi)ni · 1472 · / pastor subscript(us) ad / ha(n)c eccl(esi)am fuit p(re)sen/tatus ac inuestit(us) / Anno d(omi)ni · 1486 · ho(norabi)l(is) d(omi)n(u)s / ioh(anne)s ruoderb) dict(us) stu(m)pf arcium / m(a)g(iste)r pasto(r) h(uius) suu(m) statuit an(n)iu(er)/sariu(m) festo cosme (et) damiani / p(er) pastores i(n) nu(n)kirch(en) cru(m)pach / bedekirch(en) (et) richelszh(eim) cu(m) vigil(iis) / noue(m) le(cti)o(nu)mc) · t(ri)b(us) p(ro) defu(n)ct(is) (et) vna / de festo missis ac salve p(er)age(n)d(um) / Dabit fabrica p(re)se(n)c(ie)d) cuiq(ue) · v · s(olidos) / ca(mpanatori· i · s(olidum) (et) i(n) el(eemosyn)am p(ro) pa/nib(us) · ii · s(olidos) h(a)l(orum)1) Et locet ca(n)dela(m) / sub diuinise) arde(n)te(m) de prato / dicto bornwiese · q(ui) an(n)is / d(omi)ni · 1437 · natus · et / 1〈59〉f) obiit r(e)q(ui)es(cat) · i(n) pace

Übersetzung:

Im Jahre des Herrn 1472 ist der unten genannte Pfarrer auf diese Kirche präsentiert und eingesetzt worden. Im Jahre des Herrn 1486 hat der ehrwürdige Herr Johannes Ruder, genannt Stumpf, Magister der Künste und Pfarrer dieser (Kirche), festgesetzt, daß sein Jahresgedächtnis am Fest von Cosmas und Damian durch die Pfarrer von Neunkirchen, Krumbach, Beedenkirchen und Reichelsheim mit Vigilien von neun Lesungen, drei Seelenmessen, einer Festtagsmesse sowie einem Salve zu feiern ist. Die Kirchenfabrik wird jedem für die Anwesenheit fünf Schilling, dem Glöckner einen Schilling und als Almosen für Brot zwei Schilling Heller geben. Und sie soll eine brennende Kerze unter den Heiligen aufstellen (aus den Einkünften) von der Wiese, die Bornwiese genannt wird. Dieser ist in den Jahren des Herrn 1437 geboren und 1509 gestorben. Er möge in Frieden ruhen.

Kommentar

Das erste A ist in seiner Grundform ein spitzes A mit einem auf beiden Seiten überstehenden Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken und stammt somit aus der frühhumanistischen Kapitalis. Die Hasten sind jedoch in Kontur ausgeführt und über die Grundlinie hinaus verlängert. Sie zeigen außen etwa in der Mitte dreieckig aufgesetzte Schwellungen. Die Spitze des gebrochenen Mittelbalkens reicht ebenfalls über die Grundlinie hinaus. Beim zweiten A ist die rechte Haste wie ein breites I der gotischen Majuskel gestaltet und mit Zierpunkten in der Mitte versehen. Die Sporen besitzen die Form beidseitig angesetzter Dreiecke, deren Spitzen oben nach innen und unten nach außen weisen. Die Sporen dienen am oberen Hastenende gleichzeitig als Deckbalken des A. Die linke Haste ist leicht gebogen und zeigt über der Mitte eine Schwellung in Form eines Quadrangels. Sie setzt an der rechten Haste unterhalb des linken, oberen Sporns an. Als Mittelbalken dient ein linksschräger Strich, der mit zwei Punkten verziert ist. Das unziale D ist mit einer deutlichen Schwellung des rechten Bogenabschnitts gebildet und mit beidseitig angesetzten Dreiecken verziert. Die Minuskel ist voll entwickelt und im Vierlinienschema ausgeführt. In ecclesiam und eleemosynam zeigt das Schluß-m die Form einer stilisierten 3 aus drei Quadrangeln und einem Zierstrich. Die Jahreszahlen sind stets in gotischen Ziffern geschrieben. In der letzten Zeile sind die flacher eingehauenen Ziffern 59 deutlich als Nachtrag zu erkennen.2)

Die über Johannes Ruder genannt Stumpf von Lindenfels vorliegenden Informationen basieren im wesentlichen auf Inschriften3) und auf seinem Testament. Er wurde 1437 geboren und dürfte mit jenem Johannes Stumpf von Lindenfels identisch sein, der 1458 an der Universität Heidelberg eingeschrieben wurde und dort 1462 den Abschluß eines magister artium erwarb.4) Im Jahr 1472 wurde er Pfarrer von Neunkirchen, wo er in seiner Amtszeit die Kirche umbauen und einen neuen Turm sowie eine Kapelle errichten ließ.5) Im Jahr 1486 machte Johannes Ruder sein Testament, in dem er vor allem für sein Anniversar und damit für sein Seelenheil Sorge trug. Die Anweisung an die Kirchenfabrik, anläßlich der Anniversarfeiern an bestimmte Personen Geld zu bezahlen, belegt, daß Ruder zumindest einen Teil seines Vermögens der Kirche zur Durchführung seines Anniversars vermacht hatte. Als Anniversartag hatte er das Fest von Cosmas und Damian festgesetzt, die zu den Patronen der Kirche von Neunkirchen gehörten.6) Die Inschrift wiederholt die wichtigsten Bestimmungen des Testaments.7) Durch die monumentale Fixierung der Bestimmungen sollte verhindert werden, daß die Ausführung der Anniversarfeiern in Vergessenheit geriet, da dies zu einer längeren Verweildauer der Seele im Fegefeuer führen konnte.8) Das Testament enthält noch detaillierte Bestimmungen über den Ablauf der Feier und einige Zusätze. Die Pfarrer von Krumbach, Beedenkirchen (Lkr. Bergstraße) und Reichelsheim (Odenwaldkreis) hatten für sich und ihre Nachfolger die Verpflichtung übernommen, das Anniversar zu halten. Während der Messe für die Kirchenpatrone sollte das Volk in der Predigt ermahnt werden, für den Patronatsherrn der Kirche Hans von Rodenstein, seine Frau Anna sowie für Johannes Ruder, seine Eltern und alle, die ihm Gutes getan hatten, zu beten. Nach der Messe sollte an dem Inschriftenstein im Chor von den Priestern ein De profundis gesprochen werden. Außerdem sollte an diesem Stein während der gesamten Feiern eine brennende Kerze stehen. Die Bestimmung, die Kirchenbesucher in der Predigt zum Gebet für den Verstorbenen zu ermahnen, zeigt das Bemühen Ruders, seine Memoria auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Laut Ruders Testament sollte sich der Stein im Chor befinden, doch ist es fraglich, ob er für die Abdeckung seines Grabes gedacht war oder ob sich das Grab in unmittelbarer Nähe des Steins befinden sollte. Die Anweisung Ruders, an dem Stein während der liturgischen Feiern eine brennende Kerze aufzustellen und nach der Messe dort ein De profundis zu sprechen, legt zumindest einen engen Zusammenhang zwischen dem Aufstellungsort des Steines und dem Grab nahe.9)

Textkritischer Apparat

  1. o klein hochgestellt.
  2. Das o ist klein über das u gestellt.
  3. Das m ist klein und hochgestellt.
  4. praesenz Retter; Kayser.
  5. dominis Retter; Kayser.
  6. So für 1509.

Anmerkungen

  1. Mit Solidus (Schilling) ist hier nicht die konkrete Münze, sondern eine Recheneinheit von 12 Pfennigen gemeint, vgl. G. Hatz, Schilling, in: Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, 355 f.
  2. Retter 239: „Weilen er diesen Stein bey seinem Leben setzen lassen, so ist sein Sterb-Jahr 1509 nicht eingehauen, sondern ... nachgehends nur eingekratzt worden“.
  3. Vgl. neben den beiden folgenden Nrr. auch Nr. 83 und Nr. 125.
  4. Toepke, Matrikel I 291 und II 410.
  5. Vgl. Nrr. 78, 83 und die beiden folgenden Nrr.
  6. Vgl. dazu die folgende Nr.
  7. Das Testament ist gedruckt bei Retter 237 f., Anm. r und bei Kayser 406 f., der den Text nach dem Druck von Retter wiedergibt.
  8. Vgl. zu diesem Problem auch Nr. 75; zur Bedeutung von Inschriften für das Totengedenken vgl. DI 38 (Lkr. Bergstraße) XXIV – XXIX.
  9. Ruder erhielt nach seinem Tod zudem noch ein Epitaph, vgl. Nr. 125.

Nachweise

  1. Retter, Hessische Nachrichten II 238 f., Anm. s.
  2. Kayser, Beiträge 407 f.

Zitierhinweis:
DI 49, Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 86 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di049mz06k0008606.