Inschriftenkatalog: Landkreis Schaumburg
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 104: Landkreis Schaumburg (2018)
Nr. 482 Bückeburg, Stadtkirche 1615
Beschreibung
Taufbecken. Bronze und Zinn. Das Taufbecken stand ursprünglich vor dem Hochaltar, seit 1895 in der Mitte der Kirche.1) Es besteht aus einem Sockel, den Trägerfiguren, dem Becken und einem Deckel, der von einer Taube bekrönt ist. Der Sockel hat die Form eines Vierpasses mit eingestelltem Quadrat. Als Trägerfiguren dienen zwei Putten, die auf einer Kugel sitzen. Das reich verzierte Becken verbreitert sich bucklig nach oben hin und nimmt die Vierpassform des Sockels wieder auf. Auf dem Deckel die vier Evangelisten mit ihren Symbolen, die Köpfe vollplastisch gestaltet. Im Deckelinneren in der Mitte vier Muscheln. Als Deckelbekrönung auf einem kleinen vierpassförmigen Postament die Taufe Christi. Den oberen Teil der Aufhängung des Deckels bildet die Darstellung des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube.
Das Text-Bild-Programm entspricht einem Viererschema: Auf dem Sockel allegorische Darstellungen der vier Tugenden Fides (mit Kelch und Kreuz), Constantia (mit Säule), Spes (betend) und Caritas (mit zwei Kindern) im Flachrelief in jeweils einem der vier Pässe. Die Tugenden sind identifiziert durch Inschrift A auf der Zarge. Unterhalb von Fides Inschrift B.
Am Becken personifizierte Darstellungen der Paradiesflüsse, die durch die Inschrift C unter dem Rand des Beckens bezeichnet werden: Euphrat wird mit einem Adler dargestellt, Phison mit einem Nashorn, Tigris mit einem Kamel und Gehon mit einem Löwen. Unterhalb des Flussgottes Euphrat eine ovale Kartusche mit einem bekrönten Wappen, von der nach links und rechts zwei Schriftbänder ausgehen, auf denen die Inschrift D erhaben in vertiefter Zeile ausgeführt ist.
Auf dem Rand des Beckens flache, ornamentale Reliefs und Gravuren, in die die einzelnen Elemente der gegossenen Inschrift E in Schildchen eingearbeitet sind. Auf dem Rand des Zinneinsatzes des Taufbeckens Inschrift F sowie drei Marken in Form von Wappenschilden.2) Die Inschriften A, B, C, E und F sind eingraviert.
Das Taufbecken, das auf einem Steinsockel steht, der die Vierpassform des Taufbeckens aufnimmt, war ursprünglich von einem Gitter umgeben. Dieses Gitter, das auf dem Steinsockel befestigt war, soll an den Regensburger Dom verkauft worden sein.3)
Maße: H.: 220 cm (einschließlich Taube); Dm.: ca. 70 cm (Sockel), 110 cm (Becken); Bu.: ca. 1 cm (A–D), 0,8–1 cm (E), 0,7 cm (F).
Schriftart(en): Kapitalis.
- A
· FIDES · // · CONSTANTIA · // · SPES · // · CHARITAS ·
- B
ADRIANVS · FRIES · HAGIENSIS · BATAVVS · FETCITa) · 1615
- C
EVPHRATES // PHISON // TIGRIS // GEHON
- D
V(ON) · G(OTTES) · G(NADEN) · E(RNST) · G(RAF) · Z(V) · H(OLSTEIN) // S(CHAVMBURG) · V(ND) · S(TERNBERG) · H(ERR) · Z(V) · G(EMEN)
- E
· ADRIANVS · // · FRIES · // · FE(CIT) · ANNO // · D(OMINI) · 1615
- F
D 1615
Übersetzung:
Glaube, Standhaftigkeit, Hoffnung, Liebe. (A)
Der Niederländer Adriaen de Vries aus Den Haag hat (dieses Werk) geschaffen 1615. (B)
Adriaen de Vries hat (dieses Werk) geschaffen im Jahr des Herrn 1615. (E)
Grafen von Holstein-Schaumburg und Sternberg, Herren zu Gemen4) |
Textkritischer Apparat
- FETCIT] statt FECIT.
Anmerkungen
- Vgl. Albrecht, Bückeburger Stadtkirche, S. 140.
- Die linke und rechte Marke (
M43 ) zeigen drei heraldische Lilien 2:1, darüber die Initialen HO. Die mittlere Marke, wahrscheinlich ein Beschauzeichen, zeigt das holstein-schaumburgische Nesselblatt-Wappen, darüber den Buchstaben H. Die Marken ließen sich bei Erwin Hintze, Norddeutsche Zinngießer, Leipzig 1923 nicht nachweisen. - Albrecht, Bückeburger Stadtkirche, S. 137; vgl. Kdm. Kreis Schaumburg-Lippe, S. 32.
- Wappen Grafen von Holstein-Schaumburg und Sternberg, Herren zu Gemen (Herzschild Nesselblatt mit drei in der Mitte zusammentreffenden Nägeln belegt, diese in der Mitte mit einem Schildchen belegt (Holstein-Schaumburg); quadriert: 1. u. 4. Stern (Sternberg), 2. u. 3. Balken mit drei Pfählen belegt (Gemen)); vgl. Siebmacher, Wappenbuch, Bd. 1, Abt. 1, Teil 2, S. 35 u. Tafel 39.
- Zu ihm vgl. insbesondere Cahn, Adrian de Vries; Larsson, Adrian de Vries in Schaumburg; ders., Adrianvs Fries Hagiensis Batavus; Adriaen de Vries 1556–1629. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm; Neue Beiträge zu Adriaen de Vries.
- Krahn, Erwerbung der ‚Venus-Adonis-Gruppe‘, S. 123.
- Albrecht, Bückeburger Stadtkirche, S. 133–135; Larsson, Taufbecken, S. 101–104.
- Briefkonzept vom 26. April 1615, zit. n. Bruck, Ernst zu Schaumburg, S. 77. Auch an der Stierplastik (Nr. 477) und an zwei Wächterfiguren des Grabdenkmals (Nr. 505) hatte Ernst Beanstandungen; vgl. Kastler, Acta Allodia, S. 308, 310f.; Larsson, Adrianvs Fries Hagiensis Batavvs, S. 86f. Möglicherweise entsprangen die Beanstandungen dem Kalkül, damit den Preis drücken zu können (vgl. Bei der Wieden, Zur Besitzgeschichte des „Farnesischen Stiers“, S. 86). Allerdings ist fraglich, ob der Brief, in dem Mängel am Deckel des Taufbeckens aufgelistet wurden, jemals abgeschickt wurde (Mathies, Taufbecken, S. 84; Larsson, Taufbecken, S. 104).
- Mathies, Taufbecken, S. 118.
- Vgl. Mathies, Taufbecken, S. 83–85.
- Larsson, Adrianvs Fries Hagiensis Batavvs, S. 79.
- Z. B. auf dem Taufbecken in der Hildesheimer Andreaskirche, DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 358.
- Nemo itaque prohibet intellegere paradisum vitam beatorum, quattuor eius flumina quattuor virtutes, prudentiam, fortitudinem, temperantiam atque iustitiam. Vgl. Larsson, Adrianvs Fries Hagiensis Batavvs, S. 78; DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 67; Robert Favreau, Les inscriptions des fonts baptismaux d’Hildesheim. Baptême et quaternité, in: Cahiers de civilisation médiévale 38 (1995), S. 115–140, dort S. 119–122 mit Verweisen auf exegetische Literatur des Mittelalters.
- Vgl. Larsson, Adrianvs Fries Hagiensis Batavvs, S. 79.
- Vgl. z. B. Nr. 168, 253; vgl. DI 59 (Stadt Lemgo), Nr. 119 (Taufbecken in St. Marien aus dem Jahr 1592).
- De civitate Dei 13,21; vgl. Larsson, Adrianvs Fries Hagiensis Batavvs, S. 78.
- Vgl. Mathies, Taufbecken, S. 118; tiefergehende Erläuterungen zu weiteren Elementen des Bückeburger Taufbeckens bei Larsson, Adrianvs Fries Hagiensis Batavvs, S. 78f.
- Larsson, Taufbecken, S. 102.
Nachweise
- Kdm. Kreis Schaumburg-Lippe, S. 30ff. (D, E teilweise, F).
- Cahn, Adrian de Vries, S. 44, 49f. u. Abb. 12–19.
- Larsson, Adrian de Vries in Schaumburg, S. 17 u. 78 (B, D, E).
- Mathies, Taufbecken, S. 117f., Tafel IV (S. 164) u. Abb. 100–105 (S. 207f.).
- Albrecht, Bückeburger Stadtkirche, S. 133–142.
- Larsson, Taufbecken, S. 106 u. 111 (A–E).
Zitierhinweis:
DI 104, Landkreis Schaumburg, Nr. 482 (Katharina Kagerer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di104g020k0048201.
Kommentar
Die Kapitalis kommt mit ihren Linksschrägenverstärkungen und Bogenverstärkungen einer normgerechten Ausführung nach antikem Vorbild nahe. An den Schaftenden meist Strichsporen, zum Teil aber auch Serifen. H, T und teilweise auch N recht breit ausgeführt, O eher oval mit Bogenverstärkung nur rechts. Der untere Balken des E ist deutlich breiter als die übrigen.
Adriaen de Vries (1556–1626), einer der bedeutendsten Bronzebildhauer seiner Zeit im Bereich nördlich der Alpen,5) wurde als Sohn eines Apothekers in Den Haag geboren. Nachdem er in den 1580er-Jahren in Italien gearbeitet hatte, kam de Vries 1592 an den Prager Hof Kaiser Rudolfs II. Möglicherweise lernte ihn Graf Ernst von Holstein-Schaumburg während seines Aufenthalts in Prag im Jahr 1593 kennen.6) Der Auftrag für das von Graf Ernst gewünschte Taufbecken wurde 1613 über den Augsburger Maler Johannes Rottenhammer an de Vries vermittelt. Dieser entwarf eine Taufe mit bronzenem Fuß, marmornem Becken und hölzernem Deckel, Graf Ernst jedoch bevorzugte ein vollständig aus Bronze gegossenes Stück, für das man sich auf den Preis von 1000 Talern einigte. Das Taufbecken traf im April 1615 in Bückeburg ein.7)
Graf Ernst erwarb in der Folgezeit eine Reihe weiterer Kunstwerke von Adriaen de Vries, die alle eine ähnliche Inschrift tragen: die Skulptur „Der Farnesische Stier“ (Nr. 477), die Ausstattungsstücke des Mausoleums in Stadthagen (Nr. 505) und die Skulpturengruppen „Venus und Adonis“ sowie „Raub der Proserpina“ (Nr. 516). Ein auf 1621 datiertes Verzeichnis nennt weitere Plastiken, die jedoch vermutlich nie nach Bückeburg gelangten. Adriaen de Vries hielt sich selbst zu keiner Zeit in Bückeburg auf. Graf Ernst bewertete als Auftraggeber die Qualität der Gießerarbeiten außerordentlich kritisch und monierte verschiedene Mängel: Der Deckel des Taufbeckens sei voller Löcher und die Gesümeß rings herumb sind gar schüff, ungleich und unformblich.8)
Das Bückeburger Taufbecken bildet eine „Ausnahmeerscheinung“9) unter den Taufbecken Niedersachsens. Es ist untypisch einerseits in seiner manieristischen Formsprache,10) andererseits aufgrund seines komplexen Bildprogramms, das auf die romanische Zeit zurückgeht. Prominentes Beispiel dafür ist das Bronzetaufbecken im Hildesheimer Dom aus dem 13. Jahrhundert: Tugenden, Paradiesflüsse und Evangelisten werden aufeinander bezogen. In Hildesheim kommen noch Propheten hinzu, ferner finden sich mehrere biblische Szenen, die auf das Thema „Wasser“ Bezug nehmen, während in Bückeburg lediglich auf dem Deckel die Taufe Jesu dargestellt ist. Das Hildesheimer Taufbecken weist im Gegensatz zu dem in Bückeburg ein komplexes exegetisches Textprogramm auf. Trotz dieser Unterschiede sieht Larsson in der Hildesheimer Domtaufe das Vorbild für das Bückeburger Taufbecken.11) Die viergliedrige Ikonographie lässt sich ursprünglich mit der Segnung des Taufwassers während der Osternachtsliturgie in Beziehung setzen: Das Taufwasser wurde im Anschluss an die Segnung in die vier Himmelsrichtungen gegossen als Symbol für die vier Paradiesflüsse, die das Wasser der Paradiesquelle in alle Himmelsrichtungen strömen lassen. Daran, dass die Ikonographie der Paradiesflüsse auch auf nachreformatorischen Taufbecken wieder aufgenommen wurde,12) zeigt sich, dass sie sich unabhängig von der altgläubigen liturgischen Tradition verselbständigt hatte.
Die Verbindung der Paradiesflüsse mit Tugendbegriffen entspringt einer patristischen Deutungstradition; Augustinus schreibt in De civitate Dei (13,21): „Niemand hindert uns also daran, unter dem Paradies das Leben der Seligen zu verstehen, unter seinen vier Flüssen die vier Tugenden, nämlich Klugheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit“.13) Die Auswahl der Tugenden auf dem Bückeburger Taufbecken unterscheidet sich allerdings von der bei Augustinus und der im Hildesheimer Dom, wo die vier Kardinaltugenden dargestellt sind.14) Hingegen entsprechen die in Bückeburg dargestellten christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, verbunden mit einer weiteren Tugend – hier der Standhaftigkeit –, eher dem in nachreformatorischer Zeit üblichen Kanon.15)
Ebenfalls bereits auf Augustinus geht die Verbindung der Paradiesflüsse mit den Evangelien zurück.16) Die Evangelisten verbreiten Gottes Wort in gleicher Weise in die Welt, wie durch die Paradiesflüsse symbolisch die Gnade Gottes, hier vermittelt durch die Taufe, in alle Himmelsrichtungen verbreitet wird.17) Unklar bleibt, wie groß die Anteile von de Vries, Rottenhammer und Graf Ernst an der Gestaltung des Taufbeckens waren. Man wird jedoch bei einem so prominenten Kirchenausstattungsstück und einem so teuren Auftrag annehmen dürfen, dass der Auftraggeber seine Wünsche und Vorstellungen einbrachte.18)