Inschriftenkatalog: Landkreis Schaumburg
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 104: Landkreis Schaumburg (2018)
Nr. 240 Stadthagen, Am Markt 8 1573, 1575
Beschreibung
Haus. Fachwerk. Das Eckhaus (sogenanntes Haus zum Wolf oder Gildenhaus), das giebelständig zum Markt ist, hat zwei Geschosse mit Zwischengeschoss. Es ist an der Giebelseite etwa zehn Gefache breit und an der Traufseite elf Gefache lang. Nach hinten an der Echternstraße schließt sich ein fünf Gefache langer Gebäudeteil mit Steinsockel an, der unter demselben Dach vereinigt ist und dieselbe Höhe aufweist wie der vordere Gebäudeteil. Es folgt ein weiterer, niedrigerer Anbau mit einem Erker. Das Haus ist reich mit Fächerrosetten und Tauband verziert.
1956/57 erfolgte eine Renovierung des Hauses, bei der über der neugefassten Tür an der Giebelseite ein Torsturz mit der Jahreszahl A eingefügt wurde, der 1950 beim Umbau des Hauses Obernstraße 40 gefunden worden war.1) In den Zwickeln links eine Rose, rechts ein Wappenschild und die Initialen B. Inschrift A erhaben in vertiefter Zeile und in Gold auf rotbraunem Grund gefasst; Inschrift B in Gold mit weißer Kontur aufgemalt.
Zum originalen Bestand des Hauses Am Markt 8 gehören die Inschriften an der Traufseite zur Echternstraße hin: Die erhaben geschnitzte Inschrift C am Schwellbalken des vorkragenden zweiten Obergeschosses; sie ist in Weiß auf braunem Grund gefasst. An den beiden Brüstungsplatten des Erkers an der Langseite die Inschriften D und E, die jeweils in vier Zeilen angeordnet sind; links, rechts und in der Mitte je ein Maskenkopf. Darunter auf dem Schwellbalken des Erkers die Inschrift F. Die Inschriften D, E und F sind erhaben in vertieften Zeilen in Gold ausgeführt und auf schwarzem Grund gefasst.
An der Schmalseite des Erkers (nach Süden) ein Relief, das einen Wolf darstellt, in dessen Rachen ein Kranich seinen Kopf steckt, darunter auf dem Schwellbalken die ursprünglich erhaben gearbeitete Inschrift G, die allerdings schon von Conze 1859 als unleserlich bezeichnet wird. Jetzt befindet sich an derselben Stelle eine aufgemalte Inschrift mit offenbar völlig anderem Wortlaut.2) Weitere Inschriften aus jüngerer Zeit am Schwellbalken des zweiten Obergeschosses an der Giebelseite.3)
Maße: Bu.: ca. 7 cm (A, D, E), ca. 8 cm (B), ca. 10 cm (C), ca. 9 cm (F), ca. 6 cm (G).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (C), Kapitalis mit Elementen der frühhumanistischen Kapitalis (A, B, D–G).
- A
ANNO : DOMINI 1573 :
- B
T L
- C
[N]e d[irip]ias pauper[e(m)]a) quod paup(er) sitb) necc) opprimas afflictu(m) in porta D(omin)us enim illorum causam defendendam suscipiet et vim illis faciet qui animo illorum vim intulerunt prover(bia) 224) · Verbu(m) d(omi)nid) manet in eter(n)um5)
- D
O · HER · GOT · WI · SINT · IO · HIR · MEN · GESTE /NOCHTAN · BVWEN · WI · HOGE · NESTE /MI · WVNDERT · DAT · WI · NICHT · MVRE(N) /DAR WI · EWICHe) · MVGEN · DVREN6)
- E
DE · WIL · STRAFFEN · MI · VNDE · DE · MINEN /DE · SE · ERST · VP · SICK · VNDE · DE · SINEN / SVTH · HE · DEN · GAR · KEIN · GEBRECK SO · KAME HE · BALDE · VND · STRAFE · MICK7)
- F
ANFANCK · IST · BEDENCKENSf) · WERT8) · ANNO 1575g)
- G
[ - - - ] DEN · / [ - - - ] / [ - - - ]
Übersetzung:
Im Jahr des Herrn 1573. (A)
Tu dem Armen nicht Gewalt an, nur weil er arm ist. Unterdrücke den Bedrängten nicht am Tor (vor Gericht). Denn Gott wird die Verteidigung ihres Falls übernehmen und wird denen Gewalt antun, die ihnen Gewalt angetan haben. Sprüche 22. Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. (C)
O, Herr Gott, wir sind ja hier nur Gäste, und dennoch bauen wir hohe Nester. Mich wundert, dass wir nicht dort Mauern errichten, wo wir ewig verweilen werden. (D)
Wer mich und die Meinen strafen will, der sehe erst auf sich und die Seinen. Wenn er dann gar keine Fehler sieht, so soll er schnell kommen und mich strafen. (E)
Der Anfang ist bedenkenswert. Im Jahr 1575. (F)
Versmaß: Deutsche Reimverse (D, E).
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Textkritischer Apparat
- [N]e d[irip]ias pauper[e(m)]] jetziger Befund: Vedn faias pauperi (Fehlrestaurierung); Ne vim facias pauperi Steinicke; Vim n(e) facias pauperi Bernstorf.
- sit] est Bernstorf.
- nec] Oberer Bogenabschnitt des c fehlt. Ne(ve) Bernstorf; Ne Janus.
- d(omi)ni] Befund: deii. Dei Bernstorf.
- DAR WI · EWICH] DARWIL . WICH (mit Fragezeichen) Kdm.
- BEDENCKENS] BEDENGKNIS Kdm.
- 1575] Conze, Wehling, Weiland, Die alten Häuser in Stadthagen (Abb. S. 36 unten); jetziger Befund: 1573 (vgl. dazu den Kommentar); 1570 Interessante Häuserinschriften.
Anmerkungen
- Steinicke, Hausinschriften, S. 29.
- VNDANK / IST · DE / WELT · LOHN. Vgl. Conze, Haussprüche, S. 95.
- Haus zum wolf + erbaut Anno domini Mdlxxiii + ren(oviert) · a(nno) · d(omini) · MeMlvi (für McMlvi) + der eine betrachts + der andre verachts + der dritte belachts + was machts? h(einz) · u(lrich) · h(eine). Auflösung der Abkürzungen nach Steinicke.
- Prv 22,22f.
- Protestantische Devise nach I Pt 1,25 (vgl. Nr. 169).
- Vgl. Wander, Sprichwörterlexikon, Bd. 1, Sp. 254 Nr. 61. Vgl. dazu DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 98 u. 149 (mit weiteren Hinweisen zur Textgeschichte) sowie DI 88 (Lkr. Hildesheim), Nr. 148 mit Anm. 5.
- Vgl. Wander, Sprichwörterlexikon, Bd. 4, Sp. 889 Nr. 25.
- Vgl. Wander, Sprichwörterlexikon, Bd. 1, Sp. 80 Nr. 16.
- Wappen ? (Hausmarke
H13 ). - Gängigeres Vokabular (opprimas statt conteras, vim alicui facere bzw. inferre statt configere aliquem), sit als Konjunktiv der inneren Abhängigkeit, Gerundivkonstruktion.
- Biblia. Ex officina Roberti Stephani, typographi Regii, Paris 1545.
- Phaedrus 1,8.
- Steinicke, Hausinschriften, S. 29; Burchard, Stadtarchiv Stadthagen, S. 48,15 mit Anm. 1.
- Weiland, Trauungen, S. 4.
- Burchard, Stadtarchiv Stadthagen, S. 252,29–32. Zu Hermann Adrian von Zerssen s. von Zerssen, Familie von Zerssen, S. 204–206.
Nachweise
- Conze, Haussprüche, S. 95 (D, E, F).
- Interessante Häuserinschriften, ohne Seitenzählung (D, E, F).
- Kdm. Kreis Schaumburg-Lippe, S. 87f. (D, E, F) – Plattdeutsche Hausinschriften aus Stadthagen, S. 220 (D, E).
- [Wehling], Stadthagens alte Bauten, 1927, H. 1, ohne Seitenzählung (D, E, F).
- Hesse, Heimatkundliche Wahrzeichen, S. 204, Nr. 694 u. 695).
- Wehling, Zwei „neue“ alte Fachwerkhäuser, S. 90 (Jahreszahl in F).
- Flemming, Stadthagener Hausinschriften, ohne Seitenzählung (D, E).
- Fromme Hausinschriften in und um Stadthagen, ohne Seitenzählung (D).
- Janus, Unsere alten Fachwerkbauten, S. 268 (C).
- Bernstorf, Mittelalterliche Haussprüche, ohne Seitenzählung.
- Jungblut, Alte Zimmermannskunst, S. 8 (D, E).
- Weiland, Die Häuser und deren Eigentümer, Teil 1, S. 20 (D, E, F).
- Hansen/Kreft, Fachwerk im Weserraum, S. 294 u. Abb. 159, 160 (D, E, F).
- Weiland, Die alten Häuser in Stadthagen, S. 35f. (D, E, F, mit Abb.).
- Steinicke, Hausinschriften, Nr. 12, S. 28–33 (A, C, D, E, F).
Zitierhinweis:
DI 104, Landkreis Schaumburg, Nr. 240 (Katharina Kagerer), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di104g020k0024003.
Kommentar
Die Kapitalis weist vereinzelte Elemente der frühhumanistischen Kapitalis auf: spitzovales O, A mit nach unten gebrochenem Mittelbalken.
Die gotische Minuskel in Inschrift C beschränkt sich fast völlig auf den Mittellängenbereich. Kastenförmiges a. Das Schluss-s entspricht der Grundform des Schleifen-s. 2 in Form eines Z.
Der lateinische Text von Inschrift C entspricht nicht der Vulgata, sondern ist stilistisch stärker am klassischen bzw. schulmäßigen Latein ausgerichtet.10) Zugrunde liegt die 1545 in Paris erschienene lateinische Bibelübersetzung des Robertus Stephanus (Estienne).11)
Die Brüstungsplatte an der Schmalseite des Erkers stellt die äsopische Fabel vom Wolf und Kranich dar: Ein Wolf, der sich an einem Knochen verschluckt hat, bittet verschiedene Tiere um Hilfe. Der Kranich erklärt sich bereit, ihm mit seinem Schnabel den Knochen aus dem Hals zu ziehen. Als der Kranich vom Wolf eine Belohnung verlangt, wirft ihm dieser Undankbarkeit vor und sagt, der Kranich sei genug dadurch belohnt, dass ihn der Wolf unverletzt abziehen lasse.12) Die jetzt unterhalb des Reliefs angebrachte Inschrift (vgl. Anm. 2) passt also inhaltlich zur Fabel. Der noch erkennbare Befund zeigt aber, dass früher an dieser Stelle etwas anderes gestanden haben muss.
Erbauer des Hauses war der Amtmann Johann Rust († 1613 in Stadthagen), der von 1585 bis 1596 Bürgermeister von Stadthagen war. Er stammte aus Hameln und hatte 1560 das Bürgerrecht von Stadthagen erlangt.13) Er war seit 1561 verheiratet mit Alheit Verken.14) Seine Tochter Elisabeth heiratete Hermann Adrian von Zerssen.15)
Das Erbauungsjahr des gesamten Hauses ist nicht ganz klar. Die Jahreszahl am Erker (Inschrift F) lautete bis ins 20. Jahrhundert 1575. Die Form der jetzt dort aufgemalten 3 entspricht nicht dem Formenrepertoire des 16. Jahrhunderts; von den ursprünglich erhaben geschnitzten Buchstaben ist nichts mehr zu erkennen. Möglicherweise wurde die Jahreszahl irgendwann an die jetzt am Torbogen der Traufseite vorzufindende Datierung angeglichen.