Inschriftenkatalog: Rheingau-Taunus Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 43: Rheingau-Taunus-Kreis (1997)

Nr. 6(†) Berlin, Staatsbibliothek (aus Kloster Bleidenstadt) nach 1156 – um 1184

Hinweis: Das Stück ist auch beschrieben in: Zuchhold, Gerd-H.: Der „Klosterhof“ des Prinzen Karl von Preußen im Park von Schloß Glienicke in Berlin. Band 2. Katalog der von Prinz Karl von Preußen im „Klosterhof“ aufbewahrten Kunstwerke (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Beiheft 21). Berlin 1993, S. 116f.

Beschreibung

Namensinschriften und Bibelspruch auf dem Vorderdeckel des Codex Blidenstatensis.1) Mehrfarbiger Schmelzgrund, Figuren und Schriftbänder vergoldet, Buchstaben graviert und emailliert. 1917 kam das dazugehörige Fragment der sog. „Wolperoplatte“ mit der Kreuzigung aus der Sammlung des Prinzen Friedrich Leopold von Preußen ins Berliner Kunstgewerbemuseum; sie ist seit 1945 verschollen, aber in einem Foto überliefert.2) Diese Platte gehörte zu dem Codex, der 1651 nach Mainz, von dort 1792 nach Aschaffenburg gelangte und sich heute in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin befindet.2) Erhalten sind von dem Codex zwei Platten: der obere Teil des Einbandes mit der „Majestas“ des thronenden Christus in der Mandorla (A) sowie die rechte Rahmenleiste mit sechs, auf den jeweiligen Querleisten mit ihren Namen bezeichneten Apostelbüsten (C-H) zwischen den bezeichneten Evangelistensymbolen von Matthäus und Lukas (B,I). Sie wurden 1972 in der Ausstellung „Rhein und Maas“ in Köln gezeigt. Die verschollene, figurenreiche Wolpero-Platte zeigte mittig die Kreuzigung mit Sol, Luna und den Assistenzfiguren Maria und Johannes; rechts vom monogrammierten Kreuz (K) zwei Frauen mit dem Engel am Grab; links die noli-me-tangere-Szene. Christus hält ein breites Schriftband mit zweizeiliger Inschrift (L). Schräg hinter dem Kreuz steht die mit einem vertikalen Schriftband (M) bezeichnete Gestalt des hl. Ferrutius in Ritterrüstung. Am Kreuzfuß liegt der Mönch und Stifter Wolpero mit Namensbeischrift (N) auf dem Rücken. Vergoldung abgerieben, Schmelz beschädigt, kleinere Stücke abgesprungen.

Nach Kötzsche/Foto.

Maße: Gesamt H. 26,5, B. 17,2; Platte H. 11, B. 8,5 cm.2)

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Forschungsstelle Die Deutschen Inschriften bei der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Foto-Repro -Staatsbibl_PreußKulturbesitz-Berlin [1/6]

  1. A

    A / Ωa)

  2. B

    LIBER GEN(ERATIONIS) · MATHEV(S)3)

  3. C

    · PAVLVS ·

  4. D

    · IACOB(VS)

  5. E

    · MATHEV(S)

  6. F

    · PHILIPPVS ·

  7. G

    · THOMAS ·

  8. H

    · SYMON ·

  9. I

    · FVIT IN DIEB(VS) · / · LVCAS4) ·

  10. K

    IE(SV)Sb)

  11. L

    NOLI · ME · TANG(ERE) · / NONDV(M)c) · ASC(EN)D[I]d5)

  12. M

    S(ANCTVS) · FERRVCIVS

  13. N

    WOLP(ER)O

Übersetzung:

Das Buch der Abstammung ... (B). – Es war in den Tagen ... (I). – Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren (L).

Kommentar

Die Kürze der Texte und der Zustand der Schrift lassen nur begrenzt paläographische Aussagen zu. Die Majuskel zeigt kapitale und unziale Varianten des E, außerdem unziale, halbgeschlossene wie auch kapitale M mit kurzem Mittelteil; Sporen sind kräftig ausgebildet.6) Die Schrift steht also am Übergang zur gotischen Majuskel.

Die Zuordnung der Wolpero-Platte zu dem Bleidenstadter Kodex erfolgte aufgrund der Tatsachen, daß dieses Stift offensichtlich der Hauptort der Ferrutiusverehrung war, Maße, Gestaltung und Farbigkeit beider Stücke übereinstimmten und der Maiestas üblicherweise eine Kreuzigung entspricht.7) Der Einband zierte den Bleidenstadter Nekrolog, worin zum 6. Januar der Sterbetag des Mönches „Wolbero presbyter et monachus nostrae congregationis“ verzeichnet ist.8) Damit ist ein Beleg für die Konventszugehörigkeit des mutmaßlichen Stifters gefunden. Gemäß paläographischem Befund nach Bernhard Bischoff stammt das Totenbuch aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts.9) Der Einbanddeckel entstand Kötzsche zufolge nach 1156 in der Regierungszeit des aus Hirsau kommenden Bleidenstadter Abtes Heinrich (nach 1156 bis um 1184).10) Ungeklärt bleibt dagegen die Frage nach der ursprünglichen Einheit von Einband und Nekrolog. Aufgrund des ikonographischen Programmes dürfte der Einband eher für ein liturgisches Buch bestimmt gewesen sein.11) Er stellt die einzige erhaltene romanische Schmelzarbeit mittelrheinischer Herkunft aus der Abtei Bleidenstadt dar, wobei die Voraussetzungen ihres Stils in den Arbeiten des Rhein-Maas-Raumes zu suchen sind12). Stilistische Ähnlichkeiten gibt es vor allem zu der zeitnahen Kelchkuppa des Kölner Diözesanmuseums und der Handschrift des vor oder um 1164 zu datierenden Lütticher Sakramentars, wobei der auf byzantinischen Vorbildern beruhende, im Maasgebiet verbreitete Typus variiert wird. Sehr nahe kommt die Bleidenstädter Majestas-Darstellung in der Tat derjenigen auf dem Lütticher Sakramentar, das die engen Wechselbeziehungen zwischen Lüttich und Köln in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts dokumentiert.13)

Textkritischer Apparat

  1. Alpha als lateinisches A geschrieben, Omega in Form eines auf den Kopf gestellten unzialen M.
  2. In griechischen Buchstaben IHC.
  3. Zu ergänzen wäre dem Bibeltext nach zwar ENIM, doch fehlt hier der Platz.
  4. Io. 20,17; zu ergänzen wäre AD PATREM MEVM.

Anmerkungen

  1. Teil des Einbandes in Dt. Staatsbibliothek Berlin Ms. Lat. quart. 651; frdl. Hinweis von Dr. Rüdiger Fuchs, Mainz.
  2. Inv.-Nr. 17,100. Die Provenienzgeschichte bei Dietrich Kötzsche, Eine romanische Grubenschmelzplatte aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum. In: Fschr. Peter Metz. Berlin 1965, 154-169, hier 155 mit Anm. 3 und 160. Bearb. dankt Herrn Prof. Kötzsche, Berlin, für die freundliche und rasche Überlassung der Fotos.
  3. Mt. 1,1.
  4. Lc. 1,5.
  5. Io. 20,17.
  6. Die Entwicklung der Majuskel in emaillierten Goldschmiedearbeiten nimmt einen anderen Verlauf als bei zeitgenössischen Steininschriften; Parallelen sind also in der rhein-maasländischen Goldschmiedekunst zu suchen: In der Buchstabengestaltung bestehen Übereinstimmungen zu Emailplatten um 1160, vgl. etwa die Justitia-Platte in Aachen, DI 31 (Aachen Dom) Nr. 23, während die Verwendung nur weniger Unzialformen noch nicht die Entwicklungsstufe der rheinischen Schreinproduktion zwischen 1170 und 1180 erreicht zu haben scheint.
  7. Kötzsche, Grubenschmelzplatte 158.
  8. Ebd. 161.
  9. Zit. nach ebd. 162.
  10. Ebd. 161.
  11. Ebd. 163.
  12. Kötzsche, Grubenschmelzplatte 163.
  13. Vgl. Katalog Rhein und Maas 294 Nr. J 21.

Nachweise

  1. Böhmer/Will, Monumenta Blid. XIX.
  2. Kötzsche, Grubenschmelzplatte 154, 158.
  3. Rhein und Maas Abb. 272 H 10a.

Zitierhinweis:
DI 43, Rheingau-Taunus-Kreis, Nr. 6(†) (Yvonne Monsees), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di043mz05k0000609.