Inschriftenkatalog: Rheingau-Taunus Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 43: Rheingau-Taunus-Kreis (1997)

Nr. 315† Johannisberg, ehem. Klosterkirche E.15./A.16.Jh.

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Mahninschrift an der Südwand, wahrscheinlich im Chorbereich1), vielleicht Wandmalerei.

Nach Helwich.

  1. Canonicas horas si devote canis orasErige cor sursum bene profer respice sensumTunc orant horae cum corde leguntur et ore.

Übersetzung:

Wenn du die kanonischen Stundengebete andächtig singst und betest, erhebe dein Herz in die Höhe, trage das Gebet gut vor und beachte den Sinn. Die Horen werden dann zum Gebet, wenn sie mit dem Herzen und mit dem Mund gelesen werden.

Versmaß: Drei Hexameter, teilweise leoninisch zweisilbig.

Kommentar

Die drei Hexameter sind mit fast identischem Wortlaut in einem ebenfalls nur kopial überlieferten 17-zeiligen Mahngedicht aus der Schorndorfer Stadtkirche enthalten.2) Der erste Hexameter bildet auch dort den Anfang, doch ist canis durch legis ersetzt. Der zweite Hexameter steht in der Schorndorfer Überlieferung als 15. Vers und beginnt mit Dirige statt mit Erige. Der letzte Hexameter schließlich steht in Schorndorf als zweiter Vers und bietet orantur statt orant. Damit hat der Vers der Schorndorfer Inschrift zwar einen metrischen Fehler, doch wird der Sinn durch die Verwendung des Passivs klarer. Eine inhaltliche Veränderung ergibt sich durch die Varianten nicht. Beide Inschriften mahnen die Priester zu einer andächtigen und wortgetreuen Verrichtung der Stundengebete (Horen). Für die Schorndorfer Inschrift wurde eine Datierung um 1500 vorgeschlagen und dafür u.a. auf eine Inschrift aus Geislingen an der Steige von 1518 hingewiesen, in der die Priester ebenfalls zum andächtigen Gebet aufgefordert werden.3) Die Datierung gewinnt noch dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß auch die Inschriften in der Sakristei der Kiedricher Kirche (Nrr. 318, 319) und am Chorgestühl der Groß-Umstädter Kirche,4) die den Priester zum andächtigen Gebet mahnen, in diesem Zeitraum entstanden sind. Alle diese Inschriften können als Reflex der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Verhalten der Geistlichkeit um 1500 gewertet werden.5) In dieser Zeit einer beinahe übersteigerten Heilserwartung schlug sich auch die Furcht vor einer Heilsminderung durch unkorrektes Verhalten der Geistlichen entsprechend nieder. Man kann somit davon ausgehen, daß diese Johannisberger Inschrift wie auch jene nahe dem Sakramentshaus (folgende Nr.) ebenfalls vor diesem Hintergrund um 1500 entstanden ist. Die Verwendung gereimter Verse ist für die Datierung nicht relevant, da man offensichtlich auf eine ältere Textvorlage zurückgriff, wie die Parallelen zu der Schorndorfer Inschrift zeigen.

Der richtige Vollzug des Kults und das richtige Aussprechen der Gebete sind Forderungen, die bereits im Frühmittelalter vorgebracht wurden. Man befürchtete nämlich, daß andernfalls die Gebete unwirksam blieben.6) Der korrekte liturgische Vollzug und das Verständnis der Gebete waren auch das Anliegen späterer Liturgiker wie etwa Johannes Beleth (12. Jh.) und Wilhelm Durandus (1230/31-1296). Das zunehmende Interesse an den Stundengebeten zeigt ihre immer ausführlichere Kommentierung. War das Kapitel über die Stundengebete in der zwischen 1160 und 1164 verfaßten dritten Redaktion der „Summa de ecclesiasticis officiis“ des Johannes Beleth noch relativ kurz gefaßt,7) wurde es in den später folgenden Rezensionen immer ausführlicher.8) Durandus widmete den Stundengebeten in seinem „Rationale divinorum officiorum“ schließlich ein ganzes Buch.9) Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß sowohl in Johannisberg als auch in Schorndorf gerade das richtige Beten der Horen thematisiert wurde. Die Textparallelen lassen zudem erkennen, daß man in beiden Fällen dieselbe Vorlage benutzte, die allerdings nicht identifiziert werden konnte.

Anmerkungen

  1. Helwich: „A dextris muro inscripti versus leguntur“; in der Hs. nach einer Inschrift im Chor plaziert.
  2. DI 37 (Rems-Murr-Kreis) Nr. 83.
  3. DI 41 (Lkr. Göppingen) Nr. 208.
  4. Vgl. Sebastian Scholz, Die Inschriften der Evangelischen Kirche Groß-Umstadt aus der Zeit vor 1800. In: Dreizehn Jahrhunderte Kirche in Groß-Umstadt. Königstein im Taunus 1993, 67f. Nr. 14; vgl. demnächst auch DI Lkr. Darmstadt-Dieburg.
  5. Vgl. dazu Möller, Frömmigkeit 25-29.
  6. Frdl. Hinweise Dr. Sebastian Scholz, auch zum folgenden und zu Anm. 7-9; vgl. zudem Arnold Angenendt, Libelli bene correcti. Der „richtige Kult“ als ein Motiv der karolingischen Reform. In: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Hrsg. v. Peter Ganz. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 5.) 117-135, bes. 121ff.
  7. Johannes Beleth, Summa de ecclesiasticis officiis 29 a,b. Hrsg. v. H. Douteil. Turnhout 1976 (CCM 41A.) 56f.
  8. Vgl. die späteren Redaktionen bei Johannes Beleth, Summa de ecclesiasticis officiis. Hrsg. v. H. Douteil. Turnhout 1976 (CCM 41.) 14-18, bes. 17f.
  9. Durandus, Rationale V; zur Verbreitung des Werkes vgl. Nr. 318 bei Anm. 10.

Nachweise

  1. Helwich, Syntagma 276.
  2. Roth, Geschichtsquellen III 280.
Addenda & Corrigenda (Stand: 20. Juli 2021):

Hinweis: Mahnungen zum korrekten und andächtigen (Stunden-)gebet finden sich vielfach in Inschriften, eine Zusammenstellung bei DI 49 (Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau), Nr. 110, dort auch die Berufung auf Bernhard von Clairveaux. Um 1500 war das Thema virulent, wie neben den Inschriften etwa auch die Inkunabel des Johannes de Lambsheim: Speculum officii missae expositorium. Heidelberg: Heinrich Knoblochtzer, 29.VI.1495. 4°, zeigt, wo sich im Kapitel De horis dicendis hos nota versos 19 Hexameter, beginnend mit Canonicas horas si devote legis oras, …, finden. Vergleiche auch Walther, Proverbia Nr. 2299. Auffällig sind bei den Texten kleine, teils das Metrum gefährdende Varianten.

Zitierhinweis:
DI 43, Rheingau-Taunus-Kreis, Nr. 315† (Yvonne Monsees), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di043mz05k0031506.