Inschriftenkatalog: Rheingau-Taunus Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 43: Rheingau-Taunus-Kreis (1997)

Nr. 314† Geisenheim, ehem. Rathaus E.15./A.16.Jh.

Beschreibung

Verlorenes Wandgemälde im Gerichtszimmer des 1853 abgerissenen Rathauses,1) am oberen Teil der Schmalseite des Raumes über der Tür zum Gefängnis, durch ein kurz vor dem Abbruch im Auftrag des Nassauischen Geschichtsvereins angefertigtes Aquarell des Rüdesheimer Malers Josef Adolf Müller überliefert.2) Das Originalgemälde stellte in einer Höhe von 2,40 m und auf einer Breite von 3,60 m zwei Szenen dar: rechts Gerichtsverhandlung mit der Meineidleistung eines/einer Beschuldigten und links dessen/deren Enthauptung.3) Rechte Gemäldeseite, Gerichtsverhandlungsszene: Links ist die Brustfigur des Richters mit langem Stab und Hut zu erkennen, auf dem mit Ecksäulen und Kielbogen verzierten Stuhl sitzend. Aus seinem Munde entspringt Schriftband (A). Über der Szene die schwebende Brustfigur des auf die Gesetzestafeln weisenden Moses, mit nach rechts wehendem Schriftband (B). Neben dem Richter Halbfigur eines nach rechts gewendeten jungen Mannes, wahrscheinlich des Geistlichen, der ein Buch (die Bibel) der rechts von ihm stehenden, ihm zugewandten Gestalt reicht und sie anredet (C). Diese Figur ist die Hauptperson des Geschehens. Es handelt sich um den vor Gericht stehenden Meineidigen, der seine Hand zwar auf die Bibel legt und schwört, die Wahrheit zu sagen (D), doch ausweislich der Worte (E) des ihn sofort packenden Teufels in diesem Augenblick falsches Zeugnis ablegt. Linke Gemäldeseite, Hinrichtungsszene: Vier einander zugewandte Personen als Fragmente sichtbar; über dem in der Mitte der Figurengruppe erkennbaren, leicht geneigten Kopf des Delinquenten das Richtschwert mit einem stark beschädigten Schriftband (F), wobei in einer feinen Linie am Schwertgriff der Rest der das Schwert führenden Hand zu vermuten ist. Rechts daneben Rest einer Frauengestalt mit Kopf-und Kinntuch und geschwungenem Schriftband (G), der eine nach links gewendete Frauenhalbfigur zur Seite gestellt ist, die ihre Nachbarin anredet (H). Im unteren Bereich war das Gemälde zu Müllers Zeiten schon so schwer beschädigt, daß nur noch acht Halbfiguren bzw. Köpfe mit Schriftbändern sichtbar waren. Die Szenen waren aufeinander bezogen und von rechts nach links zu verstehen.

Nach Aquarell von Müller.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

  1. A

    Von [...]el · [...] · ik · so · sy ·so · wirdestu · der · ansprach · fry

  2. B

    [...] · [...] · ich · dich · daß · du · salt · nit · fals · by · got · swern4)

  3. C

    [...] de · tru · nit · brech ·daß · es · got · nit · an · dir · rech

  4. D

    Ja · ich · wil · dar · vor · swern ·daß · ich · nun · [...] moege · erhoern

  5. E

    Darnach · daß · du · onrecht · hast · gesworn ·des · hilf [...]Fich · ni · [si] · ret · [...] · ona) · gerecht [...] · so · richt[...]

  6. G

    [...] · laß · fru · gewern ·ich · will · m[...] dem [...]n · verhern ·

  7. H

    Nem · [...]e · min · noch · dra · [..] · daß · [...] muß · geben [...]

Versmaß: Deutsche Reimverse.

Kommentar

Vielfach erscheinen an oder in weltlichen Gebäuden wie Rats- und Gerichtshäusern Inschriften, deren mit dem Rechtsleben verbundene Inhalte auf die Zweckbestimmung dieser Bauten oder einzelner Räume hinweisen.5) Der häufigste Anlaß zur Anbringung solcher Inschriften ergab sich bei Gebäuden, die der Rechtsprechung dienten. So sind die Geisenheimer Wandsprüche in Zusammenhang zu sehen mit inschriftlichen Ermahnungen an die Richter, unparteiisch Recht zu sprechen, oder sie sind als moralisierende Aufforderung an den Betroffenen gedacht, seiner Wahrheitspflicht vor Gericht nachzukommen. Die alttestamentliche Stelle in Inschrift (B) bildet den entsprechenden Bibelhintergrund; die Abbildung des Teufels als drastischer Hinweis auf die zu erwartende Höllenpein bei Falschaussage verstärkte die Wirkung des zudem ungereimt gebliebenen Bibelwortes.

Textkritischer Apparat

  1. Richtungswechsel der Inschrift in der Kopie.

Anmerkungen

  1. Das Rathaus reicht in seiner Errichtung ins Spätmittelalter zurück. Erstmals 1481 urkundlich belegt, zeigt seine Erbauung die Selbstverwaltung Geisenheims an, dessen Schultheiß und Schöffen 1330 nachzuweisen sind (vgl. Struck, Geisenheim 69 und 72). Eine Nachricht vom Jahre 1692 berichtet von dem Gebäude, daß es ein „weitläufiges und ziemlich altes Werk“ gewesen sei, „das außer dem Zimmer, worin Gericht und Rat tagten, in schlechtem Stand war“, zit. nach Struck, Geisenheim 73. An das Gerichtszimmer schlossen sich drei Gefängnisräume an, darüber befand sich die Stube des Bürgermeisters. 1853 wurde der stattliche, zweigeschossige Fachwerkbau, dessen Aussehen durch mehrere Zeichnungen überliefert ist, abgerissen, vgl. Struck, ebd. mit Taf. XVI; Spille 168.
  2. Aquarellierte Federzeichnung (wohl Zweitfassung) im Museum Wiesbaden, SNA Zeichnungen Geisenheim 25. Herrn Dr. Kleineberg, SNA, sei hier für die frdl. gewährte Erlaubnis zur näheren Untersuchung des Bildes gedankt.
  3. Struck, Geisenheim 69.
  4. Lev 19,12 „Du sollst bei meinem Namen nicht falsch schwören und den Namen deines Gottes nicht beflecken“.
  5. Frölich, Rechtsinschriften 28f.

Nachweise

  1. Luthmer (1902) 79-80; (1907) 80-81.
  2. Struck, Geisenheim 73-74 mit Abb. XVII, 1.

Zitierhinweis:
DI 43, Rheingau-Taunus-Kreis, Nr. 314† (Yvonne Monsees), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di043mz05k0031408.