Inschriftenkatalog: Rheingau-Taunus Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 43: Rheingau-Taunus-Kreis (1997)

Nr. 2† Bleidenstadt, ehem. Klosterkirche nach 812(?)

Beschreibung

Grabgedicht für den hl. Ferrutius mit dem Bericht der Beisetzung seiner Gebeine in der Klosterkirche einschließlich Leseranrede und Fürbitte. Ausführung unbekannt, vielleicht als Wandmalerei1) an der Nordwand der Klosterkirche über oder als Inschrift am Ferrutius-Sarkophag2). Möglicherweise 1516 restaurierte Fassung, 1604 von Serarius und 1615 von Helwich überliefert.

Nach Serarius.

  1. Egregius meritis pausat Ferrutius istic,Cingula militiae Christi qui vertit ad aram.Idcirco est poenis Martyr maceratus acerbis,Per menses bis ter vinclis et carcere clausus,Spiritus aetheream donec suscendit in aulam.Eugenius, Barger conderunt ossa sepulchro.Post levita humilis Richolphus condidit ista,Quam cernis, lector, signansa) et carmine tumbam.Pro quo, quisque legis versus, dic supplice voto:Christe tui famuli semper miserere, precamur.

Übersetzung:

Ausgezeichnet durch seine Verdienste ruht hier Ferrutius, der die Waffen des Soldaten zum Altar Christi brachte. Darum ist er als Märtyrer mit harten Strafen gequält worden und wurde für zweimal drei Monate in Kerker und Fesseln geschlagen, bis sein Geist sich in die himmlische Halle erhob. Eugenius und Barger bargen seine Knochen im Grab. Später verwahrte sie der demütige Priester Richolf in dieser Tumba, wobei er sie, die du, o Leser, erblickst, mit einem Gedicht versah. Für diesen spreche jeder, der diese Verse liest, in demütigem Gebet: Christus, wir bitten dich, erbarme dich deines Dieners immerdar.

Versmaß: Zehn Hexameter, teilw. leoninisch einsilbig.

Kommentar

Die lokale Überlieferung schildert folgende, in die Zeit der diokletianischen Christenverfolgung gelegte Legende, die den stofflichen Hintergrund der Verse bildet: Der zum christlichen Glauben bekehrte Ferrutius widerstand allen Versuchen, ihn davon abzubringen, wurde deshalb eingekerkert, gefoltert und starb nach sechsmonatiger Haft. Diese Zeitspanne wird in den Versen erwähnt, wie auch die Aufhebung seiner Gebeine am Ort seines Martyriums (Mainz-Kastel). Die fromme Legende berichtet weiter von der Übertragung der als Reliquien behandelten Überreste des Märtyrers von Kastel nach Bleidenstadt. Im „Sermo de Sancto Ferrutio“3) aus der Feder des Mönches Meginhard, der bislang mit dem Fuldaer Mönch gleichen Namens aus dem 9. Jahrhundert gleichgesetzt wurde, wird die Ferrutius-Legende ausführlich dargestellt. Meginhard dürfte jedoch mit dem im Bleidenstadter Nekrolog als Fremdabt4) verzeichneten Abt Meginhard von Mönchengladbach identisch sein, der im Auftrag des Bleidenstadter Abtes Adelger erst kurz vor oder um 1100 die Heiligenvita verfaßt haben wird.5) Sie verwendete die inschriftlich realisierten Versgedichte des Richolf und des Hrabanus Maurus (Nr. 3) als Vorlagen, die dann erbaulich erweitert und ausgeschmückt wurden.6) Wenngleich das Grabgedicht nicht original überliefert ist, so steht doch seine inschriftliche Realisierung außer Frage. Aufgrund namenskundlicher Überlegungen zu Eugenius und Barger („Warger“ 6./7. Jahrhundert), die zuerst die Ferrutius-Gebeine bargen, kam Knoch zu der Hypothese, daß die ersten sechs Zeilen des Textes bereits vor der Überführung der Gebeine „auf dem alten Grabmal in Mainz-Kastel“ gestanden haben könnten, also eines höheren Alters seien als die Zeilen 7-10.7) Er nahm an, daß für die Entstehung dieser (älteren) Inschrift das 6. Jahrhundert einen terminus post quem darstelle, zumal eine Ferrutius-Verehrung vorher nicht belegt ist und die Grabstätte seit der Erhebung des Märtyrers zum Heiligen – ähnlich wie die der Märtyrer Alban, Aureus und Justina – einen kirchlichen Mittelpunkt am Rhein bildete.8) Erzbischof Lul (754-786) ließ die Gebeine in die Tochtergründung der von ihm um 770 ins Leben gerufenen Benediktinerabtei Hersfeld transferieren9), wie es Hrabanus Maurus in seinen Ferrutius-Versen (Nr. 3) schilderte, während Luls Amtsnachfolger Richolf (787-813) die Tumba10) errichten ließ und sie mit einem Gedicht versah. Am 6. Juni 812 weihte dieser die Klosterkirche. Damit gehört das Gedicht zusammen mit den beiden Versinschriften des Hrabanus und der Weihenotiz von 81211) zu den einzigen Belegen der Frühgeschichte des Mainzer Eigenklosters.

Metrisch zeigen Vers 1 einen einsilbig assonierenden, die Verse 3 und 5 den einsilbig reinen, leoninischen Hexameter. Im allgemeinen deuten Fehlen von Reim und diese einsilbig reinen Reime auf eine frühe Entstehung des Textes hin, während sich in der Zeit um 1100 in der mittellateinischen Dichtung wie auch in inschriftlichen Zeugnissen eher zweisilbig reine Reime durchsetzten.12) So orientiert sich die hier vorgeschlagene chronologische Einordnung an der mutmaßlichen Anbringung des Gedichts am oder beim Ferrutius-Grab13), wobei die Kirchweihe im Jahre 812 als terminus post quem zugrundegelegt wird. Das Weihedatum ist jedoch nicht unbedingt als Zeitpunkt der Fertigstellung der Kirchenausstattung anzusehen.

Textkritischer Apparat

  1. Nach MGH; Serarius signas.

Anmerkungen

  1. Nach Helwich 429 „in latere ad murum septentrionali“. Daß solche Inschriften als Wandmalereien ausgeführt wurden, läßt sich an verschiedenen Beispielen belegen, vgl. Meyer-Barkhausen, Versinschriften, passim.
  2. Zu dessen Inschriften vgl. Nr. 367. Dabei ist über die Art und Gestaltung des Heiligengrabes nichts bekannt, so daß offen bleibt, ob es sich um eine sarkophagähnliche Anlage oder um einen Schrein handelte.
  3. Ausgabe in AASS Oct. 29 XII 530 (538)-542, dem Abt Adelger von Bleidenstadt gewidmet, s. auch MGH SS XV, 149,2; nur Auszüge dagegen bei Serarius 287-292; Joannis, Rer. Mog. I 184-186.
  4. Zum Identifizierungsvorschlag Meginhards als Abt von Mönchengladbach vgl. Weckmüller, Äbte II 105.
  5. Das Memorienbuch des Klosters, in dem die Äbte Adelger und Meginhard eingetragen sind, entstand nicht vor dem 1. V. des 11. Jh., vgl. Kipke, Bleidenstadt 36f.; die Ausschmückung der Heiligenvita diente wohl zur Unterstützung der Reliquienverehrung.
  6. Ausdrücklich nennt Meginhard als seine Quelle „ex literis itaque mausolei (..) vir iste beatus cognoscitur“, zit. nach Kipke, Bleidenstadt 37.
  7. Knoch, Namenforschung 58-65, hier 62-64. LThK 4 Sp. 93 datierte die Inschrift, auf der die Lokalüberlieferung basierte, sogar ins 4. Jh. Ein zusätzliches Indiz neben den römisch-germanischen Namensformen stellte für Knoch die Verwendung des Verbs „condere“ dar. Der Blick auf frühchristliche Parallelbeispiele zeigt, daß das Verb in Verbindung mit „ossa“ im 6./7. Jh. etwa bei dem Mainzer Leutegund-Stein und in der Form condita hoc tumulis requiiscit ossa bei dem Mainzer Dructacharius-Stein vorkommt (vgl. Boppert 56-60 zum Leutegund-Stein, 34-39 zum Dructacharius-Stein), der auch ossa in Verbindung mit Namen zeigt. Zu unterscheiden wäre hierbei jedoch zwischen den ausgeführten Grabinschriften von bestatteten Personen und der Verwendung im Zusammenhang mit anders zu gewichtenden, poetisch gefaßten Heiligen- und Märtyrerviten. Es handelt sich im vorliegenden Fall um die Bergung der Gebeine (ossa condere) eines Märtyrers, der besonderes Ansehen genoß. Bei Hrabanus Maurus findet sich der Bezug auf einen Heiligen mit dem Terminus „ossa sacra“ beispielsweise in seinen „Versus ad Sepulchrum Sancti Iustini Confessoris“, in: MGH Poetae Lat. II 225 Nr. LXXI; um die Bergung von Reliquien in einem Behältnis anzuzeigen, benutzte er häufig das Verb „condere“, vgl. u.a. ebd. sowie 224 Nr. LXVI, 226 Nr. LXXII und unten Nr. 3.
  8. Büttner, Christentum 18 mit Anm. 54, worin Büttner die Frage stellte, ob Ferrutius überhaupt ein Mainzer Märtyrer war oder ob „Teile der Gebeine von Ferrutius aus Besançon nach Mainz überführt und zeitweise auf dem Kasteler Gelände geruht haben“. Vgl. auch ders., Mainz im Mittelalter 3 und 13, dort mit dem Hinweis auf die Gründung Bleidenstadts durch Bischof Lul. Was die Albansverehrung (vgl. hierzu Heinrich Büttner, Zur Albansverehrung im frühen Mittelalter. In: Zschr. f. Schweiz. Gesch. 29 (1949) 1-16) in Mainz angeht, so hatte Erzbischof Richolf, ein bedeutsamer Vertreter der karolingischen Reformbewegung, 787 neben dem vorkarolingischen Bau von St. Alban einen Neubau über dem Märtyrergrab errichten lassen, vgl. Wolfgang Selzer, St. Alban. In: Rabanus Maurus in seiner Zeit 780-1980. Mainz am Rhein 1980. Ausstellungskatalog (Mittelrhein. Landesmus. Mainz.) 99-102, hier 101. St. Alban entwickelte sich in der Folgezeit zu einem der vorrangigen geistigen Zentren am Rhein, vgl. die kurze Übersicht bei Jürgensmeier 42-49; Falck, Mainz 29f. Die Grabschrift des Aureus und der Justina gedr. MGH Poetae Lat. V, Fasz. II 318f. Nr. 70; zur Bestattung des heiligen Bischofs Aureus vgl. Kraus, Christl. Inschriften II Anhang II Nr. 27 u. Ernst Gierlich, Die Grabstätten der rheinischen Bischöfe vor 1200. Mainz 1990 (Quell. u. Abh. z. mittelrh. Kirchengesch. 65.) 150-154.
  9. Eine vergleichbare Reliquienübertragung führte Erzbischof Lul für Hersfeld durch, indem er die Gebeine des hl. Abtes Wigbert von Fritzlar in seine Neugründung bringen ließ, vgl. Jürgensmeier 38.
  10. Tumba läßt auf einen kastenartigen Aufsatz schließen, den man über dem Grab vorzugsweise von Heiligen im Frankenreich zu errichten pflegte, vgl. Braun, Reliquiare 31f. und 36f.
  11. MUB Nr. 250, vgl. Kipke, Bleidenstadt 13f. und Einleitung Kap. 2.3
  12. Vgl. Clemens M.M. Bayer, Zur Entwicklung des Reimes in lateinischen metrischen Inschriften vom Ende des 8. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. In: Arbor amoena comis. 25 Jahre Mittellateinisches Seminar in Bonn 1965-1990. Hrsg. v. Ewald Könsgen. Stuttgart 1990, 113-132, besonders 123f.
  13. Die Dedikation des Sarkophags im Jahre 812 vertrat auch Kraus.

Nachweise

  1. Serarius, Mog. Rer. III 292.
  2. Christoph Brower, Fuldensium antiquitatum libri IV. Antwerpen 1612, 151. -Helwich, Syntagma 430.
  3. Verzeichnisse Bleidenstadt fol. 1v.
  4. Joannis, Rer. Mog. I 186.
  5. Dahl 81f.
  6. AASS Oct. 29 XII 530.
  7. Böhmer/Will, Monumenta Blid. IXf.
  8. MGH Poetae Lat. I 431.
  9. Kraus, Christl. Inschriften II Nr. 271, 1.
  10. Kipke, Bleidenstadt 634.
  11. Knoch, Namenforschung 58.
  12. Silbereisen, Chronik I 18.

Zitierhinweis:
DI 43, Rheingau-Taunus-Kreis, Nr. 2† (Yvonne Monsees), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di043mz05k0000207.