Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 77 Oberwesel, Kath. Pfarrkirche Unserer Lieben Frau um 1450

Beschreibung

Gemaltes dreiteiliges Altarretabel aus Tannenholz mit Spruchinschriften und Namensbeischriften. Im Jahr 1818 erstmals gesichert erwähnt1), ist es heute an der Wand des nördlichen Seitenschiffs befestigt. Die Mitteltafel zeigt Heilige, die sich in einer Flußlandschaft vor punziertem Goldgrund befinden. Gekennzeichnet sind die reich gekleideten Figuren durch ihre Attribute und durch kaum wahrnehmbare Namensbeischriften in den Nimben. Im Zentrum thront die Muttergottes (A) mit dem Kind im Arm. Zu ihrer Rechten sitzt die hl. Agnes (B), zu ihrer Linken die hl. Agatha (C). Neben Agnes steht Johannes der Täufer (D), neben Agatha der hl. Laurentius (E). Über dem Jesuskind flattert ein Spruchband mit dem schwarz auf Weiß gemalten Hexameter (F), ein weiteres beschriftetes - von einem Engel gehalten - über der Muttergottes (G) und ein drittes über der hl. Agatha (H). In den unteren Ecken sind zwei nach innen gelehnte Wappen aufgemalt. Auf der Innenseite des linken Flügels ist die durch die Namensbeischrift (I) bezeichnete hl. Ursula als Schutzmantelheilige dargestellt. Unter ihrem Mantel befindet sich neben einigen heiligen Jungfrauen aus ihrem Gefolge ein reich gekleidetes Ehepaar. Auf der Innenseite des rechten Flügels ist das Martyrium des hl. Achatius und der 10000 Märtyrer von Armenien abgebildet. Über der Szene schwebt Gottvater mit dem beschrifteten Spruchband (K). Die Außenseiten der Flügel nimmt eine inschriftlose Kreuzigungsszene ein. Die in Tempera auf Goldgrund ausgeführte Malerei wurde 1960 gereinigt und in den Jahren 1977 bis 1980 restauriert2).

Maße: H. 119, B. 174 (Mitteltafel), 86 (Seitenflügel), Bu. 3 (A-E, I), 1,5 (F-H), 0,6 (K) cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel, geritzt (A-E, I) bzw. gemalt (F-H, K), mit Versalien.

Thomas G. Tempel (ADW) [1/2]

  1. A

    beata virgo maria mater dei

  2. B

    Sancta angnetaa) virgo

  3. C

    Sancta Agathab)

  4. D

    sanctus Iohannes baptista

  5. E

    Sanctus laurencius

  6. F

    Fructus virgineus / nos trahit numi(n)e flatus

  7. G

    Tociensc) O dulcissima oscularis quociensd) per ave salutaris

  8. H

    Ele) in altissimis nos reple celicis donis

  9. I

    O Sancta vrsula virgo

  10. K

    Estote fortes in bello3) ·

Übersetzung:

Die jungfräuliche Frucht zieht uns durch göttlichen Hauch an sich (F). - So oft küßt du, o Liebreichste, wie oft du durch das Ave gegrüßt wirst (G). - (Gott) im Himmel gib uns deine himmlischen Gaben (H). - Ihr sollt tapfer im Krieg sein (K).

Versmaß: Ein Hexameter (F).

Wappen:
unbekannt4)unbekannt5)

Kommentar

Entgegen der sonst üblichen Technik bei Nimbeninschriften wurden die sorgfältig ausgeführten Buchstaben hier nicht durch negative Punktierung hergestellt, sondern lediglich dünn in den Goldgrund eingeritzt. Die gemalten Inschriften der Spruchbänder weisen gebrauchsschriftliche Versalien auf und zeigen bei p Hastenspaltung bzw. bei l und langem s Hastenverdickung, zudem sind g, h, und r mit einseitig, s mit beidseitig ausgezogenen Zierstrichen versehen. Worttrenner fehlen, die Enden der Spruchbänder sind ornamental gefüllt.

Die Darstellung der hl. Ursula und der erst im 12. Jahrhundert nach dem Vorbild der Thebäischen Legion entstandenen Legende des Martyriums der Zehntausend gehört zu den im Rheinland in Tafel- und Wandmalerei bevorzugten Themen6) des Spätmittelalters. Der Mittelteil mit den um die Muttergottes gruppierten Heiligen entspricht dem im 13./14. Jahrhundert in Italien entwickelten Bildtypus der Sacra Conversazione7) und dürfte mit dem Patrozinium der Liebfrauenkirche zusammenhängen. Die Herkunft der verwendeten Sprüche konnte nur teilweise ermittelt werden. Aufgrund der Wappen8) und der kostbaren Kleidung dürfte das unbekannte Stifterehepaar dem Oberweseler Stadtadel, vielleicht aber auch der bürgerlichen Oberschicht zuzurechnen sein. Der von kunsthistorischer Seite um 1450 angesetzten Datierung des gut erhaltenen Retabels, das einer sonst nicht weiter in Erscheinung getretenen mittelrheinischen Werkstatt9) zugeschrieben wird, steht der epigraphische Befund nicht entgegen.

Textkritischer Apparat

  1. Sic!
  2. Es folgen noch einige buchstabenähnliche Zeichen.
  3. So für Totiens.
  4. So für quotiens.
  5. Sic! Vielleicht ein (sonst ungebräuchliches) Kürzel für die Gottesnamen Elohim bzw. Emanuel.

Anmerkungen

  1. Vgl. Storck, Darstellungen 64.
  2. Vgl. Kdm. 284.
  3. Beginn einer zum Magnificat gehörenden Antiphon, die bei gemeinsamen Heiligenmessen (speziell Märtyrer und Jungfrauen) Verwendung findet; vgl. den Nachweis und vollständigen Text bei Schmetz, Vesperbuch 89.
  4. Linksgewendet. Ein mit Hermelinschwänzchen belegter Wechselzinnenbalken, rechts oben begleitet von einem sechsstrahligen Stern.
  5. Längsgeschindelt, überdeckt von einem senkrecht gestellten, gestümmelter Ast.
  6. Dort erstmals Ende des 13. Jh. in Boppard nachweisbar (Nr. 16); vgl. dazu Kimpel, Achatius 16ff. und Kdm. 285f.
  7. Vgl. dazu Red., Sacra Conversazione 4f.
  8. Ob die heute im Kreuzgang von Liebfrauen liegende, einen wechselgezinnten Balken (ohne Beizeichen) aufweisende Grabplatte eines unbekannten Adeligen (vgl. Nr. 32) derselben Familie angehört, bleibt offen.
  9. Vgl. dazu Stange und Kdm.

Nachweise

  1. Stange, Tafelbilder 2, Nr. 451 (F-H).
  2. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.2, 284ff. mit Abb. 164f.
  3. Schwarz, Kirche, Abb. S.18f.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 77 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0007702.