Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 23 Boppard, Städtisches Museum (aus St. Severus) vor 1327

Beschreibung

Maßgefäß (sogenannter Bopparder Sömmer) mit Rechts- und Stifterinschrift. Aufgefunden bei Aufräumungsarbeiten im Jahr 1864 im zweiten Geschoß des Nordturms von St. Severus1), wurde er zunächst im Pfarrarchiv verwahrt und um 1930 dem Städtischen Museum als Dauerleihgabe überlassen (Inv.-Nr. A 9/34). Rundes Hohlgefäß aus Bronze mit zwei oben wie unten abgeschrägten, außen geschuppten Griffen und drei als Tiertatzen gebildeten Füßen, die mit einem kleinen dünnen Steg in den Gefäßkörper hineinragen. Dieser wurde zunächst durch einen aufgesetzten höheren, dann durch einen zweiten niedrigeren Reifen erweitert2). Die erhabene Inschrift beginnt im unteren Bereich vor einem der Henkel, umläuft einmal das Gefäß und setzt sich oberhalb der ersten in einer zweiten Zeile fort. Über die glatte Außenwand des Gefäßes sind vier kleine Adlerwappen verteilt, eines davon kennzeichnet den Textbeginn.

Maße: H. 23 bzw. 19,5 (ohne Füße), Dm. 44, Bu. 2,2-2,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel, erhaben.

Bild zur Katalognummer 23: sogenannter Bopparder Sömmer

Thomas G. Tempel (GDKE Denkmalpflege) [1/1]

  1. · V(M)MEa) · EIN · RECHTE · BESHEDIEITb) · SO · VORDI(N)c) · DVSSEd) · SV(M)MERI(N)ac) · BEREIT · V(M)MEa) · / RECHTE · SACHGEe) · SO · DADI(N)c) · MIRSEf) · MACHI(N)c) ·

Übersetzung:

Um des rechten Bescheidwissens3) willen, wurden diese Sömmer hergestellt; um eines gerechten Urteils im Streitfall4) willen, haben wir sie machen lassen5).

Versmaß: Deutsche Reimverse.

Wappen:
Stadt Boppard6)

Kommentar

Die Herstellung der Schrift auf Maßgefäßen dieser Art erfolgte vermutlich in der Technik des durch den Glockenguß bekannten Wachsausschmelzverfahrens7): Die jeweiligen Buchstaben wurden in Alphabetmodeln aus Wachs geformt und einzeln auf der künftigen Außenseite angebracht - auch so erklärt sich hier vorliegende, auffällig unregelmäßige Anordnung der Buchstabenabfolge. Die variantenlos gestaltete gotische Majuskel (flachgedecktes, trapezförmiges A mit geknicktem Mittelbalken, B mit breiten Bögen, gerundetes unziales M mit Abschlußstrich, G und H unzial, N und T gerundet) zeigt neben der deutlichen Tendenz zur Abschließung einzelner Buchstaben (C, E, M) mit kräftigen Abschlußstrichen8) bis auf das T noch eher verhalten ausgebildete Schwellungen. An Zierformen erscheint lediglich I mit Nodus. Als Worttrenner und Kürzungszeichen dienen halbkugelig erhabene Punkte. Insgesamt weisen die Schriftformen in die zweite bis vierte Dekade des 14. Jahrhunderts9).

Ohne eingehenden Vergleich10) mit der sonstigen spätmittelhochdeutschen Textüberlieferung in der 2. Hälfte des 13. und der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts kann hinsichtlich der ungewöhnlichen sprachlichen Gestalt der Inschrift nur soviel angemerkt werden, daß sie dem Westmitteldeutschen11) bzw. mit Vorbehalt dem Moselfränkischen zugeordnet werden kann. Das gilt für die Schreibung von SH statt SCH, von V statt W und für CHG in SACHGE, eine Schreibung, die große Unsicherheit im Bereich ch/g verrät. Zudem dürften die merkwürdige Vokalität einiger Wortenden12) und der sicherlich beabsichtigte, aber nicht eindeutig durchgeführte Reim weniger als Ausdruck sprachlandschaftlicher Besonderheiten gelten, sondern eher auf einen schreibungeübten Verfertiger schließen lassen. Die Inschrift gehört mit zu den frühesten Zeugnissen deutschsprachiger Quellen13), die am Mittelrhein zu Beginn des 14. Jahrhunderts allmählich einsetzen: Für Boppard und Oberwesel ist die erste im Original erhaltene Urkunde dieser Art jeweils für das Jahr 1334 belegt.

Die in der Inschrift genannte Bezeichnung14) SVMMERIN (Simmer, Sömmer, Sümmer) meint in Mittelalter und früher Neuzeit sowohl das Maßgefäß als auch die Maßeinheit. Da Boppard in reichsstädtischer und auch noch in Trierer Zeit über eigene Währung und eigenes Maß15) verfügte, sind die inschriftlich ungenannt bleibenden Auftraggeber des Sömmers unschwer mit den damaligen Vertretern der Obrigkeit zu identifizieren, die die Aufsicht und Kontrolle über Maße und Gewichte ausübten. Die mehrfache Anbringung des Stadtwappens beglaubigte zudem die Gültigkeit des Maßes. Wie sein kürzlich in Bonn aufgefundenes Gegenstück16) - durch diesen Fund wurde die bislang nicht erkannte inschriftliche Anspielung auf mehrere Maßgefäße erst verständlich - diente auch der Bopparder Sömmer wohl zum Messen von Getreide17) und faßte zunächst 22,25 Liter, nach den beiden Erweiterungen18) etwa 26,5 Liter19). Noch nicht geklärt werden konnte, ob es sich bei den beiden Sömmern um städtische Eich- oder um Gebrauchsmaße20) gehandelt hat. Die in verständlicher Volkssprache ausgeführte, in doppelter Weise Rechtssicherheit garantierende Inschrift und die hinzugesetzten Stadtwappen sprächen für die erste, die fehlende Exklusivität eher für die zweite Möglichkeit.

Überraschenderweise führt ein drittes, vor 1945 im Berliner Schloßmuseum nachgewiesenes Bopparder Maßgefäß21) auf die Spur eines Gießers MAGISTER JOHANNES DE CONFLVENTIA und erklärt die hier vorgenommene nähere Datierung des Bopparder wie des Bonner Sömmers in die herrschaftsmäßig noch unentschiedene, reichsstädtisch-trierische Zeit Boppards vor 1327.

Textkritischer Apparat

  1. V mit überschriebenem halbkugelig erhabenem Punkt, hier analog zu I (vgl. Anm. c) als Kürzungszeichen für M verwendet.
  2. BESHEDIET Kdm.
  3. I mit überschriebenem halbkugelig erhabenem Punkt, hier als Kürzungszeichen für N verwendet; freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Manfred Huiskes, Köln, Brief vom 2. Mai 1999.
  4. V mit überschriebenem kleinem Ring. - DÜSSE Kdm.
  5. SACHTE Kdm.
  6. So für MIR SE.

Anmerkungen

  1. So Nick mit genauer Beschreibung des Fundes. - Möglicherweise hängt der Fundort mit der früheren Verwendung dieses Raumes als (vermutliches) Archiv der Stadt Boppard zusammen; jedenfalls wurde dort die Stadtkasse mit dem Bargeld verwahrt; vgl. dazu Pauly, Stifte 19 und 71.
  2. Sie sind durch hochrechteckige kleine Bronzeblöcke an der Außenwand befestigt.
  3. Das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache 1 (1994) 202f. gibt "beschaidenheit, bescheidenheit" u. a. mit den vom heutigen Sprachgebrauch abweichenden Bedeutungen wie "Verständigkeit, Einsicht, Urteilsvermögen, Ermessen" wieder.
  4. Laut Lexer 174 bedeutet mittelhochdeutsch "sache" ebenfalls abweichend vom heutigen Sprachgebrauch u. a. "Streitsache, Rechtshandel, Klage".
  5. Die Inschrift wurde bisher - wohl wegen der nicht erkannten, eindeutigen Pluralbildung MIR SE - stets im Singular "frei" übersetzt und zudem als "dem Dialekte Boppards fremd" bzw. als "mundartlicher Spruch" charakterisiert. - Herrn Dr. Wolf-Dietrich Zernecke, Mainz, danke ich für weiterführende Hinweise zur Sprachgestalt der Inschrift.
  6. Einköpfiger Reichsadler.
  7. Vgl. dazu Theuerkauff-Liederwald, Bronzegefäße 13f.
  8. Zumindest auf Glocken läßt sich das Bemühen zur vollständig durchgeführten Abschließung der Majuskeln eher für die zweite Hälfte des 14. Jh. nachweisen; vgl. dazu DI 49 (Darmstadt-Dieburg) Nrr.16f.
  9. Die bisher ausdrücklich mit Verweis auf die Schrift vorgenommenen Frühdatierungen von Nick (12. Jh. und früher), Mötsch/Heyen (letztes Viertel 13. Jh.), Meyer (Ende 13. Jh.) und zuletzt Volk (12. bis ausgehendes 13. Jh.) sind daher auszuschließen.
  10. Das Folgende verdanke ich den freundlichen Hinweisen von Herrn Prof. Dr. Werner Besch, Bonn, Brief vom 29. September 1997.
  11. Vgl. dazu auch Schützeichel, Grundlagen 183ff.
  12. Hier stellt sich die Frage, ob die vokalische Erhöhung des e zu i als Unvermögen des Inschriften-Verfassers oder als dialektale Besonderheit zu werten ist. Dabei sollte allerdings die aus deutschsprachigen mittelrheinischen Urkunden des 13. bis 16. Jh. gewonnene Beobachtung berücksichtigt werden, wonach "Vokalerhöhung ... in der Urkundensprache offenbar als besonders grobmundartlich gemieden" (Schützeichel, Mundart 69) wurde.
  13. Vgl. dazu Schützeichel, Mundart 34ff. und Halfer, Flurnamen 295f.
  14. Vgl. zum Folgenden Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 10.1 (1942) Sp. 1059f. und 1075ff. - Die spätmittelhochdeutsche Form im nördlichen Süddeutschland hieße dagegen "Simri"; vgl. dazu Kleiber, Wortgeographie 160f. Beide Varianten gehen nach Kluge, Etymologisches Wörterbuch 708f. auf althochdeutsch "sumbir, sumbrin", mittelhochdeutsch "sümber, sümbrin" (aus Stroh geflochtener Korb) zurück.
  15. Vgl. dazu Volk 113ff. und 243ff. sowie die urkundlichen Belege bei Nick für die Jahre 1270 und 1340.
  16. Vgl. dazu Nikitsch, Maß pass. und die folgende Nr.
  17. Theuerkauff-Liederwald 60 bezeichnet den Sömmer ohne weitere Begründung als Salzmaß.
  18. Zeitpunkt und Grund der beiden Maßänderungen sind unbekannt. Da Umstellungen dieser Art oft bei Herrschaftswechseln vorgenommen wurden (vgl. dazu das Kirchberger Beispiel von 1437 bei Mötsch, Maß 145), könnten sie mit der sich stabilisierenden bzw. endgültigen Herrschaft Kurtriers über Boppard nach den verlorenen Kämpfen von 1497 bzw. 1501 zusammenhängen.
  19. Angaben nach Mötsch/Heyen. - Noch 1836 faßte ein Bopparder Sömmer 26 Liter, ein Sömmer im benachbarten Koblenz dagegen nur 24,046 Liter; vgl. dazu König, Inventarversteigerung 540 und Verdenhalven, Alte Meß- und Währungssysteme 54.
  20. In vergleichbaren Inschriften werden die jeweiligen Bezüge zur Stadt deutlicher spürbar, so auf einem Wormser Ölmaß von 1278 HEC EST MENSVRA OLEI QVARTALIS CIVIM WORMATIENSIVM; vgl. DI 29 (Stadt Worms) Nrr. 49f. und auf einem Lübecker Scheffel des 14. Jh. DIT IS DES STADES ROGEN SCHEPEL; vgl. Boockmann, Stadt Nr. 217 mit Abb. S. 139.
  21. Vgl. dazu und zur Meisterfrage ausführlich Nr. 25.

Nachweise

  1. Nick, Aus Boppard 273.
  2. Kubach/Verbeek, Denkmälerinventar I 210.
  3. Pauly, Boppard, Abb. S. 38.
  4. Meyer, Bronzen 107 mit Abb. 2.
  5. Mötsch/Heyen, Balduin von Luxemburg 123 mit Abb.
  6. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.1, 420 mit Abb. 305.
  7. Theuerkauff-Liederwald, Bronzegefäße 491 mit Abb. 7 S. 122.
  8. Volk, Boppard, Abb. S. 245.
  9. Nikitsch, Maß, Abb. S. 93.
  10. Nikitsch, Sömmer, Abb. S. 12.
  11. Koelges, Altertumssammlung, Abb. S. 76.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 23 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0002305.