Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 4 Boppard, Kath. Pfarrkirche St. Severus 5.-1.H.6.Jh.?

Beschreibung

Grabstein der Nomidia. Bereits im Jahr 1896 "in der Nähe des alten Friedhofs"1) aufgefunden, wurde er - lange Zeit unbeachtet - im Bopparder Heimatmuseum2) verwahrt und später innen an der Westwand von St. Severus angebracht. Hochrechteckige Platte aus Kalkstein mit erhabenem Rand, in der oberen Hälfte des Feldes achtzeiliges Totengedicht zwischen Linien, mittig darunter ein großes lateinisches Kreuz. Randleisten bestoßen, im Feld leichte Schriftverluste durch Hau- und Kratzspuren, rechts unter der letzten Zeile ein Loch.

Maße: H. 56, B. 45, Bu. 2 cm.

Schriftart(en): Vorkarolingische Kapitalis, Typ 1 (Spätrömisch-christliche Schrift).

Bild zur Katalognummer 4: Grabstein der Gallo-Romanin Nomidia

Thomas G. Tempel (ADW) [1/1]

  1. CVM PROVITATE PODRa) CA/STAS QEb) FEMINAS ORNATc) HIC TE PRECEL[S]I DECO/RAT NOMIDIA LAVRVSd) P[OS]T OBITVM MERITIS / N[O]N MORIREe) TVIS AGRIPINA SOROR TETO/[LO] S[O]LACIA SIGNAT

Übersetzung:

Die mit Züchtigkeit verbundene Rechtschaffenheit, welche die reinen Frauen auszeichnet, schmückt dich hier, Nomidia, als Lorbeerkranz des Allerhöchsten. Durch deine Verdienste stirbst du nach dem Tod nicht. Die Schwester Agrip(p)ina bringt durch die Inschrift ihren Trost zum Ausdruck.

Versmaß: Ein Hexameter, ein Distichon, ein Hexameter.

Kommentar

Die flach in einheitlicher Strichstärke und in scriptura continua ausgeführte Inschrift zeigt spitzes A sowohl mit klassisch geradem, links- bzw. rechtsschrägem sowie auch einmal mit fehlendem Mittelbalken, dazu halbunziales B, E mit stark verkürzten Balken, G (vermutlich) mit kleiner, linksschräger Cauda, L mit linksschräg nach unten gerichtetem Balken, M und N mit eingezogenem Mittelteil, offenes P, Q mit gerader Cauda und offenes R mit langer gerader Cauda. Soweit erkennbar, laufen die Enden der zum Teil sehr breit angelegten Buchstaben in dreiecksförmig gestaltete Serifen aus. O und Q sind in deutlich kleinerer Schreibweise ausgeführt.

Die vom klassischen Latein abweichenden Formen PROVITATE statt PROBITATE, PODOR statt PVDOR, QVAE statt QVI, PRECELSI statt PRAECELSI, TETOLO statt TITVLO und die Namensform NOMIDIA für NVMIDIA bzw. AGRIPINA für AGRIPPINA sind so oder ähnlich auch in anderen frühchristlichen Inschriften des Rheinlands3) belegt. Während der Name Agrip(p)ina häufiger bezeugt ist, läßt sich Numidia nur noch dreimal in christlichen Inschriften nachweisen, in der vorliegenden Form sogar überhaupt nicht mehr. Da die Grabinschrift für Nomidia aufgrund ihrer metrischen Form eine Sonderstellung einnimmt, ist es nachvollziehbar, daß sich für die einzelnen Formularteile keine genauen inschriftlichen Parallelen anführen lassen. Auch einzelne Begriffe wie PRAECELSVS, LAVRVS und POST OBITVM sind in dem hier gebrauchten Sinn in frühchristlichen Inschriften nicht mehr bezeugt. Andererseits finden sich im Wortbestand auch Anklänge an traditionelle Bestandteile des Totenlobs: So gelten etwa probitas, pudor und castitas als Haupttugenden der Frauen und werden daher in unterschiedlichen Kombinationen - auch mit anderen Tugenden - in paganen wie christlichen Grabgedichten zum Lobe verstorbener Ehefrauen verwendet. Das lateinische Kreuz und der inschriftlich formulierte Gedanke, daß die hinterbliebene Schwester Trost aus dem durch ihre Verdienste gewährleisteten Fortleben der Toten zieht4), weisen Nomidia und Agrip(p)ina als Christinnen aus, die aufgrund ihrer Namen5) der gallo-romanischen Bevölkerung Boppards angehört haben. Auffällig bleibt der Gegensatz zwischen dem metrisch nahezu fehlerfrei gebauten Text und der epigraphisch mäßigen Ausführung.

Während der Ersteditor den Nomidia-Stein zeitlich nicht einordnete6) und Pauly eine Datierung ins "8. oder 9. Jahrhundert"7) vorschlug, datierte ihn Boppert unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach erst spät auftretende Kreuzesform und die vom rheinfränkischen Typ abweichenden Buchstabenformen "nicht vor dem 8. Jh." und stellte die Frage, ob bereits zu dieser Zeit "die besonderen Kennzeichen der merowingischen Schrift zugunsten einer ausgewogenen karolingischen (?) Monumentalschrift aufgegeben worden waren"8). Ohne diese sehr späten Datierungen9) ganz ausschließen zu wollen, sei darauf hingewiesen, daß die vorliegende Schrift - etwa im Gegensatz zu Trierer Grabsteinen des 7. und 8. Jahrhunderts10) - wohl kaum als ausgewogen zu bezeichnen ist, daß das lateinische Kreuz mit den dreiecksförmig auslaufenden Enden bereits auf dem früh zu datierenden Bopparder Grabstein für Besontio und Justiciola11) bezeugt ist und daß der fränkische Schrifttyp12) mit seinen eckigen Buchstaben und Schaftverlängerungen immerhin auf der Hälfte der Bopparder Steine ebenfalls nicht nachzuweisen ist. Zudem ist mit einem Auftreten der karolingischen Kapitalis in Lapidarschriften im Mittelrheingebiet theoretisch und praktisch nicht vor dem Beginn des 9. Jahrhunderts zu rechnen. Da der Nomidia-Stein mit seinem erhabenen Rand das gleiche äußere Merkmal wie zwei der älteren Bopparder Grabsteine13) und mit den gallo-romanischen Namensformen und dem lateinischen Kreuz weitere übereinstimmende Elemente mit dieser Gruppe aufweist, spricht letztlich nichts dafür, die Spätdatierung14) von Pauly und Boppert beizubehalten.

Textkritischer Apparat

  1. So für PODOR statt PVDOR.
  2. So für Q(V)AE statt QVI.
  3. Schaft des T über den Deckbalken hinaus verlängert, damit möglicherweise bewußt dem christlichen Kreuzeszeichen angeglichen.
  4. AV über dem Balken des L.
  5. mori[e]re Egger. - Zwischen I und R befindet sich eine (alte?) Beschädigung, Buchstabenspuren sind nicht zu erkennen.

Anmerkungen

  1. So Egger 155 vermutlich aufgrund eines Eintrages in einer (mir nicht zugänglichen) Karteikarte des Museums. - Vgl. zum Problem der zahlreichen Bopparder Gräberfelder Einleitung Kap. 4.1.1.
  2. Vgl. zur Geschichte Koelges, Altertumssammlung pass.
  3. Vgl. dazu und zum Folgenden Egger 156 und die Zusammenstellungen bei Boppert 136f. - Im Rahmen der romanischen Sprachgeschichte gesehen handelt es sich bei quae statt qui um das Einheitsrelativum, bei p statt pp um Konsonantenvereinfachung, bei v statt b um Sonorisierung sowie bei o statt u und e statt i um Senkungen (freundlicher Hinweis von Herrn Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken, vom 11. Juli 2001).
  4. Vgl. dazu den ebenfalls mit einer metrischen Inschrift in ähnlicher Thematik (EGREGIIS CAELVM MERITIS NON POSSE NEGARI) abgefaßten Trierer Auspicius-Stein, den Gauthier, Recueil I, Nr. 106 letztlich in die 2. H. 5. Jh. datiert.
  5. Der Name Nomidia (Ableitung zu lat. numida 'Numidier, Nomade') gehört in römischem Zusammenhang zu den herkunftsanzeigenden ethnischen und geographischen Cognomina (nordafrikanische Provinz Numidien) und ist in christlichen Inschriften nur vereinzelt in der männlichen Form nachzuweisen; vgl. dazu Merten, Katalog 45 (Trierer Numidius-Stein, 1. H. 5. Jh.) und Haubrichs, Romanen 388 mit Anm. 83.
  6. Egger 158 datierte eine bestimmte Anzahl der von ihm behandelten frühchristlichen Grabsteine (nicht den Nomidia-Stein) summarisch ins 6. Jh., "die übrigen mögen teils gleichzeitig, teils dem 8. Jahrhundert ... zuzurechnen sein".
  7. Pauly, Pfarrorganisation 130. - Die dazu passende Bopparder Bevölkerung charakterisierte Pauly, Siedlung 121 als "eine, wenn auch nur mehr kleine Gruppe Galloromanen (...), die eine in Hexametern abgefaßte Grabinschrift lesen konnte und verstand".
  8. Beide Zitate Boppert 137.
  9. Noch in der jüngsten Publikation von Wegner wird die Inschrift "8. Jahrhundert oder etwas später" datiert.
  10. Vgl. dazu etwa die von Gauthier, Recueil I ins 7. und 8. Jh. datierten Trierer Grabsteine des Ludubertus (Nr. 29 A) bzw. Modoaldus (Nr. 147).
  11. Vgl. dazu Nr. 2. - Zudem ist diese Kreuzesform auch auf Trierer Grabsteinen des 5. bis 7. Jh. nachzuweisen; vgl. dazu Gauthier, Recueil I, Nrr. 63, 107, 109.
  12. Vgl. dazu Bauer, Epigraphik 12ff.
  13. Vgl. Nrr. 1 und 3.
  14. Ohne rezipiert zu werden, hatte bereits Staab, Untersuchungen 29 Anm. 115 die Spätdatierung von Boppert aus ähnlichen Gründen abgelehnt und als Datierung Anfang des 6. Jh. vorgeschlagen.

Nachweise

  1. Egger, Grabsteine 155 mit Nachzeichnung Abb. 8 und Abb. Taf. 12.
  2. Pauly, Geschichte 1, 9 mit Abb. 7.
  3. Boppert, Inschriften 135 mit Abb. S. 134.
  4. Pauly, St. Severus 18 mit Abb.
  5. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.1, 416.
  6. Neumayer, Grabfunde 170.
  7. Wegner, Denkmäler 759.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 4 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0000409.