Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 239† St. Goar, ehem. Gasthof Zur Lilie weit vor 1591

Beschreibung

Silberbecher mit Stiftungs- und Gedenkinschrift. 1758 erstmals kopial überliefert, läßt er sich bis 1870 im Gasthof Zur Lilie in St. Goar nachweisen1), seitdem verschollen. Traditionell als Geschenk Karls des Großen betrachtet, war der "älteste und schönste Hanse=Becher" mit einer vermutlich vierzeiligen Inschrift und den "in getriebener Arbeit" ausgeführten Bildnissen des Kaisers und seiner beiden Söhne Karl und Pippin geschmückt2).

Nach Knoch.

  1. Ex fundatione divi Augusti Imperatoris Caroli Magni in memoriam reconciliationis filiorum suorum Caroli et Pipini

Übersetzung:

Aus der Stiftung des göttlichen Augustus und Kaisers Karls des Großen zum Gedenken an die Aussöhnung seiner beiden Söhne Karl und Pippin.

Kommentar

Obwohl weder die Inschrift noch die Gestaltung des Bechers einen direkten Zusammenhang mit dem seit "undenkbaren Zeiten" bestehenden "Hanß=, Bursch= oder Halsband= Orden" zu St. Goar3) erkennen lassen, wird dieser stets mit der Aufnahmezeremonie des Ordens in Verbindung gebracht. Ursprünglich wohl im Spätmittelalter als Zunft einheimischer Kauf- und Handelsleute gegründet, änderten sich seine späteren Statuten dahingehend, daß jeder auswärtige Händler, der die Wochen- und Jahrmärkte in St. Goar beschicken wollte, Mitglied dieser Vereinigung werden mußte. Merkwürdigerweise wurde diese Vorschrift zu unbekanntem Zeitpunkt auf alle durch St. Goar Reisenden "ohne Unterschied des Standes" sowie auf alle höheren Militärs der Festung Rheinfels4) ausgedehnt. Die Zeremonie5) ging folgendermaßen vor sich: Man führte den Aufzunehmenden an das Zollhaus zu St. Goar, legte ihm dort ein Halsband aus Messing an und stellte ihm die Frage, ob er durch die Taufe mit Wasser oder Wein in den Orden aufgenommen werden wolle. Wählte er Wasser, so wurde ihm ein Eimer Wasser über den Kopf gegossen6), wählte er Wein, so wurde die Zeremonie im benachbarten Gasthaus Zur Lilie weitergeführt. Nach einer Spende für die Armen erhielt der Kandidat eine Krone aus Messing aufgesetzt und den "große(n) Hanse=Becher mit gutem Rheinwein" gereicht. Es wurden ihm die Statuten des Ordens vorgelesen, worauf er den Becher viermal "auf das Wohl Karls des Großen, der Königin von England, des Landgrafen von Hessen und der anwesenden Gesellschaft" austrank. Damit war er aufgenommen und konnte im Matrikelbuch7) des Ordens verzeichnet werden.

Da erst im Jahr 1591 ein zweiter Hansenbecher und 1683 ein dritter Hansenbecher8) gestiftet wurden, liegt die Vermutung nahe, daß zumindest bis 1591 für die Wein-Zeremonie der Becher des im Trinkspruch an erster Stelle genannten Stifters verwendet wurde. Die in der Inschrift thematisierte Stiftung Karls des Großen könnte zudem historische Wurzeln haben. Der Prümer Mönch Wandalbert berichtet in seinen im Jahr 839 verfaßten "Miracula s. Goaris" von einer 20 Pfund Silber umfassenden Stiftung Karls des Großen für die Kapelle des hl. Goar, die er anläßlich der dort stattgefundenen Versöhnung seiner beiden Söhne Karl d. J. und Pippin getätigt habe9). Vermutlich stellt dies die Quelle der Überlieferung dar, wonach der Becher und auch das ehemals silberne Halsband am Zollhaus auf diese Stiftung zurückzuführen seien.

Sowohl das in der Inschrift verwendete Epitheton divus als auch die Erwähnung der wohl erhaben gearbeiteten Bildnisse des Kaisers und seiner Söhne lassen darauf schließen, daß der verschollene Hansenbecher als Produkt der Renaissance anzusehen sein dürfte. Der Verfasser der Inschrift könnte seine Kenntnis des Textes aus im St. Goarer Stiftsarchiv verwahrten Abschriften der Vita des hl. Goar bezogen haben, zudem wurden die Schriften Wandalberts bereits im Jahr 1489 von Johann Gyse zu Mainz im Druck veröffentlicht.

Anmerkungen

  1. So Hungenberg.
  2. So Grebel, Rheinfels 355.
  3. "Hansen" meint ursprünglich das gewaltsame Vorgehen einheimischer gegen unrechtmäßig handelnde auswärtige Kaufleute; vgl. dazu Hungenberg 330 (mit dem Beispiel eines entsprechenden Kölner Privilegs von 1259) und zum Folgenden Knoch, Abhandlung mit dem Kenntnisstand Mitte des 18. Jh. sowie zuletzt Hungenberg, Vom "Hansen" pass. - Eine umfassende Arbeit über diesen heutzutage wieder aktiven "Hansenorden" steht noch aus.
  4. Bei der feierlichen Aufnahme des ersten landgräflich-hessischen Kommandanten der Burg Rheinfels im Jahr 1480 wird dies bereits als "uralter Brauch" bezeichnet; vgl. Grebel, St. Goar 327.
  5. Vgl. dazu ausführlich Grebel, St. Goar 323ff. mit Schilderung der wohl im 18./19. Jh. üblichen Gebräuche - Nach Hungenberg 331f. spielte in früheren Zeiten die Verpflichtung des Aufzunehmenden auf die Statuten der Vereinigung eine weitaus größere Rolle. Vgl. zu einer bereits 1587 von dem Niederländer Arnold Buchelius beschriebenen Variante dieser Zeremonie Knab, St. Goar 202.
  6. Genau dieser Moment ist in einem 1668 angefertigten Kupferstich festgehalten; vgl. Hungenberg mit Abb. 2. Dieser Stich schmückt seit 1978 alle Titelblätter des zu St. Goar erscheinenden Hansen-Blattes.
  7. Die Matrikelbücher der Jahre 1627 bis (mit Lücken) 1870 haben sich erhalten (vgl. dazu auch die folgende Nr. mit Anm. 70) und befinden sich auf Schloß Rheinfels im Archiv des Hansenordens e. V.
  8. Vgl. dazu die folgende Nr. und Nr. 440. - Bis in jüngster Zeit galt der Becher von 1591 als Stiftung des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz und seiner Frau Elisabeth, der Tochter König Jakobs I. von England.
  9. Vgl. dazu Holder-Egger (Hg.), Miracula 366. - Ob dieses anderweitig nicht bezeugte Treffen (samt der Stiftung) tatsächlich stattgefunden hat, bleibt offen; Böhmer, Regesta Imperii I 513 a und Simson, Jahrbücher 2, 475 Anm. 3 äußern zumindest hinsichtlich des Itinerars keine Bedenken.

Nachweise

  1. Knoch, Abhandlung § 12.
  2. Grebel, Rheinfels 355.
  3. Grebel, St. Goar 326.
  4. Rhein. Antiquarius II 7, 266.
  5. Heyl, Hansel-Orden pass.
  6. Hungenberg, Vom "Hansen" 333.
  7. Betrachtungen 5.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 239† (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0023904.