Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 160† Boppard, ehem. Franziskanerinnen-Kloster St. Martin 1516

Beschreibung

Gedenkinschrift über die Auffindung vermeintlicher Märtyrergräber im Jahre 1280 bei St. Martin mit zwei zugehörigen Reliquienbeischriften. Die 1516 von dem Bopparder Priester und Humanisten Johannes Flaming in acht lateinischen Distichen verfaßte, um 1640 erstmals in einer deutschen Übersetzung und 1647 nach dem Original überlieferte Gedenkinschrift (I)1) befand sich auf einer Tafel, die "auff der lincken Seiten der Kirchen zu St. Martin"2) aufgehängt war und vermutlich im Zusammenhang mit dem Neubau der Klosterkirche nach 1765 verlorenging. Die zugehörigen Reliquien wurden im Altarbereich aufbewahrt, namentlich bezeichnet waren das Märtyrerwerkzeug (II) und ein Märtyrerhaupt (III).

Nach Crombach.

  1. I

    EPIGRAMMA AD PIVM LECTOREM HVIVS CARMINIS Ioannis Flamingi Boniportuensia)

    Multus in hoc quondam Christi pro nomine sanguis Sanctorum effusus creditur esse loco Plura beatorum sunt corpora sancta reperta Sub terra multos quae latuere dies Inventumque fuit Latiisb) epigramma figuris Insculptum saxo quod posuere pii Ensis et appositus fuerat quo caesa feruntur Corpora sanctorum quando tulere necem Propterea hanc sacram quicunqueb) intraveris aedem Dic precor aetheria luce fruatur Iuo Quem coelestis amor pietas ac sancta coegit In Christi laudem hunc sic reparare locum Qui modo neglectus senio foret atque iaceret Si pius hunc iterum non renouasset Iuo Sic igitur longos locus hic veneratur in annos Vnde deo laudes perpetuumque decus

    An(no) 1516

  2. II

    Hic est gladius qui cum his Martyribus inuentus est

  3. III

    Hoc est caput Martyris cum gladio repertum

Übersetzung:

(I) Epigramm an den frommem Leser dieses von dem Bopparder Johannes Flaming (verfaßten) Gedichtes. - Man glaubt, daß einst an diesem Ort für den Namen Christi viel Blut der Heiligen vergossen worden ist. Eine größere Anzahl heiliger Leiber von Seligen wurde unter der Erde gefunden, die dort lange verborgen lagen. Und eine Inschrift wurde gefunden, in lateinischer Sprache in Stein eingehauen, den Fromme gesetzt haben. Und ein Schwert lag dabei, mit dem die Leiber der Heiligen niedergehauen und geschlagen wurden, als sie den Tod erlitten. Wer du auch immer sein magst, der deswegen diesen heiligen Tempel betritt, sprich, ich bitte dich, Ivo erfreue sich am himmlischen Licht. Ihn haben himmlische Liebe und heilige Frömmigkeit veranlaßt, diesen Ort zu Ehren Christi so zu erneuern. Er wäre noch vernachlässigt und läge durch sein Alter in Trümmern, wenn der fromme Ivo ihn nicht wiederum erneuert hätte. So wird dieser Ort wiederum viele Jahre verehrt werden, wodurch Gott Lob und ewiger Ruhm sei. Im Jahr 1516. - (II) Hier ist das Schwert, das zusammen mit diesen Märtyrern aufgefunden worden ist. - (III) Das ist das Haupt des Märtyrers, das zusammen mit dem Schwert zum Vorschein gekommen ist.

Versmaß: Acht Distichen.

Kommentar

Bei dem Verfasser dieser merkwürdigen Inschrift handelt es sich um den gelehrten Bopparder Priester Johannes Flaming (Flaminius)3), der spätestens von 1511 an bis zu seinem Tod 1532 den Franziskanerinnen als Hausgeistlicher und Beichtvater diente. Seine "Anno 1516 gemacht(en) Verß"4) beziehen sich zweifelsohne auf ein in Boppard gut bekanntes Ereignis5) aus dem Jahr 1280, das - durch eine noch im gleichen Jahr ausgestellte Urkunde zuverlässig bezeugt - für das spätere Franziskanerinnen-Kloster von großer Bedeutung war. Dieser Urkunde6) zufolge wurden bei Bauarbeiten im Bereich der alten, vor den Mauern der Stadt gelegenen Martinskapelle "multa corpora ... in sarcophago" gefunden, die durch gewisse Verletzungsspuren und ein ebendort entdecktes Schwert von den Zeitgenossen eindeutig als Märtyrer identifiziert werden konnten. Dies umso mehr, als dieser Ort Bopparder Pilgern durch eine frühere Vision bereits als Ruheplatz zahlreicher Heiliger angekündigt worden war. Durch einen zur gleichen Zeit an gleicher Stelle "sub terra" aufgefundenen Stein mit eingehauener Jahreszahl konnte sogar das Jahr ihres Martyriums bestimmt werden: "anno dominicae Incarnationis 142".

Da die angeblichen Märtyrergebeine samt dem Schwert erhoben und in der Martinskapelle als Reliquien präsentiert wurden, entwickelte sie sich zu einer beliebten Wallfahrtsstätte, die zunächst von Beginen, dann etwa ab der Mitte des 15. Jahrhunderts von Franziskanerinnen betreut wurde. Mit dem Wirken des Klostergeistlichen und Humanisten Johannes Flaming Anfang des 16. Jahrhunderts erhielt die Reliquienverehrung in St. Martin offensichtlich einen neuen Aufschwung: Er faßte die wundersamen Vorkommnisse in für alle sichtbare lateinische Verse und dürfte auch für die Beschriftung der beiden Hauptreliquien gesorgt haben. Jedoch erst die (diese älteren Inschriften rezipierende) Klosterchronik von 1640 berichtet Näheres von den verehrten Reliquien7): von dem als Zeichen des Martyriums der Toten dienenden Schwert, daß es "gantz vor Altertumb verrostet" und von einem durch einen Schwerthieb getroffenen Haupt, daß es laut inschriftlich festgehaltener Nachricht "bey dem Schwert vnder der Erden gefunden". Daneben werden elf namentlich bezeichnete und vier weitere unbezeichnete Häupter sowie beigefügte Teile von Gebeinen erwähnt. Die im Jahr 17488) vollkommen neu mit barocken Hüllen und Namensinschriften versehenen Reliquien wurden nach der Aufhebung des Klosters 1803 zunächst in der Sakristei des Karmeliterklosters verwahrt, bis sie später in die Pfarrkirche St. Severus überführt wurden, wo sie seit 1879 in einem eigens angefertigten, an der Südseite des Chors aufgestellten Wandschrank aufbewahrt werden.

Wie läßt sich nun die Inschrift historisch bewerten? Aufgrund der gut überlieferten Urkunde und der nachprüfbaren Funde kann kein Zweifel daran bestehen, daß Bopparder Bürger bei der - wodurch auch immer veranlaßten - Renovierung der stromaufwärts vor Boppard liegenden, erstmals 911 als Schenkung an das Stift St. Ursula in Köln urkundlich bezeugten Martinskapelle ein kleines Gräberfeld mit teilweise in einem Sarkophag beigesetzten Körperbestattungen angeschnitten hatten. Da es sich bei dem aufgefundenen eisernen Schwert offensichtlich um einen fränkischen Breitsax9) des 7. Jahrhunderts handelte, der als Grabbeigabe beigefügt war, kann das Gräberfeld ebenfalls in diesen Zeitraum datiert und als einer der zahlreichen fränkischen Bestattungsplätze Boppards10) identifiziert werden. Hinsichtlich des Steindenkmals, auf dem die Zeitgenossen die Jahreszahl 142 - "in lapidum sculptura sub terra" - zu lesen glaubten, legte bereits F. Rademacher eine überzeugende Hypothese11) vor: Vermutlich habe es sich bei dem Inschriftenstein um das Fragment eines frühchristlichen Grabsteins gehandelt, von dessen Inschrift wohl nur noch die in römischen Zahlbuchstaben ausgeführte Altersangabe 42 (QVI VIXIT IN PACE ANNVS XXXXII) zu erkennen gewesen sei, die "bei der starken Entstellung der Buchstaben und der mangelnden Abgrenzung der Worte (..) leicht als ANNO CXXXXII gedeutet werden" konnte. Inzwischen kann diese Vermutung durch eine epigraphische Einzelbeobachtung gestützt werden, die in die 2. Hälfte des 6. bzw. ebenfalls ins 7. Jahrhundert weist: Durch die so nur in Boppard nachweisbare Gestaltung des Buchstabens S in fränkischen Grabinschriften, dessen Bögen an einen beidseitig verlängerten Schaft angesetzt sind12), könnte bei schlechter Erhaltung die irrtümliche Lesung C statt S deutlich erleichert worden sein. Offen bleibt, warum sich der als Zeugnis der Reliquiendeutung wichtige Inschriftenstein nicht erhalten hat; er scheint bereits zur Zeit der Abfassung der Klosterchronik verloren gewesen zu sein.

Ebenso offen bleibt schließlich die Identifizierung des gegen Ende der Inschrift erwähnten Iuo (Ivo), bei dem es sich offenbar um den Bopparder Bürger gehandelt haben soll, dem die Wiederherstellung der Martinskapelle und die dabei gemachten Reliquienfunde zu verdanken gewesen sind. Da aber dieser Name weder in der Urkunde von 1280 noch in der sonstigen Überlieferung nachzuweisen ist, könnte es sich bei ihm um eine fiktive Gestalt gehandelt haben, die sich der humanistische Verfasser der Inschrift als handelnde Person zur Abrundung der Geschichte ausgedacht hat. Falls es sich bei Iuo jedoch um eine als Kurzform gemeinte Variante des Namens Johannes handeln sollte, ist nicht auszuschließen, daß sich Flaming damit selbst gemeint haben könnte - schließlich war ihm die Neuorganisation der Reliquienverehrung zu verdanken.

Textkritischer Apparat

  1. Offen bleibt, ob die Überschrift in dieser Form ursprünglich vorhanden war oder eine Zutat des Überlieferers darstellt; vgl. dazu auch Nr. 189.
  2. Sic!

Anmerkungen

  1. Der Kölner Gelehrte Hermann Crombach hielt sich zu Beginn der vierziger Jahre des 17. Jh. in Boppard auf, wo er zusammen mit Pater Bodenheim, dem Verfasser der Chronik St. Martin, die Kirche der Franziskanerinnen mit ihren Reliquien besichtigte und bei dieser Gelegenheit die Inschriften als Material für sein monumentales Werk über die hl. Ursula abschrieb.
  2. So Chronik St. Martin fol. 11v, die an gleicher Stelle die erste bekannte Überlieferung der Inschrift als deutsche Übersetzung bietet: "An dießem orth vergoßen vieler heiliger blut / Vmb Christi namen vor Zeiten man glauben thut / Viel heilige Cörper der heiligen hat man funden / So vnder der Erden viel Tag verborgen stunden / Ein grabschrifft gefunden wardt in Latein / So geschrieben andächtige zu ehren der heiligen gebein / Ein Schwerdt darbey mit dem ermordt / Der heiligen leiber grewlich vnd vnerhort / Derhalben wer eingeht diß heilige Kirch / Ich bitt dich Juo das ewige licht verbirg / Der bewegt durch himlische lieb vnd andacht / Zu Christi lob hat diß ort wider auffbracht / So schon zerfallen nachläßig were vor alter / Wan Juo gethan sein guter erhalter / Derwegen diß orth verehrt wirdt viel Jahr / Zu Gottes lob vnd ehr bleib immerdar". - Die Tafel hing offensichtlich im vorderen Teil der Kirche in der Nähe der zum Altar führenden Stufen.
  3. Vgl. zu ihm ausführlich Nr. 189.
  4. So Chronik St. Martin fol. 11v. - Nach Crombach hatte Flaming den Text nicht nur als Handschrift ("in tabella membraneae inscriptum"), sondern als auch als Inschrift ausgeführt.
  5. Vgl. zum Folgenden ausführlich Rademacher, Friedhof pass.
  6. Die heute verschollene Urkunde, die am 10. August 1280 als Almosenbrief zur Beschaffung von Mitteln zum Neubau der Martinskapelle ausgestellt wurde und dafür einen 40tägigen Ablaß in Aussicht stellte, wurde 1640 in der Klosterchronik (fol. 10vf.) in deutscher Übersetzung geboten und erstmals 1647 von Crombach, Vita 1093f. nach dem lateinischen Original ediert; vgl. dazu auch die Edition bei bei Brouwer/Masen, Metropolis 2, 430 sowie Rademacher, Friedhof 300 Anm. 5 (mit teilweiser Wiedergabe).
  7. Vgl. zum Folgenden Chronik St. Martin fol. 13v.
  8. Vgl. zum Folgenden ausführlich Rademacher, Friedhof 299f. und 305f. mit Abb. der Reliquien auf Taf. 48 und 49. - Ob sich die älteren Inschriften unter den sorgfältig vernähten barocken Hüllen erhalten haben, konnte (bislang) nicht herausgefunden werden.
  9. Vgl. dazu Rademacher, Friedhof 303 sowie Neumayer, Grabfunde 64.
  10. Vgl. dazu Einleitung Kap. 4.1.1. - Zweifelsohne spricht die 1924 vor dem Chor der Martinskirche aufgefundene "völlig intakte römische Grabkammer" für eine kontinuierliche Nutzung dieses Bereichs als Bestattungsplatz; vgl. dazu den Hinweis bei Röder, Grabkammern 214.
  11. Vgl. dazu Rademacher, Friedhof 304f. und ihm folgend Eiden, Frühzeit 38f.
  12. Vgl. dazu Einleitung Kap. 5.1.

Nachweise

  1. Chronik St. Martin, fol. 11v (übers.) (I)
  2. Crombach, Vita 1097.
  3. Rhein. Antiquarius II 5, 405f. (übers. nach Chronik St. Martin) (I).
  4. Nick, Märtyrer 398 (übers.).
  5. AASS 38, 559 (nach Crombach).
  6. Nolden, Boppard 13 (nach Crombach) (I).

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 160† (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0016005.