Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 157 Oberwesel, Kath. Pfarrkirche Unserer Lieben Frau vor 1515

Beschreibung

Dreiteilige Lehrtafel mit der Darstellung der Zeichen der letzten 15 Tage vor dem Jüngsten Gericht. Im Jahr 1854 mit unbestimmtem Standort erstmals erwähnt1), heute an der Wand des nördlichen Seitenschiffs befestigt. Querrechteckiges Triptychon aus Holz mit profiliertem Rahmen und rotumrandeter Innenseite. Die teils auf Leinwand, teils auf Pergament ausgeführte Ölmalerei nimmt die Innenseiten der quadratischen Mitteltafel und der beiden Flügel ein. Die Außenseiten mit der Darstellung des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies sind inschriftlos. Dem Thema entsprechend umfaßt die gesamte Bildfläche 15 in drei Reihen übereinander angeordnete Einzelbilder, deren Inhalt durch überschriebene, gold auf Schwarz gemalte Inschriften erklärt wird. Die Bildfolge beginnt links oben auf dem linken Flügel mit einem geteilten Bild, das den schreibenden hl. Hieronymus in seiner Studierstube zeigt. Über ihm eine weiß auf Schwarz gemalte, siebenzeilige Inschrift (A1), die die Quelle der folgenden Bildinhalte und Texte angibt. In den einzelnen Bildfeldern werden die zeichenhaften Ereignisse der einzelnen Tage vorgeführt und durch die Beischriften (A2 bis P1) kommentiert. Dargestellt wird in der Regel eine kleine Gruppe Menschen aus unterschiedlichen bürgerlichen Schichten, die den jeweiligen Katastrophen ausgesetzt sind oder sie zumindest erstaunt, verängstigt oder gar entsetzt verfolgen und gestenreich kommentieren. Das mit Inschrift und Bibelzitat (P1) überschriebene Schlußbild auf dem rechten Flügel unten zeigt den 15. Tag mit dem Jüngsten Gericht. In der Mitte thront Christus als Weltenrichter auf Regenbogen und Weltkugel, flankiert von den Fürbitte leistenden Maria und Johannes dem Täufer. Unterhalb dieser Deesis-Gruppe entsteigen die Auferstehenden ihren Gräbern und werden nach links in den Himmel, nach rechts in die Hölle gewiesen. Auf der Seite der Erlösten kniet (in stark verkleinertem Maßstab) der Stifter in Kanonikertracht, in den Händen sein abgenommenes Birett. Ihm beigegeben sind sein Wappen und ein Spruchband mit hexametrisch gereimter, schwarz auf Weiß gemalter Fürbittinschrift (P2). Das Triptychon wurde in den Jahren 1895-98 und 1979-81 restauriert2).

Maße: H. 204, B. 395, Bu. 2,5 (A1), 4 (A2-P1), 1,5 (P2) cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien, gemalt.

Thomas G. Tempel (ADW) [1/18]

  1. A1

    De signis · xv · dieru(m) / Ieronimsa) · i(n) · an(n)alibus · he=/breor(um) i(n)uenit · signa xv · dier(um) / an(te) · diem · iudicii · S(ed) · vtru(m) / (con)tinui · futuri · sint · dies · illi · / an · int(er)//polati(m) · no(n) / expre//ssit

  2. A2

    P(ri)mo die eriget se mare xl · cubitis sup(er) altitudine(m) mo(n)tiu(m) stans in loco / suo q(ua)si murusb)

  3. B

    Secundo · t(antu)m · descende t· vt · vix · videri · possit ·

  4. C

    Tercio · marine · belue · app(are)ntes · marea) · dabu(n)t · rugit(us) · vsq(ue) · ad · celu(m) ·

  5. D

    Quarto · ardebit · mare ·c)

  6. E

    Qui(n)to · herbe · (et)d) · arbores · dabu(n)t · rore(m) · sanguineum ·

  7. F

    Sexto · ruent · edificia ·

  8. G

    Septimo · petre · ad · inuice(m) · collident(ur) ·

  9. H

    Octauo · g(e)n(e)ralise) · fiet · terremotus ·

  10. I

    Nono · equabit(ur) · terra ·

  11. K

    Decimo · exibu(n)t · ho(min)es · de · cauernis · (et)d) · ibu(n)t · ve(lu)df) · ame(n)tes · (et)d) · no(n) · poteru(n)t · mutuo · loqui

  12. L

    Unde(cim)og) · surge(n)t · ossa · mortuor(um) · (et)d) · stabu(n)t · sup(er) · sepulcra ·

  13. M

    Duodecimo cadent stelle

  14. N

    Terciodeci(m)og) · morie(n)t(ur) · viue(n)tes · vt · cu(m) · mortuis · resurga(n)t

  15. O

    Quartodeci(m)o · ardeb(i)th) · celu(m) · (et)d) · terrai) · i(n) sup(er)ficies · terre · (et)d) · aerisk)

  16. P1

    Qui(n)todeci(m)o · fiet · celu(m) · nouu(m) · (et)d) · t(e)rra · noua · et · resurge(n)t · om(ne)s · Vt · ait · d(omi)n(u)s · sic(ut) · fulgur · ab · ori(ente) · (et)l) · paret · i(n) · / occid(ent)emm)3) (et)c(etera)d)

  17. P2

    Dum · veneris · iudicare / noli · me / condempnare

Übersetzung:

Über die Zeichen der 15 Tage. Hieronymus hat in den Büchern der Juden die Zeichen der 15 Tage vor dem Jüngsten Gericht gefunden. Ob aber jene Tage aufeinander folgen oder mit Unterbrechungen eintreten werden, hat er nicht gesagt (A1). - Am ersten Tag wird sich das Meer vierzig Ellen hoch über die Höhe der Berge erheben und auf seinem Platze stehen wie eine Mauer (A2). - Am zweiten (Tag) wird es so sehr sinken, daß man es kaum noch sehen kann (B). - Am dritten (Tag) werden aus dem Meer Seeungeheuer erscheinen und ein Gebrüll erheben bis zum Himmel hin (C). - Am vierten (Tag) wird das Meer brennen (D). - Am fünften (Tag) werden Kräuter und Bäume blutigen Tau (von sich) geben (E). - Am sechsten (Tag) werden die Gebäude einstürzen (F). - Am siebten (Tag) werden die Felsen gegeneinander stoßen (G). - Am achten (Tag) wird es ein allgemeines Erdbeben geben (H). - Am neunten (Tag) wird die Erde eingeebnet werden (I). - Am zehnten (Tag) werden die Menschen aus Höhlen herauskommen und wie Wahnsinnige herumgehen und nicht miteinander sprechen können (K). - Am elften (Tag) werden die Gebeine der Toten auferstehen und über den Gräbern stehen (L). - Am zwölften (Tag) werden die Sterne niederfallen (M). - Am dreizehnten (Tag) werden die Lebenden sterben, um mit den Toten aufzuerstehen (N). - Am vierzehnten (Tag) werden Himmel und Erde brennen an der Oberfläche von Erde und Luft (O). - Am fünfzehnten (Tag) wird ein neuer Himmel und eine neue Erde werden und alle werden auferstehen; wie der Herr sagt: Gleich wie ein Blitz (ausgeht) vom Aufgang und leuchtet bis zum Niedergang (usw.) (P1). - Wenn Du kommen wirst zu richten, verdamme mich nicht (P2).

Versmaß: Ein Hexameter, leoninisch gereimt (P2).

Wappen:
Lutern

Kommentar

Die hervorragend ausgeführte und entsprechend der Schreibtechnik feinstrukturierte Minuskel zeigt als Besonderheiten flachgedecktes g, gespaltenes oberes Schaftende bei b, h und l sowie einmal gerundetes Schluß-s (bei superficies). Die als Quadrangel gestaltete Fahne des Schaft-r ist gelegentlich mit einem beidseitig ausgezogenen Zierstrich geschmückt (etwa bei terra), zudem wechseln sich in Wörtern mit mehreren r Schaft-r und Bogen-r ab. Vokalisches u wird durch einen kleinen v-förmigen Haken gekennzeichnet, i durch einen winzigen Punkt, e wird - im Gegensatz zur Vorlage (s. u.) - stets anstelle von ae verwendet. Die kunstvoll aus Elementen der gotischen Majuskel und Minuskel zusammengesetzten, zudem frakturähnlich gestalteten Versalien sind zum Teil eigenwillige Schöpfungen, die man ohne den Wortzusammenhang kaum in ihrem hier gebrauchten Sinn interpretieren würde: Versales D ähnelt einem unzialen D, versales N einem runden N mit gebrochenem Bogen, versales Q einem konturierten Minuskel-k und versales S einem Minuskel-b mit gerundetem Bogen. Einige in der epigraphischen Schrift kaum übliche Kürzungszeichen (wie kleines z nach S für Sed und klein überschriebenes d nach ve für velud) lassen darauf schließen, daß der Schriftenmaler mit den Usancen der Handschriftenschreiber vertraut war. Die herausragende Bedeutung des letzten Bildes mit dem Jüngsten Gericht wird auch durch aufwendige Worttrenner (drei rote, übereinander gesetzte Punkte, vertikal begleitet von längeren gefiederten Strichen) betont, die auch sonst variantenreich eingesetzt werden: Neben einfachen Punkten erscheinen Quadrangeln, punktierte Rauten, kleine Blüten und Sternchen.

Für die im insularen Bereich4) seit dem 9. Jahrhundert entwickelte und Ende des 10. Jahrhunderts erstmals in der vorliegenden Form nachweisbare Legende von den 15 Zeichen, die den Weltuntergang und das damit verbundene Jüngste Gericht ankündigen sollen, sind keine direkten älteren Quellen nachzuweisen. Die allen Varianten der Legende gemeinsame Berufung auf die sonst unbekannten und nicht überlieferten "Annales Hebraeorum", die der im 4. und 5. Jahrhundert als Theologe und Kirchenlehrer tätige hl. Hieronymus verwendet haben soll, ist wohl fiktiv und dürfte zur höheren Glaubwürdigkeit des Textes eingesetzt worden sein. Die lateinischen Beischriften des Oberweseler Triptychons gehen - abgesehen von kleinen inhaltlichen Abweichungen - letztlich auf eine von dem Pariser Theologen Petrus Comestor in seinem 1173 vollendeten Hauptwerk "Historia Scholastica"5) verbreitete Fassung der Legende zurück. Obwohl diese in erweiterter Form in die um 1270 entstandene Sammlung "Legenda aurea" des Jakobus de Voragine aufgenommen wurde, war sie - versehen mit lateinischen oder auch volkssprachlichen Texten6) - in bildlichen Darstellungen des Mittelalters wie illustrierten Handschriften oder Holzschnittfolgen nicht übermäßig weit verbreitet. Die Fünfzehn Zeichen in Oberwesel gelten als die einzige bekannte vollständige Behandlung dieses Themas innerhalb der mittelalterlichen Tafelmalerei.

Das Triptychon gehört zusammen mit den Retabeln des Nikolaus- und des Martha-Altars7) zu den herausragenden spätmittelalterlichen Ausstattungsstücken der Liebfrauenkirche, die durch Stifterwappen und Stifterbild eindeutig als Schenkungen des als ergrauten Mann dargestellten Petrus Lutern - seit 1475 Kanoniker an Liebfrauen und seit 1508 Propst von St. Martin zu Oberwesel - zu identifizieren sind. Die Tafeln führen dem Kirchgänger auf der Außenseite der Flügel den Beginn, auf deren Innenseiten eindrucksvoll das Ende des Heilsgeschehens vor Augen; sie dienen einerseits der Erbauung und Belehrung aller Betrachter, warnen vor der ewigen Verdammnis und rufen zur Umkehr auf, fördern andererseits aber auch die schnellere Erlangung des Seelenheils ihres Stifters.

Obwohl die Oberweseler Tafeln durchaus als konventionelles Altarretabel mit liturgischer Nutzung an Werk- und Feiertagen gedient haben könnten, wurden sie von der jüngsten historischen Forschung überzeugend dem fast vergessenen spätmittelalterlichen Ausstattungstypus "Lehrtafel"8) bzw. "lehrhafte Bildtafel"9) zugeordnet. Da die Schriftformen keine enge Datierung zulassen und sowohl eindeutige stilistische Kriterien als auch geeignete Vergleichsbeispiele fehlen10), kann sich die Datierung des in einer mittelrheinischen Werkstatt hergestellten Triptychons letztlich nur an den Lebensdaten des in der Liebfrauenkirche begrabenen Stifters († 1515)11) orientieren; andere Datierungsvorschläge (Anf. 16. Jh., nach 1506, um 1510, 1512) sind möglich, bleiben aber spekulativ.

Textkritischer Apparat

  1. Sic!
  2. Die letzten drei Worte sind aus Platzgründen kleiner geschrieben.
  3. Bei Comestor (vgl. Anm. 5) folgt "et aquae".
  4. et als tironische Note.
  5. r klein hochgestellt.
  6. d klein hochgestellt, so für velut.
  7. o klein hochgestellt.
  8. t klein hochgestellt.
  9. Der folgende Textteil fehlt bei Comestor; vgl. Anm. 5.
  10. in bis aeris fehlt bei Slenzcka. - Letztes Wort aus Platzgründen kleiner geschrieben.
  11. et als tironische Note. - Diese hier nur scheinbar keinen Sinn ergebende kopulative Konjunktion erklärt sich durch das fehlende Verb im vorhergehenden Satzteil, der bei Comestor (wie Anm. 5) vollständig "Sicut fulgur exit ab oriente" lautet.
  12. Bei Comestor (vgl. Anm. 5) folgt nach occidentem "sic erit adventus Filii hominis" (Mt. 24,27).

Anmerkungen

  1. Vgl. Kugler, Kleine Schriften 313f.
  2. Kdm. 292.
  3. Mt 24,27.
  4. Vgl. zum Folgenden ausführlich Heist, Signs pass. und Simon 51ff.
  5. Obwohl der lateinische Text des Petrus Comestor als nicht gesichert gilt und die Edition bei Migne keine Textvarianten verzeichnet, muß aufgrund der - wenn auch geringen - Abweichungen in Inhalt und Schreibweise davon ausgegangen werden, daß für die textliche Fassung der Oberweseler Inschriften nicht Comestor direkt, sondern eine bislang nicht bekannte Variante benutzt wurde.
  6. Vgl. dazu den jüngsten Überblick über das volkssprachliche "15-Zeichen-Korpus" bei Schmidt, Ausbildung 9f.
  7. Vgl. dazu Nrr. 151 und 153.
  8. Ausgangspunkt dieser erstmals von Boockmann, Belehrung 2, 15 und 17 vorgenommenen Einordnung war - angesichts des vorliegenden Bildthemas - die von ihm gestellte (und bislang ungeklärte) Frage, "was das denn für ein Altar und wem dieser wohl geweiht gewesen sein mag" (ebd. 2).
  9. Vgl. dazu ausführlich Slenczka 13ff.
  10. Vgl. dazu Kdm. 296f.
  11. Vgl. Nr. 159. - Offen bleibt, ob Lutern selbst als "Entwerfer des Programms" (Kdm. 296) anzusehen ist und ob er als zusammenstürzende Stadt auf dem Bild des 6. Tages wirklich Oberwesel und die Wernerkapelle darstellen ließ (so Rothfuß 14).

Nachweise

  1. NN., Liebfrauenkirche 16-18.
  2. Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler 615.
  3. Hermann, Führer, Abb. S. 34.
  4. Fowler, Fifteen last days, 320f. mit Taf. III
  5. Campignier, Rundgang, Abb. S. 44.
  6. Simon, Fünfzehn Zeichen 213-215 (beschr.).
  7. Boockmann, Stadt, Abb. 505.
  8. Rothfuß, Flügelaltar.
  9. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.2, 292-297 mit Farbtafel 13 und Abb. 170-173.
  10. Slenczka, Bildtafeln 224f. mit Abb. I.4 und Titelbild.
  11. Schwarz, Kirche, Abb. S. 16.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 157 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0015704.