Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 151 Oberwesel, Kath. Pfarrkirche Unserer Lieben Frau 1503

Beschreibung

Dreiflügeliges Altarretabel mit dem Gastmahl Christi bei den Schwestern Martha und Maria (von Bethanien). Die 1854 erstmals erwähnte Mitteltafel befand sich damals von den Flügeln getrennt im südlichen Seitenschiff1); heute stehen die wieder zusammengefügten Tafeln auf einer Barockpredella mit stark überstrichener Inschrift2) auf dem Altar im Chor des südlichen Seitenschiffs. Ölmalerei auf Holz. Auf der Mitteltafel ist das Gastmahl in einem rot gequaderten Raum dargestellt, der durch offene Arkaden den Blick auf eine Stadt in bergiger Flußlandschaft erlaubt. Um einen mit einfachen Speisen und Getränken gedeckten Tisch sitzen die zwölf Apostel, in der Mitte Christus, über ihm die den Hl. Geist versinnbildlichende Taube mit der schwarz auf Rot ausgeführten Jahreszahl (A). Im Vordergrund steht Martha mit Schürze und Schlüsselbund und stellt gerade eine Platte mit Fischen auf den Tisch, rechts von ihr kniet ihre in ein kostbares Brokatgewand gekleidete Schwester Maria, beide in den Goldnimben namentlich bezeichnet (B) und (C). Neben Martha befindet sich ein Spruchband mit ihrer schwarz auf Gold ausgeführten Frage (D) an Christus, die von ihm auf einem ebensolchen Spruchband (E) beantwortet wird. Zwischen Martha und Maria kniet (in stark verkleinertem Maßstab) der Stifter in Kanonikertracht mit seinem Birett in der Hand. Ihm beigegeben ist sein Wappen und ein zu Martha aufsteigendes Spruchband mit der schwarz auf Gold gemalten, metrisch hervorgehobenen Fürbittinschrift (F). Zwei weitere (winzige) Marken im Wappenschild befinden sich über dem Kamin links im Hintergrund. Die Innenseiten der Flügel mit der Darstellung der Heiligen Christophorus, Antonius Abbas, Anna Selbdritt und Hieronymus sind inschriftlos. Die Außenseiten zeigen links eine Kreuzigungsgruppe, rechts die Muttergottes unter dem Kreuz mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß; die Kreuze sind jeweils mit schwarz auf Weiß gemalten Tituli (G, H) versehen. Das Altarretabel wurde in den Jahren 1895-98 durch Wilhelm Batzem und 1979-81 durch Peter Pracher restauriert3).

Maße: H. 195, B. 340, Bu. 2 (B, C), 3 (D, E, F) cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (A-F), Kapitalis (G-H), gemalt.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/3]

Bild zur Katalognummer 151: kniender Stifter mit Fürbitte aus dem dreiflügeligen Altarretabel mit dem Gastmahl Christi bei den Schwestern Martha und Maria (von Bethanien)

  1. A

    1 5 0 3

  2. B

    S(ancta) · marta

  3. C

    s(ancta) · maria · madelenaa)

  4. D

    D(omi)ne · no(n) · e(st) · ti(bi) · cure · / q(uod) · soro(r) · r(e)liq(ui)t · me · mi(ni)st(r)a(r)e4)

  5. E

    martha · es · sollicita5) · opti(m)am · p(ar)te(m) · elegit · ma(r)ia6)

  6. F

    p(ro) · me · sollicita · chr(istu)m · s(an)ctissi(m)a · martha ·

  7. G

    I(ESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM)7)

  8. H

    I(ESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM)7)

Versmaß: Zwei Hexameter (E, F), (E) mit starken prosodischen Verstößen.

 
Wappen:
Lutern8).
 
Marken:
unbekannt9)unbekannt10)

Kommentar

Die sorgfältig ausgeführte, in den Spruchbändern zwischen rote bzw. schwarze Doppellinien gestellte Minuskel zeigt als Besonderheiten ein flachgedecktes g, gespaltene obere Schaftenden bei h und l sowie einmal ein gerundetes Anfangs-s (bei sancta martha), zudem bei -am bzw. -um ein senkrecht gestelltes Schluß-m in Form einer 3. Auffallend sind die fast schon als Buchstabenverbindung zu bezeichnenden Kombinationen ch, ci, ct und cu, die durch die Berührung des waagrecht umgebogenen oberen Bogenabschnitts des jeweiligen c mit dem nachfolgenden Buchstaben entstehen. Als Worttrenner dienen Punkte wie in (C) und (E), sonst Quadrangeln mit senkrecht ausgezogenen Zierstrichen. Die in unauffälliger Kapitalis ausgeführten Tituli gehören mit zu den frühesten Vertretern dieser Schriftart im Bearbeitungsgebiet.

Die durch die beigegebenen Inschriften unzureichend erklärte Begebenheit kann nur durch die Kenntnis der entsprechenden Stelle im Lukas-Evangelium verstanden werden: Die als Hausfrau dargestellte Martha beklagt sich bei Christus, daß sie allein die Arbeit mit den Gästen habe, und fordert ihn auf, ihre zu seinen Füßen sitzende und ihm zuhörende Schwester Maria ebenfalls zur Arbeit anzuhalten. Aus Christi Antwort geht jedoch hervor, daß er Maria für diejenige hält, die in ihrem Verhalten die bessere Wahl getroffen hat. Die Szene mit den beiden Schwestern diente den Kirchenvätern11) als Ausgangspunkt zur "Einchristlichung" antiker Kategorien sittlicher und geistlicher Lebensführung, wobei Martha als Personifikation der "vita activa", Maria als die der "vita contemplativa" angesehen wurde. Wenn auch Maria von Bethanien keine eigene Verehrung erfahren hat, da sie (zusammen mit anderen) in der Person der Maria Magdalena aufgegangen ist12), ist es dennoch bemerkenswert, daß die Vorliebe des Stifters des Oberweseler Retabels nicht der von Christus bevorzugten Maria, sondern der im Leben stehenden Martha gilt, an die er - durch den Hexameter betont - seine Bitte um Fürsprache bei Christus richtet.

Das Wappen weist den als älteren Mann mit grauen Haaren dargestellten Stifter als den seit 1475 in Liebfrauen als Kanoniker nachweisbaren Petrus Lutern13) aus, der auch sonst als großer Förderer dieser Kirche hervorgetreten ist. Das vorliegende Retabel diente wohl als Aufsatz des 1550 erstmals erwähnten Martha-Altars, der - wie auch das erhaltene Epitaph Luterns - in der ebenfalls von ihm gestifteten (bislang nicht näher lokalisierten) Martha-Kapelle gestanden haben dürfte. Interessanterweise wird durch die Stadtlandschaft im Hintergrund der Mitteltafel der Bezug zu Oberwesel hergestellt: Zu sehen sind - in einer der ältesten bekannten Darstellungen - die oberhalb der Stadt gelegene Schönburg, der Turm der Liebfrauenkirche und ein Teil der Stadtmauer mit dem Roten Turm. Ob die beiden nicht identifizierten Marken als reine Spielerei zu werten sind oder etwa Oberweseler Geschlechtern zugeordnet werden können, muß offen bleiben.

Neuester kunsthistorischer Auffassung14) zufolge wurde das Martha-Retabel in einer nicht näher bekannten mittelrheinischen Werkstatt hergestellt; die früher vertretene Ansicht des Werkstattzusammenhangs mit dem Retabel des Nikolaus-Altars von 1506 und der vor 1515 angefertigten 15-Zeichen-Tafel ist weder kunstgeschichtlich noch epigraphisch nachvollziehbar.

Textkritischer Apparat

  1. Sic!

Anmerkungen

  1. Vgl. Kugler, Kleine Schriften 314.
  2. Vgl. Nr. 384.
  3. Vgl. Kdm. 236.
  4. Lk 10,40 (teilw.).
  5. Lk 10,41 (teilw.).
  6. Lk 10,42 (teilw.).
  7. Joh 19,19.
  8. Marke Nr. 8. - Der Gestaltung nach handelt es sich um ein Notariatssignet; vgl. dazu Schuler, Notarszeichen pass.
  9. Marke Nr. 9.
  10. Marke Nr. 10.
  11. Vgl. zum Folgenden Dinkler-v. Schubert, Vita activa 464 sowie Art. Christus bei Maria und Martha, in: LCI 3 (1971) 210f.
  12. Vgl. dazu Anstett-Janssen, Maria Magdalena 518.
  13. Vgl. zu ihm und zum Folgenden Nr. 159.
  14. Vgl. dazu Kdm. 238ff.

Nachweise

  1. NN., Liebfrauenkirche 15.
  2. Campignier, Rundgang 39 mit Abb. S. 38.
  3. Eich, Altarflügel 118 mit Abb. 7.
  4. Boockmann, Stadt 72 (D) mit Abb. 108.
  5. Schrage, Marthalegende 47-65.
  6. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.2, 237 mit Farbtafel 14 und Abb. 127.
  7. Schwarz, Kirche, Abb. S. 10.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 151 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0015106.