Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)
Nr. 18 Boppard, Karmeliterkirche 1293?
Beschreibung
Grabplatte des Mönches Heinrich. Ehemals im Kreuzgang des Klosters links vom Eingang in die Kirche im Boden liegend, wurde sie 1603 auf Betreiben des damaligen Generalpriors des Karmeliter-Ordens gehoben und aufrecht in die Mauer des Kreuzgangs eingelassen1); von dort versetzte man sie 1986 an die Westwand der Kirche. Große Platte aus rotem Sandstein mit Umschrift zwischen Linien, die sich in je einer Zeile an den Längsseiten des Feldes fortsetzt. Im Feld unter einer wimpergbekrönten Spitzbogenarkade, deren Kreuzblume in die obere Schriftleiste reicht, in Ritzzeichnung ausgeführte Figur eines bärtigen Mönches im Habit mit vor der Brust gekreuzten Armen. Leicht abgetreten, Schrift teilweise stark verwittert.
Maße: H. 206, B. 120, Bu. 6,5 cm.
Schriftart(en): Gotische Majuskel.
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FLORIB(VS)a) · ORNATV(M) / UI(R)TVTV(M)b) · FAC · T(IB)Ib) · G(R)ATV(M)c) · REX · PIE · S(I)Cd) · RATV(M) · FACIES · EI · FAM(V)LAT(VM)e) · HE(N)R(ICVS) · D(I)C(TV)S · P(ATE)Rf) · HI(C)g) · / NO(N) · C(RI)MI(N)E· VICT(VS) · HORRE(N)S · (CON)FLICT(VS)h) · / F(VI)Ti) · DV(M) · MITE(M) · NECIS ·ICT(VS) · AN(N)O · MILLENOk) · C Vl) · XXIE(S)m) · NO(N)AGE(N)O · (ET)n) · T(R)INOo) / PLE(N)O · P(RO)ST(R)AV(I)Tp) · CORDEq) · // · SERENO · · OCTOBRIS · FINE · // · TAL(IS) · MEMOR · ESTO · RVINE ·
Übersetzung:
Gib, gnädiger König, daß der mit den Blüten der Tugenden geschmückte (Verstorbene) dir wohlgefällig sei, so wirst du ihm den wahren Dienst gewähren. Heinrich, Vater genannt, ist nicht von der Sünde besiegt worden. Schrecklich ist der Kampf gewesen, als der Schlag des Todes den Frommen im Jahr 1293 (1000 + 100 + 5 mal 20 + 90 + 3) mit völlig heiterem Herzen niedergestreckt hat, am Ende des Oktobers. Du sollst eines so großen Unglücks eingedenk sein2).
Versmaß: Sieben leoninische Hexameter, 1-6 unisoni, 7 zweisilbig rein gereimt.
Textkritischer Apparat
- Textbeginn rechts der Kreuzblume.
- I über der Linie klein hochgestellt.
- A über der Linie klein hochgestellt in Form zweier oben verbundener, unten offener Bögen; vgl. dazu Terminologie 81.
- C über der Linie klein hochgestellt.
- L mit Haken als (an dieser Stelle unnötigem) Kürzungszeichen, das vielleicht den vorhergehenden, nicht gekennzeichneten Buchstabenausfall anzeigen soll.
- p(rio)r AASS; Marx; PRIOR Schlad; P(RIO)R Kdm. (mit Fragezeichen).
- I klein hochgestellt, über der Linie zweites I, vermutlich als Kürzungszeichen. - Hein AASS; Marx.
- CON-Kürzung durch einen geschlossenen Bogen angezeigt.
- T über der Linie klein hochgestellt.
- O über der Linie klein hochgestellt.
- Über der Linie Kürzungsstrich über CV, der hier die Buchstaben - die bisher stets mit CV(M) aufgelöst wurden - als Jahreszahlen kennzeichnet; vgl. dazu DI 29 (Worms) Nr. 11.
- IE über der Linie klein hochgestellt. Zu lesen ist vicie(s), bezogen auf das vorhergehende V, also 5 mal 20. - Milendunck, Archivium und AASS lösen die Zahlzeichen zu vicenis auf, d'Hame und Schlad zu vincennis, Libler und Rhein. Antiquarius zu vigenis, Nick zu bis deno.
- Z-förmiges tironisches et.
- I über der Linie klein hochgestellt.
- A über der Linie klein hochgestellt in Form zweier oben verbundener, unten offener Bögen; T über der Linie klein hochgestellt.
- E über der Linie klein hochgestellt.
Anmerkungen
- Vgl. dazu AASS 11,2 Einleitung S. 29 und Kdm. 372.
- Für Transkriptions- und Übersetzungshilfe danke ich meinen Kollegen Dr. Rüdiger Fuchs und Dr. Sebastian Scholz.
- So Martini 275.
- Vgl. dazu AASS und die sich darauf beziehenden Ausführungen bei Marx 485-491.
- Anno milleno cum bis deno nonageno et terno pleno... Henricus dictus Prior hic ... (1000 + 20 + 90 + 3), zitiert nach AASS 11,2, S. 29.
- Vgl. Nr. 278.
- Der Chronist des Ordens, der im Bopparder Konvent lebende Karmeliter Jakob Milendunck, hat bereits im Erscheinungsjahr der AASS diese Auseinandersetzung in seiner handschriftlichen Chronik (fol. 66v-73v) unter genauer Anführung aller Gesichtspunkte ausführlich wiedergegeben und zur Illustration zwei exakt gezeichnete Abbildungen der Grabplatte beigefügt.
- So Marx 485 nach der ihm abschriftlich vorliegenden "Series Priorum" von Boppard. - Erstaunlicherweise haben die damaligen Karmeliter auch die AASS benutzt, da die Kenntnis des Nachnamens "Hein" aus der nur dort so gegebenen Lesart stammt.
- Vgl. dazu und zum Folgenden Pauly, St. Severus. - Zuvor hatte bereits aus'm Weerth, Kunstdenkmäler 61 aus rein kunsthistorischen Erwägungen heraus gefordert, die Grabplatte "200 Jahre später" zu datieren.
- Da sonst sämtliche kompliziert gebauten Hexamter metrisch und prosodisch korrekt gebildet sind, wäre es kaum vorstellbar, daß der Verfertiger der Inschrift - aus welchen Gründen auch immer - die reimtechnisch und historisch falsche Jahreszahl 1113 angeben wollte.
- Vgl. zum Folgenden Kdm. 330f.
Nachweise
- Libler, Notabilia Historica fol. 57v.
- Milendunck, Historia fol. 27v und 66v-70v mehrfach zitiert, dabei 68v und 73v genaue Nachzeichnung der Inschrift mit Kürzungszeichen.
- Archivium fol. 8.
- d'Hame, Confluvium II 2, 685.
- AASS 11,2 Einleitung S. 29 mit Nachzeichnung.
- AASS 16,3 Einleitung S. 16 mit Nachzeichnung.
- Schlad, Chronick 1, o. P.
- Rhein. Antiquarius II 5, 522.
- Marx, Erzstift Trier 488.
- Nick, Boppard 271.
- Martini, Carmel 293.
- Kubach/Verbeek, Denkmälerinventar I 131.
- Pauly, St. Severus, Abb. S. 108.
- Kdm. Rhein-Hunsrück 2.1, 373 mit Abb. 25.
- Schmid/Stolpe, Grabdenkmäler, Abb. 14.
Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 18 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0001808.
Kommentar
Die durch die zahlreichen Kürzungen gedrängt wirkende Inschrift ist in sehr schlanken, mit leichten Schwellungen versehenen Majuskeln ausgeführt. Ihre Enden sind zum Teil stark dreiecksförmig verbreitert, nur ganz vereinzelt laufen Bögen in umgebogene Zierlinien aus. Die Schrift zeigt flachgedecktes trapezförmiges A mit geschwungenem linken Schaft, nicht immer geschlossenes C, kapitales und unziales, meist geschlossenes E, durchgehend kapitales F, G mit eingerollter Cauda, H durchgehend unzial, symmetrisch unziales M mit Abschlußstrich, kapitales und rundes N, R mit untereinander getrennt am Schaft ansetzendem Bogen und Cauda sowie kapitales und rundes T. Als Worttrenner dienen Punkte. Aufgrund dieses epigraphischen Befundes und der insgesamt noch schwach ausgeprägten Tendenz zur Schließung der offenen Buchstaben durch einen Abschlußstrich bietet sich eine Datierung der Schrift in das letzte Viertel des 13. Jahrhunderts an.
Der "berühmte Grabstein zu Boppard"3) mit seiner rätselhaften Inschrift stand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert im Mittelpunkt einer außergewöhnlichen literarischen Auseinandersetzung zwischen den Historiographen des Karmeliterordens und den Herausgebern der Acta Sanctorum, deren Verlauf kurz skizziert werden soll4): Anläßlich einer im Jahr 1603 durchgeführten Visitation des Klosters erregte die Grabplatte die Aufmerksamkeit des damaligen Generalpriors Heinrich Sylvius, der sich daraufhin um die Entzifferung der Inschrift bemühte. Um sie zu erhalten, ließ er die bereits teilweise abgetretene Grabplatte aufrichten und gelangte nach intensivem Studium der Inschrift zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem Verstorbenen um einen Heinrich gehandelt hatte, der offenbar als Prior des Karmeliterklosters im Jahr 1113 verstorben war5) - mithin ein untrügliches Indiz, daß die Karmeliter bereits in diesem Jahr und nicht erst, wie bis dahin angenommen, Mitte des 13. Jahrhunderts in Deutschland eine Niederlassung gehabt hätten. Aufgrund dieses für die Geschichte des Karmeliterordens fundamentalen Ergebnisses ließ der Generalprior über der aufgerichteten Grabplatte eine Holztafel mit einer um diese vermeintlich neuen Erkenntnisse erweiterten Paraphrase der Inschrift6) anbringen, die rasch Aufnahme in die Geschichtsschreibung des Ordens fand und fortan stets als Beweis für dessen hohes Alter diente. Als aber im Jahr 1670 die Jesuiten Gottfried Henschen und Daniel Papebroch auf der Suche nach Material für die Acta Sanctorum auch nach Boppard kamen, Grabplatte und Inschrift abzeichneten und nach eingehender Diskussion in dem entsprechenden, 1675 erschienenen Band der AASS zu dem Schluß gelangten, daß weder der Inhalt der Inschrift noch die Figur des Mönches auf einen Karmeliter hindeuteten, infolgedessen sie die Grabplatte den Karmelitern als Beweismittel ihres hohen Alters absprachen, brach ein erbittert geführter Streit7) los, der Papebroch bis vor die Inquisition führte und erst durch die Anordnung des Papstes zum beiderseitigen Stillschweigen beendet werden konnte. In Boppard selbst hielt man an der Interpretation des Generalpriors fest: Die dortigen Karmeliter setzten die Gründung ihres Klosters ins Jahr 1110 "wo der Kreuzprediger Peter von Amiens einen Carmeliten, den Pater Heinrich Hein, aus Palästina nach Boppard mitgebracht, der nun als erster Prior dem hier gegründeten Kloster bis zu seinem 1113 erfolgten Tode vorgestanden habe. Mit seinen Brüdern (...) sei der Convent ausgestorben und das Kloster verlassen geblieben bis 1254, wo neuerdings Carmeliten Besitz davon genommen hätten"8).
Unberührt von dieser längst erledigten Diskussion bleibt aber das Problem der Datierung bzw. der stimmigen Auflösung der Zahlworte und Zahlzeichen. So hat erst Pauly darauf hingewiesen, daß die bis dahin von beiden Seiten unbezweifelte Datierung 1113 nicht haltbar sei9). Da seiner Ansicht nach aber nur die beiden Zahlzeichen XX dem aus epigraphischen wie kunsthistorischen Gründen einzig akzeptablen Datum 1293 im Wege stünden, schlug er vor, sie durch CC zu ersetzen und einen diesbezüglichen Fehler des Steinmetzen anzunehmen. Obwohl dieser Vorschlag auf den ersten Blick bestechend erscheint, berücksichtigt er jedoch nicht das Metrum des Verses, das auch durch den vorgenommenen Tausch nicht korrekt gebildet wird. Zudem übersah Pauly, daß den Zahlzeichen XX zweifellos diakritische Zeichen beigegeben wurden: Ein eindeutiger Beleg für die Absicht des Verfertigers der Inschrift, ihr an dieser Stelle aus metrischen Gründen etwas Fehlendes hinzuzufügen, nämlich den das Versmaß stimmig füllenden Multiplikator10).
Obwohl der erstmals 1262 urkundlich erwähnte Bopparder Niederlassung des Karmeliterordens11) 1264 und 1275 die Erlaubnis zum Bau eines Klosters erteilt wurde, begann man erst um 1300 mit einem solchen, und so dürfte der Verstorbene nicht in dem heutigen Kloster, sondern in dessen Vorgängerbau begraben gewesen sein. Nach wie vor bleibt offen, um wen es sich bei diesem sonst nicht nachweisbaren Mönch Heinrich gehandelt hat. Die großformatige Grabplatte weist zusammen mit der sorgfältig ausgeführten figürlichen Darstellung und der kompliziert gebauten Inschrift allerdings auf einen für das Kloster bedeutenden Mann hin, der vielleicht tatsächlich als dessen Vorsteher (PATER) gewirkt haben könnte und durch ein Unglück zu Tode gekommen war.