Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

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DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 1 Boppard, Kath. Pfarrkirche St. Severus 5.-1.H.6.Jh.?

Beschreibung

Grabstein des Knaben Armentarius. Aufgefunden als Spolie im Jahr 1859 beim "Neubau eines Kelterhauses in der Mittelstadt unweit der Schmidtspforte als Einfassung einer alten Thüre"1). Der Stein wurde am 30. Juli 1861 in einen Pfeiler der Bopparder Karmeliterkirche eingesetzt2) und befindet sich gegenwärtig innen an der Westwand von St. Severus. Hochrechteckige kleine Platte aus Kalkstein mit erhabenem Rand, im Feld achtzeilige Grab- und Stifterinschrift (A) zwischen Linien. Unter dem Text von zwei Tauben flankiertes Christogramm mit den apokalyptischen Buchstaben Alpha und Omega (B) im Kreis. Die rechte obere Ecke und die gesamte rechte Randleiste sind weggebrochen, dadurch geringer Schriftverlust.

Maße: H. 62,5, B. 44, Bu. 3,5-4 cm.

Schriftart(en): Vorkarolingische Kapitalis, Typ 1 (Spätrömisch-christliche Schrift).

Bild zur Katalognummer 1: Grabstein des Knaben Armentarius

Thomas G. Tempel (ADW) [1/1]

  1. A

    HIC IN PACE QVIESCE[T]a) / ARMENTARIVSb) INN[O]/CENS FAMVLVS DEI Q[VI] / VIXSIT ANNIS IIIIc) ET / MENSES VIIIIc) OBIIT DIE / OCTAVO K(A)L(ENDAS) OCT(OBRES)d) BERANCIOe)/ET EVHARIAf)PATRE[S]g) / TITOLVM POSVERVNT

  2. B

    A(LPHA) O(MEGA)h)

Übersetzung:

Hier ruht in Frieden Armentarius, der unschuldige Diener Gottes, der vier Jahre und neun Monate lebte; er starb am 8. Tag vor den Kalenden des Oktober. Seine Eltern Berancio und Euharia setzten diese Grabinschrift.

Datum: 24. September.

Kommentar

Die in einheitlicher Strichstärke und in scriptura continua ausgeführte Inschrift zeigt sowohl in der Breite als auch in der Höhe zum Teil stark differierende Buchstabengrößen, besonders O ist durchgängig in deutlich kleinerer Form ausgeführt. Auffällige Schreibweisen3) sind bei folgenden Buchstaben zu beobachten: spitzes A mit geknicktem Mittelbalken und nach oben verlängerten, sich daher überschneidenden und einen Sporn bildenden Schrägschäften, E mit drei genau gleich langen Balken, F mit Schrägrechtsbalken oben und rechts angesetztem Balken am unteren Schaftende, L mit linksschräg nach unten gerichtetem Balken, M mit stark schrägstehenden Schäften und bis zur Grundlinie gezogenem Mittelteil, offenes P mit gespaltenem unterem Schaftende, Q in kapitaler und eingerollter unzialer Ausführung, offenes R mit gerader Cauda und gespaltenem unterem Schaftende, T mit nach oben hin in spitzem Winkel geknicktem Deckbalken und gespaltenem unterem Schaftende, so daß sich in der Längs- wie Querachse ein fast symmetrischer Buchstabe ergibt.

Die vom klassischen Latein abweichenden Formen QVIESCET statt QVIESCIT, VIXSIT statt VIXIT, ANNIS statt ANNOS, TITOLVM statt TITVLVM gelten als typische Merkmale spätantiken Sprachwandels und sind in vergleichbaren frühchristlichen Inschriften des Rheinlands ebenfalls nachzuweisen4). Dies gilt auch für die meisten der in der Inschrift verwendeten Formularteile wie der Hinweis auf die Ruhe des Verstorbenen in Frieden, die Angabe seiner Lebenszeit und die Nennung der Stifter. Dagegen ist die Datierung nach dem römischen Kalender mit Angabe des Todestages zwar noch in Trier, in Andernach und auf den ebenfalls in Boppard aufgefundenen Grabsteinen des Besontio, der Audulpia, der Fredoara und des Nonnus bezeugt, nicht aber im übrigen Mittelrheingebiet5). Eine weitere Ausnahme zeigt sich in dem für Armentarius verwendeten Epitheton FAMVLVS DEI, das zwar häufig in Spanien und Gallien, nicht aber am Mittelrhein nachzuweisen ist. Das verwendete Epitheton und die eindeutigen Symbole auf dem Grabstein weisen den mit vier Jahren verstorbenen Armentarius unzweifelhaft als Christen aus. Dieser Name6) ist in maskuliner wie femininer Form mehrfach im 5. und 6. Jahrhundert in Gallien belegt7) und kann - ebenso wie der mütterliche Name Eu(c)haria8) - zweifellos dem gallo-romanischen Bereich zugeordnet werden. Ob sich in dem sonst inschriftlich nicht bezeugten, wohl aus dem germanischen Grundwort Ber- und dem vielleicht romanischen Suffix -antia zusammengesetzten Namen des Vaters Elemente beider Sprachen finden lassen9), ist umstritten10) - jedenfalls handelt es sich bei dieser Namensform um ein Unikat.

Der in der Literatur vielbeachtete Armentarius-Stein wurde zuletzt durch Boppert anhand der Ausführung des Christogramms, der Formulare und der Namensformen in die 2. Hälfte des 5. bzw. in die 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts11) datiert. Der hier als Datierungsrahmen vorgeschlagene etwas größere Zeitraum orientiert sich an den neuen Überlegungen12) zur Struktur der Bopparder Grabinschriften.

Textkritischer Apparat

  1. V klein überschrieben.
  2. Armaventarius v. Cohausen; Armeniarius NN.
  3. Die Zahlzeichen werden - wie in der Spätantike üblich - im Schreibverlauf kleiner.
  4. Denkbar wäre auch die Auflösung OCT(OBRIS), da in frühchristlichen Inschriften bei der Datierung nach dem römischen Kalender in diesen Fällen gelegentlich statt des klassischen Akkusatives auch der (dann im Mittelalter gebräuchliche) Genitiv stehen kann.
  5. N nur schwach eingetieft; I dem C eingeschrieben. - iberano v. Cohausen; Octob(res) Francio CIL bzw. Octb. Francio Diehl, wohl unter Annahme einer (nicht wahrnehmbaren) FR-Ligatur. - Denkbar wäre unter Umständen die Lesung OCT(O)BER(IS) ANCIO, wobei aber der Name Ancio als Männername in frühchristlichen Inschriften bislang offenbar nicht nachzuweisen ist.
  6. Euhanna v. Cohausen. - Links des E ist eine schaftartige Vertiefung erkennbar, bei der es sich kaum um den Rest eines verhauenen oder zusätzlichen Buchstabens gehandelt haben dürfte; zwischen A und N Lücke, vermutlich wegen einer bereits zur Zeit der Textherstellung bestehenden Beschädigung.
  7. E in halber Buchstabengröße zwischen (gedachter) Mittellinie und Oberlinie. - Falls es sich bei der beschädigten Stelle nach E um eine ursprüngliche gehandelt haben sollte, könnte das fehlende S auch in ebenso kleiner Schreibweise mit dem unteren Balken des E verbunden gewesen sein.
  8. Griechischer Unzialbuchstabe.

Anmerkungen

  1. So Bendermacher 97. - Laut Becker 36 soll der Grabstein allerdings erst im Frühjahr 1860 beim Abbruch eines Stückes der alten Stadtmauer (S. 36) bzw. am 20. August 1860 durch (den Ersteditor) von Cohausen in den Trümmern eines abgebrochenen Hauses (S. 37) entdeckt worden sein.
  2. So Schlad.
  3. Vgl. zu den von der klassisch-römischen Monumentalschrift abweichenden Elementen dieser Schriftart Einleitung Kap. 5.1.
  4. Vgl. dazu und zum Folgenden die Nachweise bei Boppert 126f.
  5. Vgl. dazu Einleitung Kap. 4.1.1.
  6. Wie die lateinische Bedeutung des Namens Armentarius als "zum Großvieh gehörig", bzw. als "Großviehhirt, Rinderhirt" zu werten ist, bleibt offen.
  7. Vgl. dazu Reichert, Lexikon 72 und vor allem Heinzelmann, Bischofsherrschaft 270 bzw. Prosopographie 560.
  8. Vgl. dazu Bendermacher 96, Diehl III 15 und 54 sowie Boppert 127 - Wohl nicht mehr zu klären ist, ob die hier vorliegende weibliche Namensform bereits als Reflex auf das Wirken des Mitte des 3. Jh. in Trier amtierenden und früh als Kirchenpatron im Trierer Bistum verehrten Bischofs Eucharius anzusehen ist; vgl. dazu Bendermacher 96f. - Nach Ewig, Merowingerreich 29, Anm. 89 und 70 Anm. 42 ist dieser Name nicht vor dem 5. Jahrhundert zu belegen und außer in Boppard sicher nur noch in Trier und Lyon; vgl. dazu die Nachweise bei Heinzelmann, Prosopographie 597ff. zu Eucheria/Eucherius.
  9. So Halfer, Flurnamen 379 und Pauly, Stifte 9. - Ob damit der Armentarius-Stein allerdings gleich als "das wichtigste inschriftliche Dokument für den Integrationsprozeß zwischen germanischen und romanischen Bevölkerungsgruppen" (so Neumayer, Grabfunde 109) zu gelten hat, bleibt dahingestellt.
  10. Während Boppert 127 den Namen als "sicher germanisch", ihn dagegen Reichert, Lexikon 134 ausdrücklich als "nicht germanisch" bezeichnet, äußert Haubrichs zumindest Zweifel an der germanischen oder auch romanischen Zugehörigkeit des Suffixes -antia (freundlicher Hinweis von Herrn Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken, vom 11. Juli 2001).
  11. Boppert 128 weist allerdings nachdrücklich auf die "Zwischenstellung" des Armentarius-Steins hin, da er ihrer Ansicht nach paläographisch und der äußeren Gestaltung nach zwar ins 5. Jh. weise, andererseits aber aufgrund der Nennung des Todestages nach 550 anzusetzen sei.
  12. Vgl. dazu ausführlich Einleitung Kap. 4.1.1.

Nachweise

  1. v. Cohausen, Notiz 140.
  2. Rossel, in: Blätter 453.
  3. NN., Aus Zeitschriften 260.
  4. Schlad, Mauerwerk 12.
  5. Becker, Spuren 36f.
  6. Bendermacher, Grabstätten 96 mit Nachzeichnung.
  7. Kraus, Inschriften I 267 mit Nachzeichnung.
  8. Le Blant, Recueil Nr. 67 mit Nachzeichnung.
  9. CIL XIII 2.1, 7558.
  10. Klein, Geschichte 17.
  11. Riese, Inschriften Nr. 4274.
  12. Diehl, Inscriptiones I 1423.
  13. Kubach/Verbeek, Denkmälerinventar I 125.
  14. Becker, Boppard, Nachzeichnung S. 24.
  15. Kreuzberg, Grabmale 53.
  16. Pauly, Pfarrorganisation 130.
  17. Eiden, Frühzeit, Abb. S. 26.
  18. Pauly, Geschichte 1, Abb. 2.
  19. Boppert, Inschriften 125 mit Nachzeichnung.
  20. Benner, Grabmäler 13 mit Abb.
  21. Pauly, St. Severus 9 mit Abb.
  22. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.1, 372.
  23. Neumayer, Grabfunde 174.
  24. Volk, Boppard 90 Anm. 44 mit Abb. S. 70.
  25. Wegner, Denkmäler 759.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 1 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0000105.